Die Serengeti des Nordens

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von Bernd Römmelt

Zwischen mir und dem riesigen Bullen liegen nur knapp 20 Meter. Es bläst ein eisiger Wind aus Osten. Die Temperatur dürfte bei minus 40 Grad liegen. Ich bin viel zu nahe. Der Bulle wird unruhig. Er stapft in meine Richtung und senkt den Kopf, dabei schwingt er seinen massigen Schädel von links nach rechts. Eine Warnung: Ziehe dich zurück, oder ich greife an. Langsam bewege ich mich weg von dem Tier, immer in Blickkontakt. Ich bin ein Idiot, schießt es mir durch den Kopf, ich fotografiere seit 20 Jahren wilde Tiere und mache immer noch denselben Fehler. Michio Hoshino, der berühmte japanische Fotograf, der sich auf die Tierwelt Alaskas spezialisiert hat und auf so tragische Weise 1996 in Kamtschatka ums Leben kam, gab eine ganz eigene Empfehlung für gelungene Aufnahmen wilder Tiere: Man solle ihnen Freiraum geben und sie auf sich zukommen lassen, denn nur dann könne man wirklich gute Bilder schießen und »die Seele der Tiere einfangen«. Wie Recht er doch hat. Also Rückzug.
In knapp 50 Metern Entfernung bleibe ich stehen, setze mich auf meinen Fotorucksack und beobachte das Tier. Was für ein kolossaler Bulle. Ich friere in meiner teuren Outdoorausrüstung bereits nach zehn Minuten, er aber verbringt das ganze Jahr hier oben in der arktischen Tundra, perfekt angepasst an die harschen Bedingungen der Hocharktis. Ich begleite den Bullen in sicherer Entfernung. Noch 15 Minuten, dann muss ich zurück ins Auto, um mich und meine Ausrüstung ein wenig aufzuwärmen.
Plötzlich taucht wie aus dem Nichts eine ganze Herde von Moschusochsen auf. Es dürften um die 20 Tiere sein. Unglaublich. Sofort vergesse ich die Kälte, die schmerzenden Finger. Die Herde entdeckt mich und bildet direkt einen Abwehrwall.

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Die stärksten Tiere drängen nach vorne, stehen dicht an dicht nebeneinander und nehmen die alten und ganz jungen in ihre Mitte. Alle starren wie gebannt in meine Richtung. Es ist einer dieser Momente, die ich niemals vergessen werde. Sie schauen mir direkt in die Augen. Ich bleibe fünf Minuten, dann ziehe ich mich zurück, will die Tiere nicht weiter stören. Dieses Gebiet ist ein Garten Eden, eines der letzten Wildnisparadiese unserer Erde.

DIE SERENGETI DES NORDENS

Leider sehen das nicht alle so. US-Politiker und die großen Ölkonzerne bezeichnen die North Slope, die arktische Tundra Alaskas jenseits der Baumgrenze, gerne als »frozen wasteland« oder »white nothingness« – ein Land, das nichts wert ist, ein Ödland, dessen Bodenschätze, in erster Linie Öl, ohne Rücksicht auf die Natur ausgebeutet werden können. Am Arktischen Ozean rund um Prudhoe Bay wird dies schon seit Jahrzehnten getan.

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Natürlich ist der Norden Alaskas kein weißes Nichts. Im Gegenteil: Er ist die Serengeti des Nordens. Hier ziehen Hunderttausende Karibus, die Rentiere Alaskas, durch die Tundra, hier leben Moschusochsenherden, aber auch Wölfe, Braunbären, Polarfüchse, Rotfüchse, arktische Erdhörnchen, Vielfraße usw. Im Sommer brüten am Arktischen Ozean Millionen von Zugvögeln. Und nicht zu vergessen: Die arktische Küste Alaskas ist die Heimat des größten Landraubtieres der Erde, des Eisbären…

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KRAUTJUNKER-Kommentar: Text und Bilder sind eine kleine Lese- und Bilderprobe aus dem neu erschienenen Bildband Im Bann des Nordens – Abenteuer am Polarkreis. 
Auf die Chance hin, dass es noch nicht jeder weiß,  kann mir den Klugscheißer-Hinweis nicht verkneifen, das Moschusochsen keine Rinder sind, sondern wie Schafe, Ziegen und Steinböcke zu der Paarhufer-Unterfamlie der Antiloppinae gehören.

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KRAUTJUNKERAnmerkungen

Von KRAUTJUNKER existiert eine Facebook-Gruppe.

Im Bann des Nordens

Titel: Im Bann des Nordens – Abenteuer am Polarkreis

Fotograf und Autor: Bernd Römmelt

Verlag: Knesebeck Verlag

ISBN: 978-3-86873-988-6

Verlagslink: http://www.knesebeck-verlag.de/im_bann_des_nordens/t-1/581

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Website des Fotografen und Autors Bernd Römmelt: http://www.berndroemmelt.de/

 

5 Kommentare Gib deinen ab

  1. Hallo, ich habe dich für die Teilnahme am Liebster Award nominiert, wenn du mitmachen möchtest: Liebster Award Nominierung

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    1. KRAUTJUNKER sagt:

      Liebe Fabiane, herzlichen Dank. Das freut und ehrt mich sehr. Mein Kompliment auch für Deinen sehr lesenswerten Blog. Ich sehe gerade, dass ich nicht nur diese Fackel weitertragen muss, sondern auch ein Beitrag über das Kanufahren fällig ist. „I will do my very best.“

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