Wovon man nicht schweigen kann, darüber muss man reden!

Mehr oder weniger erschöpfende Überlegungen in 20 mäandernden Abteilungen hinsichtlich Udo Jürgens, Geschmacks, Wahrnehmungen und Realitäten, sowie über die unausweichlich fortschreitende Erblindung im Engen Kreis und ihre Verbindung zum Eskapismus im Besonderen.

Dem KRAUTJUNKER zugeeignet von Thomas E. Emmert

PROLOG

Sie müssen jetzt stark sein. Öffnen Sie sich ruhig eine Flasche.

EINS

Kurz vor Weihnachten hat es dann auch uns erwischt. Ich lag drei Tage unter vier Decken und fror dennoch wie ein Schneider. Die Frau hatte es glücklicherweise schon durchgestanden und versorgte mich mit dem Nötigsten und Besten. Aufgrund dieser Covid-Infektion war Weihnachten 2022 denkwürdig ruhig und irgendwie angenehm. Keine Reisen. Keine großen Essen. Sandalenfilme in voller Länge. Alle! Und irgendwann am Vierundzwanzigsten dachte ich so bei mir: Sekt geht immer.

ZWEI

„Das Leben ist zu kurz, um seine Komfortzone zu verlassen“, sagt Puneh Ansari. „Wer ist Puneh Ansari?“, frage ich laut, nur um im nächsten Moment in einem Sekundenstrudel von Gedankenverwirbelungen zu versinken, aus dem mich das freundliche Hupen der hinter mir Wartenden rettet. Ich schalte von P auf D, hebe schuldbewusst die Hand, eine Geste, die die Freundlichkeit erwidern soll. Dabei weiß ich wohl, dass diese überkommene Form der Kommunikation unter Motoristen durch die getönte Heckscheibe gnadenlos ins Nichts gefiltert wird. Während ich den Bahnübergang passiere, legt mir die Stimme im Deutschlandradio noch nahe, Puneh Ansaris neuestes Werk sei ein lesenswertes. Für andere vielleicht. “Das Leben ist zu kurz, um seine Komfortzone nicht zu verlassen“, schreie ich an die Windschutzscheibe und lasse per Daumendruck auf den Wippschalter am Lenkrad einen anderen Sender suchen, schalte das Radio schließlich aus.

DREI

Narrative sind Erzählungen, die unabhängig vom Wahrheitsgehalt des Vermittelten die Welt erklären. Sie werden aus Einzelereignissen, kleinen Geschichten, Narremen, zusammengesetzt und verschlagwortet: „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ ist die Verschlagwortung zum Narrativ des Landes der unbegrenzten Möglichkeiten. „Made in Germany“ stand lange als Schlagwort für das Narrativ vom fleißigen, effizienten, genialen, pünktlichen und auf den Punkt arbeitenden Deutschen, in all seinen Ausprägungen. Ich bin nichts von alledem und werde im Ausland dennoch gerne damit konfrontiert. So wirken Narrative.

Entstanden „natürliche Narrative“ quasi aus der Beobachtung heraus, ist mit dem Bewusstsein um die nachhaltige Wirkung von Narrativen der Schritt zur gezielten Erschaffung von Narrativen vordergründig ein konsequenter. Dabei wird gerne übersehen, wie sich beispielsweise das Narrativ, das sich um „Made in Germany“ herum aufbaute, vom eigentlichen Sinn der Phrase semantisch distanzierte. Von den Briten 1887 ursprünglich eingeführt, um die heimische Wirtschaft zu schützen und deutsche Waren als minderwertig zu kennzeichnen, vollzog „Made in Germany“ eine Wandlung, die sicher nicht im Sinne des Erfinders war. „Made in China“ sollte vermutlich in Anlehnung daran auch etwas anderes vermitteln, als das sich daran anschließende Narrativ heute erzählt. „Wir schaffen das“ ist als Schlagwort ebenfalls nicht mehr mit dem eigentlich beabsichtigten, daran geknüpften Narrativ einer starken Nation verbunden. Narrative sind kleine Zauberlehrlinge, möchte man meinen.

Narrative zu erschaffen ist also eine heikle Sache. Die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten des Narrativs, die Narreme, unterliegen zusätzlich der Magie des Wordings, der Wahl der Worte. „Made in Germany“ hätte sicher einen anderen zeitlich-semantischen Verlauf genommen, hätten sich die Briten getraut „Botched in Germany“ als Einfuhrbedingung zu diktieren. Im Zeitalter der durchschaubaren konstruierten Narrative hat auch ein an sich harmloser Vorgang ein „Gschmäckle“ angenommen. Sich treffend auszudrücken und seine Worte wohlüberlegt zu wählen, war vor der Institutionalisierung dieses Vorgangs, der mit der englischen Vokabel „Wording“ umschrieben wird, kein bisschen anrüchig. Im Sinne einer offiziellen Sprachregelung zur Außenkommunikation von Unternehmen und Behörden jedoch wittert auch der ansonsten eher unaufmerksam Dahingleitende jäh erwachend plötzlich Denk -und Wahrnehmungsmanipulationsversuche. Nicht zu Unrecht, doch zur Unzeit. Worte sind immer manipulativ, da Sender und Empfänger sich nicht von sich und ihrer Umgebung lösen können. Daher haben selbst organische Narrative in der Nabelschau über Raum und Zeit keinen Bestand.

In der Literatur ist Eskapismus überwiegend negativ aufgeladen und damit weit entfernt vom Krautjunker‘schen Es(s)kapismus, den es, zu Recht, zu zelebrieren gilt und der ob der immer weiter um sich greifenden Bräsigkeit der Gesellschaft nottut. Offeriert er doch wahrhaftig ein Stück individuelle Freiheit. Wo dort ein Fliehen vor der Realität aus niederen Beweggründen und charakterlichen Defiziten oder aber auch pathogener Realitätsverzweiflung beschrieben wird, will mir hier die aktive Hinwendung zum Schönen und Guten als zentrale Motivation ursächlich zugrunde liegen. Ein schönes Narrativ.

VIER

„Indien. Schließ die Augen und sag einmal Indien. Dieses Wort birgt schon so viel Geheimnisse so viel Traum so viel Dschungel“. Das ist der Anfang. Die ersten Worte der deutschen Hörspielfassung von Disneys Adaption von Kiplings Dschungelbuch, gesprochen vom unsterblichen Walter Giller als Baghira.

Bildquelle: Wikipedia

Und diesem Anfang wohnt tatsächlich ein Zauber inne. Er nimmt vorweg, bereitet den Grund und sät den Samen, exkulpiert die unglaublich scheinende Geschichte die folgt, eröffnet das Spiel mit den Worten. Von da aus kann der Hörer weiterspinnen, unwillkürlich entstehen im Rahmen der Erzählung die passenden Bilder.

FÜNF

Als – ex post: vorrübergehend – anhaltender Schaden meiner Covid-Erkrankung blieb mir eine vorher bereits bekannte, doch in dieser Ausprägung durchaus als pathologisch zu bezeichnende Sehnsucht nach der Horizontalen. Corona ließ mich erschöpft durch die der eigentlichen Fulminanz der Erkrankung folgenden Tage und von Sofa zu Sofa gehen. Meine Frau hatte es – glücklicherweise ebenfalls vorübergehend – schlimmer getroffen. Wo sonst eine sehr scharfsinnige Zunge im Bruchteil von Sekunden stundenlange Bemühungen am Herd zunichtemachen oder wohlwollend und aufs Neue frisch verliebt absegnen konnte, blieb blandes Süßsauerempfinden: Meine Freude über ein wirklich ganz erstaunliches Sektexperiment am Heiligabendnachmittag konnte ich nicht teilen.

SECHS

Es ist schon putzig, wie Worte immer wieder entlang von assoziativen Verkettungen das Bewusstsein zu bestimmten Vorstellungen und also Weltsichten leiten. Schließ die Augen und sag einmal Cidre. Ich sehe Apfelbäume in der Normandie, der Bretagne. Ein Glas mit goldsprudelndem Inhalt. Mein Hirn entwirft in der weiteren Ausarbeitung klischeehaft romantisierte Bilder zufriedener Menschen, die von ihrer rauen Hände Arbeit leben und ein gutes Tröpfchen zu schätzen wissen.

Von rundlichen Frauen die in altmodischen Schürzen Apfelkuchen backen. Von rotbackigen Wänstern, die ihren ersten Calvados lange vor Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze verkostet haben. Irgendwo spielt jemand La Mer auf seinem Akkordeon.

Eine Szenerie, die in ihren Grundzügen vermutlich absolut konsensfähig ist. Können Sie mir folgen? Schließ die Augen und sag einmal Cider. Kommt das Wörtchen aber nun in seinem angelsächsischen Gewand als „Cider“ daher, entsteht bei mir ein ganz anderes Bild. Ich denke dabei an Pubs der ungemütlichen Art, in denen stumm auf großen Bildschirmen Fußballereignisse vorüberflimmern und rotgesichtige Männer mit mächtigem, trikotfarbenbedecktem Bauch, die sich mit Salz und Essig aromatisierte geröstete Kartoffelscheiben zwischen die schlechten Zähne schieben und dabei einen –den! –Hit der White Stripes einsilbig intonieren. Wollen Sie mir folgen? Der an sich eher unangenehme Grundton dieses zweiten Szenarios ist Nährboden für oberflächlichen Widerspruch: „Aber nein, solche Leute trinken Lager, ich habe schon in sehr gemütlichen Pubs mit sehr netten Leuten sehr leckeren Cider getrunken. Und Menschen, die Bruckners Fünfte summen, muss man doch mögen…“

Das liegt in der Natur der Sache. Es sei denn natürlich, man hat eine innige Verbindung zum Hooliganismus. Das will man nicht haben. Ein positiv aufgeladenes Bild ist dem gemeinen Unterbewusstsein willkommener. Widerspruch aber regt sich vielleicht auch, gerade weil das gezeichnete Bild der optimi homines Portus Dubris realistisch und jedenfalls so oder so ähnlich und mit Lager vorstellbar ist. Der aus vergorenem Apfelsaft hergestellte Schaumwein, der in beiden Szenarien eigentlich die Hauptrolle spielt, ist nur noch Auslöser und an der Ausarbeitung völlig unschuldig. Cidre und Cider sind beide nur Eintrittskarten für das Kopfkino, das ungefragt das zumindest individuell bzw. kulturell am wahrscheinlichsten scheinende Drehbuch – die in Bildern gestaltete Erzählung, die Narration am jeweiligen Ort zur jeweiligen Zeit umsetzt. Der Bauplan für solche mehrdimensionale Kopfkino-Szenarien ist alt. Er bedient sich nicht in erster Linie der Worte, deren es gleichwohl zunächst als Auslöser und dann auf der Metaebene bedarf, um die entstehenden Bilder zu kommunizieren, sondern eben Vorstellungen, Aneinanderreihungen von Bildern, oft nur Ahnungen von Szenen, initial unscharf, die im Verlauf des Prozesses in Abhängigkeit voneinander fokussiert und fixiert werden. Man könnte in Anlehnung an die Begrifflichkeit des Narrativs, das eine Kommunikation nach außen erfordert, vielleicht von individuellen „Plakativen“ sprechen: Dioramen, erstellt aus als – ad rem: subjektiv – zusammengehörig empfundenen Bildern, die sich übereinanderlegend in der Tiefe des Unterbewusstseins synchronisieren und zur Weiterverarbeitung bereit gehalten werden, setzen sich zu konkreten, wortlosen Plakativen zusammen, die scheinbar individuelle Welten abbilden. Es muss irgendein Atavismus, ein evolutionärer Kniff sein, der uns passende Vorstellungen sequenziell-kausal und konsekutiv als Dioramen zusammensetzen und als kategorisch-paradigmatisch an- und abgelegte Plakative in Schubladen speichern lässt, bei deren Arrangement unsere Vorfahren zu ihren Gunsten das Überleben vor das Überlegen setzten.

Selbst auf rein physiologischer Ebene arbeitet in uns, gleichsam genetisch petrifiziert, dieses Urteil-Vorurteil-Vorteil-Schema: Als Teil des nicht dem freien Willen unterliegenden vegetativen Nervensystems regulieren die Antagonisten Parasympathikus und Sympathikus über die „Rest and Digest“ bzw. die „Fight or Flight“ Funktionen unser Leben, ohne dass wir darauf einen Einfluss hätten. In einer Schublade mit der Beschriftung „Smilodon“ findet sich das versteinerte Diorama zum „Jagd- und Lampenfieber“, in einer anderen mit der Beschriftung „Prometheus‘ Gabe“ das zum Schnitzelkoma und dem Asterix-Band, der neben der Toilette liegt.

Auch psychologisch gesehen ist der Kopf bisweilen schneller als der Verstand es zulässt: Der Mann im Mond ist ebenso real, wie der – wahrscheinlich von Cider – berauschte, angriffslustige Oktopusaufhänger. Unser Bedürfnis Pyramiden auf dem Mars und figurale Sternbilder zu erkennen, wird vermutlich irgendwo zwischen Amygdala und Hippocampus verhandelt, wie auch die fließedne Konjektur verstümmeltre Txte. Horror Vacui, I want to believe. Unsere Urteilsheuristik wird getrübt oder verklärt: Pareidolie lässt uns Gesichter in Kleiderhaken sehen, Clustering Illusionen machen nummernloses Malen-Nach-Zahlen aus den Punkten am Firmament: Der große Wagen ist auch nur der Arsch der Bärin, weil der AT-AT Walker noch nicht erfunden war. Doch im Zeitalter  smartphonebasierter Textnachrichten und dicker Finger hat Konjektur Konjunktur.

Abb.: Aufhänger für das Auge
Abb.: Hinten im Bär der Große Wagen. Kann man so sehen.
Abb.: AT-AT Walker: Kann man auch so sehen.

Doch wenngleich der Bauplan für solche Schubladenarrangements alt sein mag, so ist er dennoch produktiv und glücklicherweise in mehrerlei Hinsicht adaptiv: Neues lässt sich eben so, schnell erfasst, einfach kategorisieren, Altbekanntes mit der Zeit und in Ruhe neu bewerten. Dabei geschieht jenes weiterhin größtenteils unbewusst, dieses jedoch ist eine reflektierende intellektuelle Leistung, wo das wache Auge des Verstandes die Komfortzone gleichermaßen sichert und erweitert. Weniger trivial und in spezifischeren Zusammenhängen spricht die soziale Kognitionsforschung von impliziten bzw. expliziten Bias. Kognitive Verzerrungen aller Art bestimmen unser Dasein viel mehr, als man sich das eingestehen möchte. „We don`t see things as they are, we see things as we are.” Und von hier ist es nur ein kleiner Schritt zum Abgrund des radikalen Konstruktivismus, in den weich zu fallen man sich stürzen möchte.

Wie die ersten Buchstaben eigentlich Bilder waren, das Stierhaupt den Laut A(leph) repräsentierte, die dann zu abstrakten Wörtern und Texten und schließlich überlieferbaren Inhalten wurden, so sind auch Plakative Repräsentanten von Bildern, die Szenen – Dioramen – wurden und schließlich komplexe fixierte Bilderzählungen darstellen, Geschichten also im Kern, aus denen Narrative gestrickt werden können. Plakative sind die schweigsame evolutionäre Vorstufe des Narrativs.

SIEBEN

Wo kommen wir denn hin, wenn man sich in seiner Komfortzone verbarrikadiert. Wer hier den Euphemismus „einrichtet“ im Munde führt, macht sich schon verdächtig. Ein Freund hat seine Dissertation über Sedimenttransportprozesse im Himalaya-Karakorum geschrieben. Im Vorwort zitiert er die Fantastischen Vier: „In der Bewegung liegt die Kraft“.

ACHT

Die eingangs skizzierten, anhand von Cidre und Cider arrangierten Plakative können natürlich entlang der in ihnen zur Anwendung gekommenen Bild- und Dioramendetails aufgeschlüsselt und neu arrangiert werden. Aufgrund der assoziativen Konnektivität dieser Details, die die Dioramen und somit das Plakativ authentisch und stringent macht, steht zu erwarten, dass dann ganz ähnliche Arrangements entstehen, die im großen Schubladenschrank nur unwesentlich entfernt gelagert werden müssten, oder gar in derselben Schublade abgelegt würden. So ist Seven Nation Army, der einsilbig intonierte White Stripes Hit, eine starke Hinleitung zu jenen rotgesichtigen Männern mit mächtigem, trikotfarbenbedecktem Bauch, von wo aus es wenig bedarf, um zu Salt & Vinegar und schlechten Zähnen zu kommen. Zur Auswahl stehen dann gleichwohl Cider und Lager, aber immerhin: Nämliche Schublade. La Mer, auf dem Akkordeon gespielt, führt unweigerlich nach Frankreich, an die Küste und es bleiben Wein, Ricard oder eben Cidre, jedenfalls nicht Lager. Und Wänster und Tarte Tatin. Dabei ist La Mer weniger spezifisch aufgeladen als Seven Nation Army. Es lässt einen größeren Gestaltungsspielraum. Paris, Café au lait, Boule. Und die Worte „Traum“ und „Dschungel“ verorten die folgende phantastische Handlung vielleicht nicht direkt in Indien. Aber gleich in der Schublade nebenan liegt Burroughs‘ Erzählung von Tarzan.

Wie bedeutend scheinbar unwichtige Details dabei sein können, zeigt die winzige rhythmische Verschiebung derer es bedarf, um den Gitarrenriff der Familie White von den Fußballstadien dieser Welt als Hauptmotiv von Bruckners Fünfter Symphonie, erster Satz, zurück in die Konzerthallen zu schleudern. Honi soit.

Ganz unwillkürlich ist unser Leben gar nicht so frei und gut, wie wir das gerne glauben, während wir genüsslich an einer Marlboro ziehen, bei Manufactum shoppen oder mit dem Cabrio über die Landstraßen rauschen. Ein ganzer Tross von assoziativen Anschlüssen, organischen und konstruierten Plakativen und Narrativen steht uns zur Verfügung bzw. wird uns zur Seite gestellt. Und wir bedienen uns: Ad libitum, ad nauseam. Das weite Land, die guten Dinge, der Wind in unseren Haaren bleiben meist doch nur verknüpfte Fiktionen, die ganz andere Sehnsüchte bedienen. Qui mal y pense.

Und umgekehrt sind wir unwillkürlich bemüht, Bilder entlang der uns kulturell und individuell assoziativ vorgegebenen Pfade stimmig auszuschmücken, greifen auf stringent erscheinende Plakative zurück und kreieren so Vorlagen für neue Narrative: Vor dem prasselnden Kamin gönnt man sich keinen Campari auf Eis. Und der 16-Jahre gereifte Single Malt passt – unreflektiert – besser zum Pfeifchen als zur Poolnudel.

Gewisse assoziative Kausalitäten sind gar im kulturellen Schubladendenken verschlagwortet, von der Werbung und der Populärkultur aufgenommen und spezifisch eingeengt wieder zurückgegeben worden. Schreck, gute Nachrichten und Verdauung verlangen versöhnenden Alkohol: Darauf erst mal einen Schnaps. Positiv aufgeladen, den Schreck beiseitelassend und sich auf das Wohlfühlmoment konzentrierend, spezifisch auf eine Marke eingeengt und auf den Punkt gebracht: Wenn einem also Gutes widerfährt … darauf einen Dujardin. Benagt vom Zahn der Zeit haben beide Slogans in einem unberechenbaren Akt der Verselbständigung das Potenzial entwickelt, sich von der Marke zu lösen und stehen heute unabhängig davon als geflügelte Worte im Raum, um wieder einen ganz beliebigen Schluck starken Alkohols zur rechten Zeit bzw. den Moment selbst zu legitimieren.[1] „Nicht immer, aber immer öfter“ zeigt diesen Abnabelungsprozess zur phrasalen Eigenständigkeit noch deutlicher: Kaum jemand, der dabei noch an Reklame für alkoholfreies Bier denkt.[2]

Wo die Werbung ganz offensichtlich und eo ipso berechtigt Lebensgefühlsentwürfe bedient, kreiert und manifestiert, greift der Populismus verhohlen unverhohlen in dieselbe Kiste. Und auch die Populärkultur spielt auf der Klaviatur unserer Kategorisierungsbemühungen und führt uns, wo das wache Auge des Intellekts kurz zwinkert oder gar müde wird, in assoziativen Ketten an der Nase durch die Arena des Lebens. Augenfällig auch hier der Einfluss der Zeitläufte. Mit einer Art musikalischem Nachklapp zur im Jahr 1976 bereits im Stadium der Sentimentalisierung begriffenen Hippiebewegung landete Jürgen Drews mit Ein Bett im Kornfeld einen Volltreffer: Das deutsche Cover von Let your love flow der Bellamy Brothers ist seitdem in der deutschen Volks-Musikseele präsent.

Folgte man Walter Gillers Zauberworten und schlösse zu Ein Bett im Kornfeld die Augen, würden frei assoziierend heute allerdings eher ballermanneske Bilder entstehen: Der im Liedtext unschuldig daherkommende spontane Plausch bei Gitarrenklang unter freiem Himmel mit einer völlig Fremden, der seinerzeit Freiheit, Frieden und Philanthropie in die Hitparade einer von der Einführung der Gurtpflicht, dem Freitod Ulrike Meinhofs und der Reformation des Abtreibungsparagrafen erschütterten bundesdeutschen Gesellschaft beförderte, verströmt kaum ein halbes Jahrhundert später, dank des im Megapark Hof haltenden Königs von Mallorca und seinen Gefolgsleuten den Ruch von Billigflieger und Massentourismus, Bier im Übermaß und kontrollverlustigem Spaß, letztlich den unvermeidlichen Odor der Nemesis der Emesis. Wer träumt da unbeschwert vom Land und hat den Duft von Heu in der Nase, wer wollte da die einfache Bettstatt im Acker statt der genormten in der Bettenstadt. Früher war mehr Weniger.

Eine immer häufiger zu beobachtende Perversion der Vergangenheitsverklärung deutet alte Dioramen um und lädt sie positiv auf. Ein Beispiel? Mittlerweile lebe ich als Wessi in einem Teil der Republik, wo gerne geografische Angaben historisierend als „zu Ostzeiten“ oder kurz „im Osten“ als zeitliche Zuordnung genutzt werden. Im Osten musste man zur Armee. Auch die Bundesrepublik kannte zu meiner Zeit die Dienstverpflichtung, Grundwehr- oder Zivildienst. Ich kenne jedoch keine Assoziationskette, die entlang der Verpflegung der Dienstverpflichteten ein Diorama entwerfen könnte, das die erfolgreiche Vermarktung einer Bundeswehr-Feldsuppe zur Folge hätte. Dennoch führte der Vertrieb einer NVA-Feldsuppe in der Dose durch eine große Supermarktkette nicht nur zu Lieferengpässen beim Hersteller, sondern auch bundesweit zu heftigen Diskussionen, nicht zuletzt wegen der Verwendung des DDR-Staatswappens auf dem Etikett der Dosen. War früher mehr besser?

NEUN

Dieser erste Schluck Weihnachtsekt löste einen epiphanischen Moment der anderen Art aus. Bestellt hatte ich, was ich für einen Exoten hielt. Nun, wenn man immer nur Urlaub an der Ostsee macht, ist auch der Strand von Dünkirchen exotisch. Exotisch war das Gesöff nur unter diesem Aspekt. Schlank kommt er mir vor, im ersten Augenblick, nur um mich sofort vom Gegenteil zu überzeugen. Ein Hinterhalt, denn jetzt legt er sich schmeichelnd um alles, was gustatorisch empfänglich ist und flüstert zärtlich: „Ich bin gekommen, um zu bleiben.“

Abb.: Zwischen Frühstück und Gänsebraten: Besser, als hektisch noch Parfüm kaufen. Hier noch im alten Kleid: Der initiale Karanika.

ZEHN

Wer bis hierher gefolgt ist, kann nicht umhin zuzugeben, dass ein Bauplan zur Kategorisierung der Welt latent existiert, dass er produktiv und, wie oben behauptet, in mehrerlei Hinsicht adaptiv ist, komplex und interdependent zumindest was Raum, Zeit und Kontext angeht. Cider und Cidre, getrennt nur durch etwa 27 Meilen Meer und Gärzeiten, implizieren unterschiedliche Bilder und Kontexte. Stand ein Bett im Kornfeld Mitte der Siebziger für die frugalen Freuden eines friedlich einfachen Lebens, alterte das im Getreideschlag angelegte Diorama schnell und schäbig, im Vergleich zur ursprünglichen Disposition. Vor die Wahl gestellt, hätten neun von zehn Volksarmisten vermutlich lieber in Butter gebratenes Wiener Schnitzel mit Pommes genommen, doch das bleibt spekulativ. Die plakativen Archive des vermeintlichen Wissens durch schnelles Erahnen sind ephemer. Die Erstellung von Dioramen gleicht dem Versuch, einen liminalen Raum durch Möblieren erfassbar zu machen.

Hier offenbart und erklärt sich das Dilemma beziehungsweise die Misere der modernen Gesellschaft: Der evolutionäre Zugewinn einer schnellen und unreflektierten Kategorisierung der Welt und der Rückgriff in die Archive relativiert sich gnadenlos, bleibt er unflankiert vom steten und berechtigten Zweifel, der wiederum die ursprüngliche Intention – schnell – konterkariert. Die Welt wird durch präskriptive Prozessabläufe gezeichnet, nicht abgebildet. „Standing Orders“ werden nur Standardanordnungen gerecht. Doch nichts ist einfach einfach. Und wider besseres Wissen verharrt der Mensch gerne in einer Unmündigkeit, die er selbst verschuldet: Nicht etwa, indem er, immer noch reflexartig, aus impliziten Beurteilungen simple Dioramen und daraus Plakative konstruiert, sondern weil er diesen bildlich fixierten Scheinerkenntnissen in einer schneller werdenden Umgebung allzu oft unreflektiert operativen Bestand einräumt. Mit dieser Bestandssicherung geht die einlullende Einengung der Komfortzone einher, in der das wache Auge des Intellekts zwangsläufig kurzsichtig bleibt und schließlich gelangweilt wegdöst. Die daraus abzuleitende Handlungsmaxime ist offensichtlich. Die Kräfte der Gegenspieler Kopf und Bauch sind ungleich verteilt. Hinnehmen ist dem Sichhinbegeben überlegen, weil es keinen Aufwand bedeutet. Die Nabelschau bedarf der Lenkung des Blickes, der Blick über den Panzerfahrerhorizont der Erhebung des Geistes.

ELF

These: Ein gesunder Eskapismus ist endogen und wird von zwei Triebkräften befeuert. Einem Proust‘schen Ennui steht sehnig-strähnig die agile, gleichwohl nicht hyperaktive Abenteuer-Lust for Life eines Iggy Pop zur Seite. Vielleicht sind Muße und Bildung Katalysatoren für dieses Gemisch, Reflexion und Erkenntnisfähigkeit der Asphalt, der die Reise vereinfacht, Medien wie KRAUTJUNKER ein Katalog der Möglichkeiten. Sollten und müssen es sein. Geld spielt keine Rolle. Formung wohl. Es besteht eine Pflicht zum Eskapismus, die aus der Pflicht zur Reflexion des eigenen Daseins erwächst.

ZWÖLF

„Griechischer Wein“. Schließ die Augen und sag einmal „griechischer Wein“.

DREIZEHN

Meine erste Euphorie war vermutlich der Überraschung, einer enttäuschten Erwartung zuzuschreiben. Was hatte ich erwartet? Schaumwein ist immer etwas schwierig. Ich bin überwiegend Anwender. Mein Telefon, mein Laptop muss funktionieren, technische Daten sind mir egal, so lange passiert, was ich will. Wein muss schmecken. Sekt auch. Ich versuche dennoch mir meine Begeisterung durch Zahlen zu erklären, lese nach. Der Rosé von Karanika kommt mit 11,5 % Alkohol, einem Restzucker von 5 g und einer Säure 7,5 g pro Liter daher. Aha. Na dann. Ich bin Anwender. Er ist Bio-zertifiziert. Steht ja auf dem Etikett: Certified organic vineyards, gelegen auf 700 m Höhe in der kältesten Region Griechenlands. So So. Bio-Siegel ist auch da. So komme ich nicht weiter, wonach schmeckt der denn, was ist das, was mir diese Freude bereitet? Genau das: Das Unbekannte, Neue. Ein Freund hat mal zu mir gesagt: „Du kannst beim Verkosten eigentlich alle Eissorten zitieren, außer Schlumpf. Wenn du es mit gebührlichem Ernst vorträgst, werden alle nach dir es auch schmecken.“ Ich habe das ein paarmal umgeben von anderen Anwendern mit großem Spaß und bierernst ausprobiert. Maracuja kam immer gut an. Bei Profis bin ich auch schon mal mit „Noten von heißem Teer“ durchgekommen. Ist jetzt zwar keine Eissorte, doch einer der Anwesenden heuchelte immerhin zu wissen, was ich meine. Das ist eine Weile her, auch als Anwender kommt man nicht umhin, irgendwann einmal ein paar aufgeschnappte Details und Phrasen für relevant zu erachten und zu speichern oder, wie eben jetzt, wo über die Anwendung hinaus Interesse besteht, nachzuschlauen. Ich kenne und erkenne meine Rieslinge, meine ganz persönliche Ostsee. Jetzt war ich plötzlich am Strand von Dünkirchen. Ich lese auf der Internetseite des Händlers die Verkostungsnotizen zum Karanika.

„Ein rassiger Schaumwein im lachsfarbenen Gewand. Fruchtige und kräftige Nase, Aromen von Erdbeeren, wilden Rosen, Himbeeren, saftig mineralische und hefige Noten. Er ist cremig am Gaumen und moussierend – lange fortwährende, kleine Bläschen im perfekten Kontrast zu ihrer dominanten und erfrischenden Säure. Sehr gute Länge.“  Saftig mineralisch also. Mit gebührlichem Ernst vorgetragen. Ich beschloss, zumindest meine Freude über diesen Sekt in die Welt hinauszuschreien, geteilte Freude ist doppelte Freude. Schade, dass der Gemahlin diesbezüglich jeglicher Genuss verwehrt blieb. Ich rief meinen Rieslinghändler an. Wir trinken gerne auch privat miteinander, Gunst und Kommerz verschwimmen. Ganz diplomatisch trug er vor, griechische Weine wären nicht so seine Domäne, aber wir sollten doch mal verkosten. „Ich weiß, was du meinst“, folgte er mir wohlwollend nach dem ersten Schluck. „Griechischer Wein. Hat’s halt auch nicht leicht.“, fuhr er fort.

VIERZEHN

Griechischer Wein in Deutschland ist seit Udo Jürgens‘ Hit von 1974 in aller Munde oder zumindest: Ohr. Kaum einer, der nicht spätestens jetzt die Melodie und Textversatzstücke mehr oder weniger still durch sein Hirn schallen hört und nur wenige, die die markanten Passagen nicht schon mehr oder weniger singend laut von sich gegeben hätten. Der Schlager ist paradigmatisch: Hört man „griechischer Wein“, denkt man an Udo Jürgens. Ein herrliches Diorama, zu dem bei mir persönlich auch ein Video gehört, das meine Tochter mir aus einem Griechenlandurlaub schickte. Viel Gekicher, Vorstadtstraßen und beim Nochmaleinschenken ein großzügiges Trankopfer aufs Sofa des gemieteten Apartments, glücklicherweise nicht ganz farbecht mit Weißwein.

Doch das Schlagwort ist multivalent. „Griechischer Wein“ ist eben auch ein Bett im Kornfeld, ein Cider, ein Cidre und vermutlich auch die NVA- Erbsensuppe.

Und so könnte sich entlang von Udo Jürgens‘ liedgewordener Migrationstragödie im besten Fall zum Beispiel ein Sittenbild der griechischen Diaspora der siebziger Jahre in Deutschland entspinnen. Der Populist würde Aspekte einer frühen Form der Überfremdung und – aussichtslos ob des anheimelnden Originalszenarios – die Frage herausarbeiten wollen, ob man denn nicht gemütlich ein nach dem Deutschen Reinheitsgebot gebrautes Pilsken in der Eckkneipe hätte nehmen können, mit Korn und Kalle: Jeder hätte wohl lieber mit den Griechen getrunken. Von da aus ist es auch ein kleiner Schritt zur Erbsensuppenverklärung. Denn die über dem Original wabernde Schwermut wird heute mit Abstand – wie von meiner Tochter – auf den Aspekt des gemeinsamen Trinkens griechischen Weins und in der Folge Feierns in Griechenland und mit Griechen projiziert. Oder des Feierns ganz allgemein. Die Qualität des Weines, der Geschmack, streng genommen auch die Frage ob Rot ob Weiß… all das trat völlig in den Hintergrund. Bei Wein eigentlich kaum vorstellbar. Doch wenn einem so viel Gutes widerfährt… Beinahe eine deutsche Cognackarriere.

Tatsächlich aber manifestiert eine jenes Bildarrangement überlagernde, ihm gleichwohl innewohnende und daher vermutlich berechtigte affektartige Idee von „dem griechischen Wein“ seit Jahrzehnten die Wahrnehmung griechischer Weine an und für sich im Bewusstsein des Schoppendeutschen. Leider.

FÜNFZEHN

Der Säbelzahntiger aus der Abteilung Smilodon ist in Europa schon vor vierzigtausend Jahren ausgestorben. Und Cider ist nicht gleich Cider. Cidre nicht gleich Cidre. Auch, wenn NVA-Erbsensuppe immer noch nur NVA-Erbsensuppe bleibt: Zeit, die Schubladen auszumisten.

SECHZEHN

Zu meinem Vierunddreißigsten hatte mir ein guter Freund, Philippos, Grieche, natürlich, nur echt mit dem zweiten P, eine Flasche Skouras Labyrinth 9905 geschenkt. Angefixt hatte er mich vorher schon, recht klug mit den kleinen Weinen angefangen, meistens Roten. Den Skouras habe ich dann eine Weile liegen lassen und ihn im Jahr darauf aus Lust und Laune mit einem anderen Freund an einem zunächst beliebigen Abend geöffnet. Da war der Abend plötzlich besonders und erinnerungswürdig. Es war der 17. April 2013.

Abb.: Aromatischer Ausgleich: 17. April 2013

Sucht man im Netz nach einer Beschreibung genau dieses Weines, dann findet man den üblichen Schmu des sprachlichen Registers „Verkostungsnotizen“. Da ist von Sattelleder die Rede, von schmauchenden Zedern, von Kirsche. Mich hat er olfaktorisch sofort entführt in die Berge der Peleponnes. Das soll genügen. Wein ist auch ein individueller Sehnsuchtsort. Geschmack ein Ausgangspunkt für Dioramen. Von da an hatte ich Weine aus Griechenland auf dem Zettel, entdeckte durch Zufall noch einen wirklich witzigen Pinot Noir von Papaioannou, war aber gut grundversorgt mit Riesling und Co vom Weinhändler gegenüber, der über die Griechen immerhin milde lächelte, die Zeit war noch nicht reif, so dass „Griechische Weine erforschen“ auf meiner To-do Liste immer ein wenig hinten stand und nur virulent wurde, wenn sich die Sehnsucht nach den Bergen der Peleponnes oder einem Abend mit Philippos Bahn brach. Oder der 17. April auf dem Kalenderblatt angezeigt wurde.

SIEBZEHN

Man kann getrost davon ausgehen, dass es sich bei dem, was da 1974 in einem imaginären Wirtshaus spät nachts von Männern mit braunen Augen und schwarzen Haaren bei fremd und südlich klingender Musik aus der Jukebox noch mal eingeschenkt wurde, um einen soliden, doch rauen Roten handelte. Schließlich wird er mit dem diesem Szenario entsprechenden Pathos dem Blut der Erde gleichgesetzt. Jürgens‘ lyrisches Alter Ego trank wohl einen autochthon – authentischen, archaisch achaiischen Absacker. Vielleicht einen Demestica, vielleicht einen von Achaia Clauss. Denn das war wohl der populärste Stoff in der Generation derer, die Anfang der 60er Jahre die erste Welle griechischer Gastarbeiter in Deutschland ausmachten. Und diejenigen Griechen, die in der Folge zunächst einer sich etablierenden griechischen Diaspora in Deutschland ein Stückchen Heimat boten und ihr Geld nicht am Band sondern hinter dem Tresen verdienten, konservierten in der Fremde dieses Schlückchen Erinnerung und Sehnsucht weit bis in die Achtziger und darüber hinaus. Der raue Rote blieb vielen lange, ganz im Sinne des Gassenhauers, als romantische (und daher auch legitimiert gern schmerzhafte) Heimaterinnerung am Gaumen. Derweil wurde der Retsina in der zurückgelassenen Heimat ab Anfang der siebziger Jahre – wieder, muss man sagen – populärer. Deutlich milder geharzt als früher erlebte der meist aus weißen Trauben gewonnene Billigwein besonders bei „der Jugend“ als preiswerte Alternative und auch gerne als Mischgetränk mit Cola ein Revival, das bis heute anhält. Ihn brachten die hippiesk geprägten Gräcophilen der Generation vor mir, die sich mit Strich Acht, Hanomag-Henschel und Jürgen Drews auf das Abenteuer Autoput eingelassen hatten, um das von der Diktatur der Obristen befreite Land und Leute zu erfahren Mitte der 70er mit Anspruch auf moderne Authentizität nach Deutschland mit. Und so ist es kaum verwunderlich, dass hierzulande, fragte man nach Wein aus Griechenland, in den meisten Fällen nicht fein ausgebaute Weine aus einigen der feinsten Lagen der Welt mit für germanischen Zungen nur schwer zu artikulierenden Namen genannt wurden, sondern das, was „beim Griechen an der Ecke“ eben auf der Karte stand und oft noch steht. Denn damit hat dieser „Grieche an der Ecke“ schlicht lange die Erwartungen und also die Bedürfnisse seiner Kundschaft bedient. Udo Jürgens beschreibt das also schon ganz richtig. Nur ist das Diorama um „Griechischer Wein“ eben leider schlecht gealtert: Aus deskriptiv wurde präskriptiv: Man erwartete bei griechischen Weinen keine Raffinesse.

„Griechischer Wein“ gärt in einer kontemporär nicht mehr mit Berechtigung zu füllenden Erinnerungsblase: Alter Wein in alten Schläuchen.

Abb.: Freyburg Unstrut ist eine alte Winzerstadt. Dies die Weinkarte des ortsansässigen Griechen, abgerufen im Juli 2023.

Es ist beinahe eine Ironie des Schicksals, dass das Verlangen, die Sehnsucht nach Griechenland zu stillen – den veränderten Bedingungen in Deutschland und bald dem deutschen Publikum angepasst – bei den Zorbas-, Akropolis- und Kreta-Kleingartenvereinslokal-Aphrodite-Restaurants in den Niefern-Öschelbronns und Castrop-Rauxels dieser Republik anhaltend griechische Kulinarik auf das absurdeste reduzierte: Längs der Faser aufgespießte, handtellergroße Schweinerückenmedaillons werden da als Souflaki angeboten, gerne mit Fritten und einer Mischung aus Sahne und Metaxa. Für die Fischliebhaber gibt es die Poseidon-Platte für zwei Personen, auf der sich gelegentlich auch das edle Filet vom Pangasius, einem der populärsten Mittelmeerfische überhaupt, findet, und oder oder Lachs aus Aquakultur in Norwegen. Nicht unerwähnt bleiben darf der von den hoi polloi zum signature dish der griechischen Küche ausgerufene Gyros Teller. Auch: Gerne mit Fritten und Zaziki, aber bitte nicht so viel Knoblauch. Dazu ein Weizenbier, oder, wenn es noch authentischer sein darf, ein Roter, wie das Blut der Erde eben, oft nicht etwa halbtrocken, sondern im Gegenteil – imiglykos – halbsüß, fürs Flair in der Karaffe, vielleicht ein mild geharzter, dennoch gewöhnungsbedürftiger Retsina, meist weiß, der doch nur den hartgesottenen Griechenlandfahrern auf den blau-weiß gedeckten deutschen Tisch kommt, und ein Allerweltsweißer, am Ende obligatorisch gefolgt vom Ouzo „von zu Hause“, für meine guden Freunde. Αρχίδια. Ein guter Gastgeber weiß eben, die Wünsche seines Gastes zu befriedigen. Sind am Ende beide glücklich: Lecker Pommes. Zwei Personen, gut gegess‘ und gut getrunke, neunzehnmark achtzig, passt so undnochnouzo. Das waren auch meine Achtziger.

ACHTZEHN

Wenngleich „griechische Weine erforschen“ nicht ganz oben auf der Liste stand, so brauchte es doch nur die Gelegenheit, um Latentes prominent werden zu lassen. Gelegenheit bot sich, als in einer Weingruppe meines Lieblings-en-passent-social-Mediums Facebook ein griechischer Wein besprochen wurde. Ein Weinhändler wurde als Quelle benannt, der sich auf Weine aus Griechenland spezialisiert hat. Ich witterte meine Chance und fragte unkompliziert impulsgesteuert per Textnachricht bei Ralph Urban von Wine & Nature nach, ob er denn diesen und jenen im Programm hätte und eine Kiste liefern würde. Little did I know. Genau diesen noch jenen hatte er nicht. Aber dafür (damals) 145 andere. Heute denke ich: Gottseidank hatte er genau die nicht. Eine Melange aus Überforderung und Neugier veranlasste mich zu der Bitte, ein Limit Paket zu schnüren. Und dann noch eins, u.s.f. Und seitdem habe ich viele schöne Überraschungsgriechen getrunken. Und bin bei manchem hängen geblieben. Eine ganz neue Weinwelt eröffnete sich plötzlich. Mit ganz neuen Eindrücken. Als Gebrauchstrinker, der ich nun einmal bin, kennt man die meisten Rebsorten der gängigen europäischen Weine, und mithin auch vieler überseeischer. Man schätzt die schokoladigen Ebenen des Grenaches, die milden Spitzen eines Auxerrois und als gebürtiger (Kur-)Pfälzer bin ich auch gerne beim Riesling und mag auch den Silvaner und scheue nicht den Müller-Thurgau. Und da waren sie plötzlich, die Malagousias und Moschofileros, Thrapsathiris. Und wenn man sicher schon vom Mavrodaphne gehört hat, versprachen doch Mavrotragano und Mavrostyfo neues von der schwarzen Traube.

NEUNZEHN

Bereits kurz nach dem zweiten Weltkrieg eigneten sich viele griechische Weinbauer moderne Methoden der traditionellen Kellerwirtschaft im Ausland, oft Frankreich, an. Zwar waren hochwertige Weine im Griechenland der 50er und 60er Jahren wirtschaftlich gesehen kein Faktor, doch mit dem Ende der Militärdiktatur 1974 und der damit verbundenen Aussicht auf Zugang zum europäischen Markt und nicht zuletzt auch europäische Fördergelder wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass griechische Weine jenseits der Massenware als Aushängeschild griechischer Weinbaukunst eine Zukunft haben könnten. Diese Zukunft begann etwa Ende der achtziger, Anfang der 90er Jahre. In Deutschland schwappte die zweite, vielleicht auch dritte Phase der Nouvelle Cuisine ins gutbürgerliche Lager. Hinz und Kunz wollten leicht, bisweilen auch edel speisen und Hans und Franz bauten mustergemäß in kleinen Küchen nach, was Große voranschreitend mustergültig kreierten. Und bald nach der Wende spalteten Himbeerschäumchen und Erbsensaftkaviar die Nation auf andere Art. Soße kam als Spiegel statt im Kännchen auf die Teller und Terrassen und regionale Küchen schmückten sich international trikolor grün, weiß, rot mit Rukola, denn Rauke war ja Hasenfutter, Mozzarella und Tomaten. Dazu konnte man natürlich ein dem deutschen Reinheitsgebot unterworfenes Getränk nehmen oder man fragte nach der Weinkarte, hatte man die Traute und Hans und Franz eine solche. Und dann waren da zumindest die alten Kategorien Rot und Weiß revolutionär ergänzt oder gar ersetzt durch Winzerdomänen, Weine mit Herkunftsbezeichnungen und am Ende gar mit Rebsortenbeschreibung. In der Übergangszeit gab es immerhin noch den Nachtisch, später Dessert. Ganz ähnlich empfand ich die Entwicklung „beim Griechen“, vielleicht nicht bei dem an der Ecke, aber plötzlich konnte man sein Saganaki nicht nur mit Feta bekommen, plötzlich fanden Fusion und fine dining auch im Piräus statt. Und trieb Blüten: Mangalitza im Giouvetsi, Salzwiesenlamm im Kleftiko. Dazu hätte man einen Skouras für 250 Euro trinken können, hätte man es wagen wollen. Und man sollte wagen wollen. Ich habe munkeln hören, mancherorts wären im Nachgang griechische Käsevariationen gereicht worden, ohne dass sich Feta darunter gefunden hätte.

Griechischer Wein ist dennoch nicht angekommen, wo er hingehört. In den Weinhandlungen sucht man meist vergeblich. Man muss im Internet bestellen, wenn man die ganze Bandbreite der Möglichkeiten oder auch nur einen Bruchteil davon auskosten möchte. Diese Nische besetzt Wine & Nature auf besondere Art. Die Auswahl ist erfüllend und exklusiv zugleich. Der Service und die Beratung leisten das Übrige, auch und gerade für den Anfänger. Zu Rebsorten und den Winzern werden auf den Seiten von Wine & Nature ausreichend Informationen in den üblichen Formaten angeboten. Das ist auch schon der einzige Wermutstropfen: Die Texte sind schlecht lektoriert und die Sprache orientiert sich am Branchenüblichen. Letzteres kann man mit Blick auf die Zielgruppe und der damit einhergehenden stillen Vereinbarung des Textsortenregisters nachsehen, ersteres bleibt dem Umstand geschuldet, dass Ralph Urban eben kein Textprofi, sondern ein Weinliebhaber ist, der sich mit Innbrunst gegen das Plakativ von „Griechischer Wein“ stemmt und den großen kleinen Vertrieb mit allem was dazu gehört beinahe alleine stemmt. Der Mann kennt seine Winzer und seine Weine. Und das macht das Ganze schon wieder sympathisch.

Von den griechischen Weinen, die mittlerweile in unserem Keller und Kühlschrank einen festen Platz haben, ist der Malagousia von Geometria als ganz wunderbarer Feierabendwein zu nennen. Dieselbe Traube kommt von Erithrou Rodou wie zum späten Frühstück in Samtbrokat gewandet an den Tisch und fügt dem Abend ein wenig rot hinzu: Herrlich samtige Weißweine mit Biss.

Abb.: Griechischer Sundowner: Der Moschofilero von Geometria.

Der Vidiano (Young Vines) von Iliana Malhin, ein Vin Naturel mit esoterischem Touch, ist ein geschmacklicher Sommerregen auf nackter Haut, zu dem man unwillkürlich tanzen möchte. Ob das daher kommt, dass er während des Reifeprozesses mit kretischer Musik beschallt wird, wird sich wohl nicht erweisen lassen. Vielleicht ist es auch die Liebe zum Wein, die die junge Winzerin hier in ihre Flaschen miteinfließen lässt. Die Weine von Dalamára sind nicht nur für etikettentrinkende Waidgenossen interessant und anders, als die mit Wild bebilderten Banderolen suggerieren, auch ohne Beute aus Wald und Flur auf dem Teller einfach schön im Glas und am Gaumen. Auch in weiß!

Abb.: Dalamára: Wildbebildert!

Fragt man Ralph, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er eine besondere Vorliebe für die großen Weine aus Santorini hat, was man nachvollziehen kann, wenn man ihm folgt.

Abb.: Santorini

Ein vorläufiger Höhepunkt meiner Bildungsreise durch die Welt der griechischen Weine jedoch waren die Sekte. Wie fest verankert auch im vermeintlich weltoffenen Hirn doch alte Muster sein können, und wie schnell man seine Ansprüche adaptieren kann, hat mir – noch einmal – der Brut Cuvée Rosé von Karanika vor Augen geführt. Ich gestehe gleichwohl reumütig, dass, zwar von gesunder Neugier getrieben, das Ausmaß meiner freudigen Überraschung beim allerersten Schluck wohl nur mit dem Delta, der klaffenden Diskrepanz zwischen Erwartung und Ereignis gerechtfertigt werden kann, mithin auf ein vorgefertigtes Urteil zurückzuführen sein muss: Wo es noch leicht fällt und natürlich scheint, Wein mit Griechenland in Verbindung zu bringen und gesunder Menschenverstand schon suggeriert, dass das natürlich auch gut sein kann, zweifelte der kleingeistig konservative Champagnerfreund am Potenzial der Hellenen bei Schaumweinherstellung: völlig grundlos. Selten habe ich einen interessanteren Sekt getrunken.

Abb.: Karanika. Wahnsinn, doch mit Methode: Traditionelle.

Wie beim Wein gilt auch hier das Diktum vom individuellen Sehnsuchtsort, wenn es um Geschmack geht. Verkostungsnoten findet man auf der Seite des Händlers, in Fachprache. Ich will auch hier nur eine Allusion anbieten, und die führt mich erstaunlicherweise wieder ins kühle Frankreich, ganz unkonkret in den Garten eines Hofs an der Atlantikküste: Alte Steine, Rosen und Apfelbäume. Bei mir auch die Idee ferner Gischt. Die nachfolgenden Flaschen hielten das Niveau, doch blieb, adaptierten Anspruchs wegen, natürlich die Überraschung aus. Ganz anders der Karanika – Cuvée Prestige, extra brut. Um es kurz zu machen: Ein lauer Sommernachmittag vor einer Teestube in Kent, vielleicht in Rye. Ich meine, es hätte am Vortag geregnet…Wir sind, was wir sind.

Jedem, der sich auf neues Terrain und unbekanntes Terroir einlassen möchte, sei ein Blick, ein kurzer Schritt gar in Richtung Hellas und seiner Weine anempfohlen. Die Auswahl ist groß. Hat man einen Vergil als Führer an seiner Seite, sind die vielen Kreise, die große Zahl an Rebsorten und Anbaugebieten und die Winzer darin sicher weniger schwindelerregend. Ralph Urban ist einer der wenigen auf Weine aus Griechenland spezialisierten Händler, sicher aber der Einzige, der sich auch abseits der ausgeschilderten Wege umtreibt. Er hat mich da ein wenig an die Hand genommen, wofür ich ihm danke. Doch bleibt am Ende nur eines: Man muss sich seine eigene Reise zusammenstellen, sich selbst durchtrinken. Das gilt für das Leben ebenso wie die griechischen Weine und Sekte.

ZWANZIG

„Was“, denke ich, während ich unsere Einfahrt hochfahre, „was, wenn das Pochen auf das Verlassen der Komfortzone meine ganz eigene Komfortzone ist, mein enger Kreis, in dem ich, auf einem Auge blind, bräsig mich sicherwiegend vor der Bräsigkeit, langsam vollends erblinde?“ Ich parke ab, reibe mir die Augen, schließe die Tür auf. Unser Hund springt wie irr vor Freude auf mich zu, von mir weg und wieder auf mich zu, greift sich schließlich einen Hausschuh und wiederholt den Vorgang, schallgedämpft durch Puschenfilz. Ich verstehe nichts von Informatik, kann mir aber sehr gut vorstellen, dass diese Frage in Code umgesetzt eine ganz ansehnliche Error-Meldung generierte, was mir vorübergehend als mögliche Konsequenz genügt. Es ist kurz nach Fünf. Sekt? Geht immer.

EPILOG:

Ralph Urban und seine Weine aus Griechenland findet man hier: www.griechenlandweine.de. Durchklicken oder gleich anrufen: Ralph ist ein hervorragender Guide und ein angenehmer, verständiger Mensch.

Der Vollständigkeit halber und um der Geschichte von Weinen aus Griechenland willen sei erwähnt, dass man mittlerweile auch anderenorts im Internet Weine aus Griechenland bestellen kann, oder Griechische Weine. So oder so: It begins. Vor nunmehr fast drei Jahren haben sich Petros Velitsianos und Anastasios Liolidis aus Köln mit mygreekwine.de ebenfalls im Haifischbecken deutscher Online- Weinversender eine griechische Nische geschaffen. Wer sucht, findet sicher noch andere Quellen. Wenige. Gute.

Eine mit 424 Seiten recht umfangreiche Abhandlung zu den Weinen Griechenlands von Konstantinos Lazarakis mit dem Titel The wines of Greece (ISBN-13: ‎978-1908984722) kann man mit etwas Suchen als auf 148 Seiten eingedampfte Essenz zum Herunterladen im PDF-Format unter dem Titel A Guide to the Wines of Greece im Netz der Netze finden. Schließlich kann man beim Trinken ja auch Schmökern. Und man muss mir ja auch nicht alles glauben wollen…

Liebe Frau Ansari: ich habe Ihren Text gelesen. Größtenteils quer. Nicht böse sein: Man kann sich beim Verlassen seiner Komfortzone auch mal vertun. Sollten Sie versehentlich diesen Text hier gelesen haben, gerne auch quer, wissen Sie sicher, was ich meine: Maracuja!

Falls versehentlich noch jemand diesen Text gelesen haben sollte und sich dennoch traute: Ansari, P.: Hallo Everybody, Mikrotext 2023. In Sekt gut investierte 20 Euro!

Lieber Ralph. Man kann und muss zwingend Udo Jürgens in jeder deutschsprachigen Abhandlung über Weine aus Griechenland erwähnen. Zu sehr überstrahlt das Plakativ „Griechischer Wein“ in Deutschland schon die ersten Zeilen der noch zu schreibenden Geschichte von „Weinen aus Griechenland“. Zeit, die Schubladen auszumisten.

Abb.: Foto von Kelsey Knight auf Unsplash

[1] Dieser Loslösungsprozess manifestiert sich auch in tieferen Schichten, Asbach ist gar als synonym für uralt im deutschen Lexikon integriert <https://www.dwds.de/wb/asbach&gt;, abgerufen am 31.07.2023.

[2] https://youtu.be/HGH5Lp-yWzUf

*

Thomas E. Emmert

Thomas E. Emmert. Jahrgang 1968. In der Kurpfalz geboren. Vom Rheinland geprägt. Reifend in Salzlandkreis. Ein Leben am Fluss. Studium der Indogermanistik. Berufliches Toben auch als Dozent und Dramaturg. Heute verantwortlich für Haus, Hof, Hund und Hühner.

***

Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Porzellan und Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.


Entdecke mehr von KRAUTJUNKER

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

Ein Kommentar Gib deinen ab

Hinterlasse einen Kommentar