von Michael E.W. Neÿ
Manchmal fügen sich Geschichten, die man liest in die eigene Geschichte und werden greifbar. Manchmal als Impuls für die Zukunft, als neue Gedanken und manchmal, ganz greifbar und präsent als Kunstwerk. In meinem Fall ist es das Ölgemälde Sommerflußlandschaft von Alexander Peltzer. Ein guter Freund hatte es online ersteigert, eigentlich als Geschenk für seine Mutter, jedoch die Ausmaße des Bildes übersehen. Bei mir in Magdeburg hingegen gab es ausreichend weiße Wand, die förmlich nach einem Bild suchte. Das Bild sehen und es spontan mögen war eines. Der Grund waren die Birken. Auf einem Dorf in der Lüneburger Heide aufgewachsen, stand vor meinem Kinderzimmerfenster ein Birke, die mich durch viele Jahre begleitet hat und für mich ein Stück Heimatgefühl bedeutet.

Der Maler ist Otto Alexander (Sascha) Peltzer (1876 in Moskau – 1959 in Chieming) und entstammt einer deutschen-russischen Familie, deren Wurzeln über den Textilunternehmer Napoléon Peltzer (1802–1889) ins Rheinland reichen. Dieser brachte es in Narva (heute Estland) zum bedeutenden Tuchfabrikanten für die russische Armee, in dessen Haus u.a. Zar Alexander II. und Kaiser Wilhelm I. zu Gast waren. Ausgezeichnet wurde Napoléon Peltzer für den sozialen Einsatz für seine Arbeiterschaft, 1894 in den russischen und 1897 durch Wilhelm II. in den erblichen deutschen Adelsstand erhoben.
Sein Enkel, Sascha Peltzer wurde Maler, nachdem er zunächst eine Lehre als Kaufmann im Handelshaus seines Vaters Alexander Peltzer in Moskau absolviert hatte. Vor der Russischen Revolution siedelte er nach München über und widmete sich der Malerei, künstlerisch in München ausgebildet, fand er im Chiemgau, wo er 1932 das Haus für seine Familie errichtete, seine Motive. So auch das für das Gemälde, dass nun meinen Flur prägt.
Der Grund, dass Sascha Peltzer überhaupt in den Blick meines Freundes geriet, war die peltzersche Familiengeschichte, von Isabella Peltzer – besser bekannt als Isabella Nadolny – in ihrem Buch Vergangen wie Rauch niedergeschrieben. Das Buch hatte uns beim Lesen bewegt und war, mit dem Bezug zum Handelshaus in Russland – als familiäre Überschneidung, immer wieder Gesprächsthema.
Isabella Peltzer wurde 1917 in München als Kind von Sascha Peltzer und Stella Eliza Krönig geboren. Sie heiratet den Schriftsteller Rudolf Nadolny. Nach dem II. Weltkrieg, ab 1951 beginnt Isabella, nun Nadolny, Feuilletonbeiträge zu veröffentlichen. 1964 erscheint ihr Buch Vergangen wie ein Rauch, in dem sie anderthalb Jahrhunderte der peltzerschen Familiengeschichte in Russland mit ihrer eigenen Kindheit in München verknüpft.
Isabella Nadolny entfaltet ihre eigene Geschichte und die ihrer Familie in einem schwebenden Ton, der zwischen Erleben und Erinnerung wechselt. Es geht nicht allein um die biografische Rückschau aus der Perspektive eines kleinen Mädchens, das die elterliche Wohnung mit ihren Möbeln und Bildern erkundet, sondern um die Frage, wie Geschichte – persönliche wie kollektive – im Bewusstsein einer Familie weiterlebt. Isabella Nadolny verwebt das Private mit dem zeitgeschichtlichen und zeigt, wie stark die großen historischen Brüche des 20. Jahrhunderts in individuelle Lebensgeschichten hineinwirken.
Sprachlich ist der Roman etwas Besonderes, weil ihn eine unaufdringliche Eleganz auszeichnet. Isabella Nadolny schreibt präzise, mit einem feinen Sinn für Zwischentöne und Atmosphären. Ihre Sprache wirkt dabei manchmal fast impressionistisch: flüchtige Bilder, Schatten, Lichtspiele, Erinnerungsfetzen. Wir begegnen einer nachdenklichen, reflektierten Stimme, die jenseits von Dramatisierung, das langsame Nachhallen vergangener Lebensgeschichten in die Gegenwart ernst nimmt.

Sten Nadolny, Sohn des Schriftstellerpaares Isabella und Burkhard Nadolny, wird 1942 geboren. Der Beruf des Künstlers oder Schriftstellers scheint ihm in die Wiege gelegt, stattdessen geht er zur Bundeswehr, lässt sich als Reserveoffizier ausbilden und studiert im Anschluss Geschichte und Politik, um dann doch zu beginnen zu schreiben. Mit seinem größten Erfolg, Die Entdeckung der Langsamkeit (1983), setzt Sten Nadolny dann einem Idol seiner Jugend, dem Polarforscher John Franklin, ein Denkmal.
Das Buch ist längst ein Klassiker der deutschsprachigen Literatur. Mit der fiktionalen Biografie des britischen Polarforschers hat Sten Nadolny nicht nur eine historische Figur literarisch neu belebt, sondern auch eine zeitlose Reflexion über Wahrnehmung, Zeit und Menschlichkeit geschaffen. Man könnte vermuten, dass die Behutsamkeit und Unaufgeregtheit der Sprache seiner Mutter Widerhall in seinem Schreiben findet.
Im Mittelpunkt der Handlung des Buches steht John Franklins außergewöhnliche Gabe – oder besser: sein anders sein. Er ist langsam. Langsam im Denken, Sprechen, Handeln. Was in einer von Geschwindigkeit, Effizienz und Wettbewerb geprägten Welt zunächst als Schwäche erscheint, erweist sich im Verlauf des Romans jedoch als Stärke: Franklin sieht genauer hin, er handelt bedachter, er versteht tiefer. Sten Nadolny gelingt es, diese Langsamkeit nicht als Mangel, sondern als andere Form der Weltaneignung zu zeigen – als Haltung, die Klarheit und Gelassenheit ermöglicht.

Der Roman entfaltet sich auf unterschiedlichen Ebenen: als historische Abenteuergeschichte, die Franklins Expeditionen ins Eis schildert; als Entwicklungsroman, der von Selbstzweifeln und gesellschaftlicher Anpassung erzählt; und als philosophisch-poetische Meditation über Zeit.
In einer Zeit, in der Geschwindigkeit, Digitalität und Künstliche Intelligenz zu den Megatrends unserer Zukunft erklärt werden, erscheint es umso wichtiger, sich Quellen zu erschließen, die uns zurückholen zu dem, was am Menschsein das Wesentliche ist. Die Fähigkeit, innezuhalten, zu reflektieren und über den Gedanken der Effizienz hinaus, sinnhaft und als Brücke zwischen dem Gestern und dem Morgen zu leben.
Beide Bücher sind solche Quellen, die heute um so lesenswerter sind, da das, was sie beschreiben, immer weniger selbstverständlich wird. Innehalten. Das Bild in meinem Flur macht das für mich noch greifbarer. Es ist geronnene Zeit, die bewusste Wahrnehmung eines Malers auf eine Landschaft. Eine Haltung, die sich bei seiner Tochter und seinem Enkel fortgesetzt hat. Für mich beim Verlassen der Wohnung und beim Heimkommen, mich genau daran zu erinnern.
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Michael E.W. Neÿ

Michael E.W. Neÿ, gebürtiger Niederrheiner und aufgewachsener Heidjer, liebt Deutsch-Drahthaar, Pferde, sein Gravelbike, das Moor und aufgrund seiner friesischen Vorfahren wohl Geschichten über das Meer unter Segeln. Im Alltag beschäftigt sich der inzwischen in Magdeburg lebende Sozioökonom mit Biographie- und Bildungsforschung und den Geschichten, die die Zukunft schreibt.
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