Auf KRAUTJUNKER erschienen mit Pasta con le sarde sowie Boulet liégeois, Sauce lapin und Salade liégeoise zwei Texte des belgischen Althistorikers und Publizisten David Engels, ursprünglich veröffentlicht im christlichen Online-Magazin corrigenda, wo sie Teil seiner Kolumne Küchenlatein waren. Zwischen Oktober 2023 und Oktober 2024 verschränkte Engels dort, Monat für Monat kulturhistorische Erinnerung mit den vertrauten Gesten des Kochens und ließ durch die scheinbare Harmlosigkeit der Rezepte einen gedämpften, fast resignierten Weltschmerz hindurchsickern.
In dem hier vorgestellten Rezept Steak and Mushroom Pie – auf Deutsch Rindfleischpastete mit Pilzen und auf Österreichisch Ragout im Teigmantel – führte ihn die Suche nach dem „echten England“ weiter zurück in die Zeit als jene nach dem „echten Europa“. Kochen erweist sich dabei als ideale Strategie, um eine Spurensuche zu eröffnen – tastend, erinnernd, genießend – und sie zugleich mit anderen zu teilen.
von David Engels

Wer vom Weihnachts-Special von Küchenlatein einen gefüllten Truthahn erwartet hat, dürfte enttäuscht werden. Aber ich gestehe ganz pragmatisch, dass ich das familiäre Weihnachtsessen nicht insgesamt zweimal zubereiten wollte – einmal für die geschätzten Leser, einmal für die Hausgenossen – und daher lieber eine Zubereitung vorziehe, die sich ebenfalls gut für die Festzeit eignet, aber auch „zwischen den Jahren“ genossen werden kann und uns diesmal nach England führt (wobei ich mit „England“ tatsächlich das bukolische Ländchen unter dem St.-Georgs-Kreuz meine, nicht das Vereinigte Königreich).
Eine Aussage wie „Die englische Küche ist gar nicht so schlecht“ reicht zumindest in Frankreich oder Belgien für gewöhnlich völlig aus, um sich selbst im hohen Bogen aus der guten Gesellschaft herauszukatapultieren. Trotzdem bin ich niemals von dieser Meinung abgewichen, wobei man sie korrekterweise mit dem Wörtchen „eigentlich“ ergänzen sollte. Denn in der Tat ist das, was man in einem gewöhnlichen Großstadtpub vorgesetzt bekommt, eher die lieblose und zu Recht geringgeschätzte Schwundstufe einer ländlichen Küche, die durchaus großes Potenzial gehabt hätte (und immer noch hat).
Wer sich die Zeit nimmt, ein wenig durch die englischen Dörfchen zu touren und in den unzähligen Farmers’ Markets die regionalen Spezialitäten (allen voran beim völlig unterschätzten englischen Käse und natürlich beim Bier!) zu erkunden und in kleinen Wald- und-Wiesen-Pubs einzukehren, wird schnell merken, dass seine kulinarischen Vorurteile zu hastig waren.

Ein großer Klassiker wird ihm dabei in unzähligen Varianten begegnen: der Pie, dem wir uns heute in seiner Form als Steak and Mushroom Pie widmen wollen, also einer Krustenpastete mit Steak- und Pilzfüllung.
In seinem Pragmatismus ein typisch englisches Gericht

Nachdem die Fleischstücke gut angebraten sind, auch die Pilze hinzufügen und eine kleine Weile mitbraten lassen. Dann mit Bier ablöschen, etwas verrühren und den gesamten Inhalt in einen großen Kessel überführen. Die Wahl des Bieres könnte den zerbrechlichen Frieden des Inselreiches bedrohen, daher überlasse ich lieber dem Leser die Wahl, ob er ein solides, ehrliches englisches Ale wählt oder mit der Nutzung eines internationalistischen Guinness vielmehr den Nordirlandkonflikt erneut anstacheln will.
Die eintopfartige Mischung sollte dann jedenfalls eine Weile vor sich hinköcheln, damit das Fleisch wirklich gar wird und etwas aufweicht und die Sauce allmählich eindickt; Konsistenz und Geschmack sind regelmäßig nachzuprüfen (Essen nachprüfen ist ohnehin eine ausgezeichnete Freizeitbeschäftigung) und bei Bedarf zu korrigieren und mit Fleischbrühe zu verdünnen bzw. etwas zusätzlichem Mehl zu verdicken.
A propos Bier: Wen es schon während des Kochens nach einem entsprechenden Kehlenbad dürstet, sollte sich keinen Zwang antun, da das Gesamtrezept doch ein wenig Zeit in Anspruch nimmt. Nichts besser als ein gutes Bombardier, ein Spitfire, ein London Pride, ein Newcastle Ale oder natürlich (und noch besser, falls erhältlich) eines der unzähligen kleinen Regionalbiere, die es mittlerweile überall in England gibt, und zu denen man sich etwa ein paar pickled onions, also eingelegte Zwiebeln, gönnen darf. Aber bitte schaumfrei eingießen!

Der Steak and Mushroom Pie ist in seinem Pragmatismus ein typisch englisches Gericht, das aufgrund seiner Handlichkeit ein nutriotionstechnisch ebenso vollständiges wie transportables Mittagessen darstellt, wobei die Teigumhüllung nicht nur Sättigung garantiert, sondern eben auch – im Gegensatz zu dem nach außen hin offenen vornehmen Sandwich oder dem unsäglichen, von Käse und Ketchup triefenden Hamburger – das Innenleben abschirmt und frischhält.
Auch heute noch wird man in den meisten traditionelleren Bäckereien (und nicht Londoner Imitaten französischer Boulangeries) dampfende kleinformatige Pies finden, die sich gleichsam beim Spaziergehen oder im Park verzehren lassen, ohne sich die Hände (allzu sehr) schmutzig zu machen; nur vor dem Blätterteig sei gewarnt. Ein weiterer Vorteil des Pies im Gegensatz zu Sandwiches und Hamburgern ist natürlich seine beliebig zu variierende Größe, so dass er sich ideal als Familienessen eignet.
Und schließlich lässt sich der Inhalt je nach Geschmack und Marktangebot ins Unendliche anpassen, indem man etwa auch etwas Gemüse hinzufügt, die Pilze durch Nierchen ersetzt (meine Lieblingsvariante, die ich allerdings aufgrund einstimmigen familiären Vetos nur selten kochen darf) oder eben auch andere Fleischsorten oder selbst Fisch nutzt – der Phantasie sind hier keine Grenzen gesetzt, solange nichts anbrennt oder man Filme wie Sweeney Todd … – aber lassen wir das.
Erbsen so grün wie englischer Rasen
Während das Fleisch vor sich hin köchelt, geht es nun an die Zubereitung des Teigs. Wer sich hier keine besondere Arbeit machen und Risiken vermeiden will, wird wohl am besten im Supermarkt seines Vertrauens vorgefertigten Blätterteig erstehen, damit Boden und Rand einer mit Butter eingefetteten, relativ flachen Kuchenform bedecken, mit der Fleischmischung auffüllen und dann mit einer weiteren Portion Teig entsprechend versiegeln (in Pubs wird der Pie übrigens gerne in Keramikschüsseln serviert, die nur von oben mit Teig bedeckt sind).
Mir selbst ist die Selbstanfertigung von Blätterteig etwas zu umständlich, so dass ich mir üblicherweise mit einer ziemlich simplen hausgemachten Mischung aushelfe: Das Mehl in einen großen Behälter geben, kleingeschnittene (am besten schon auf Zimmertemperatur befindliche) Butter und Gewürze hinzufügen und mit ein paar Esslöffeln Wasser sowie dem Gelb von drei Eiern gut durchkneten, bis eine angemessene, weder zu krümlige noch zu weiche Konsistenz erreicht ist (bei Bedarf Mehl oder Wasser hinzufügen, bis das richtige Ergebnis erzielt ist).

Am wichtigsten beim Ausrollen des Teigs auf die gewünschte Größe ist es, über ausreichend Platz zu verfügen: Eine große, glatte und entsprechend mit Mehl bestäubte steinerne Küchenfläche (über die ich selbst in meiner gegenwärtigen Küche leider nicht mehr verfüge) ist klar von Vorteil, wenn die zu befüllende Backform Familiendimensionen hat. Übrigens ist dies auch der Moment, die Oberfläche der Fleischpastete mithilfe der möglichen Teigreste mit den verschiedensten Formen saisonadäquat zu dekorieren.
Den Pie dann mit zwei Eigelb bestreichen, in einen auf 180° Celsius vorgewärmten Ofen schieben und backen, bis der Teig die gewünschte goldbraune Farbe und Konsistenz aufweist (etwa 30 Min.). Als kongeniale Begleitung empfiehlt sich natürlich gedünstetes (und möglichst salzlos) zubereitetes Gemüse, allen voran jene berühmten englischen Erbsen, die idealerweise dieselbe sattgrüne Färbung wie der dazugehörende englische Rasen aufweisen sollten.
Aus den möglicherweise im Topf verbliebenen flüssigen Resten des Eintopfes lässt sich auch durch Zugabe von Gewürzen, Fleischbrühe und Butter und nach etwas Mixen eine ziemlich simpel zu improvisierende Sauce für das ideale Nach-Weihnachtsessen herstellen.
Die beständige Suche nach dem „echten England“
A propos Weihnachten: Das zweithöchste Kirchenfest assoziiere ich seltsamerweise (wie so viele gute Dinge) seit jeher mit England; einem Land, dem ich mich schon als Kind sehr verbunden gefühlt habe, seitdem es zum festen familiären Mittwochnachmittagsprogramm zählte, die bis heute von mir hochgeschätzte 1978er BBC-Serie All Creatures Great and Small (Der Doktor und das liebe Vieh) zu schauen.
Diese beruht auf den autobiographischen Romanen von James Herriot und behandelt ziemlich unspektakulär den Alltag eines Tierarztes in den rauen Hochmooren der Yorkshire Dales in der unmittelbaren Vor- und Nachkriegszeit; eine Serie, der ich nicht nur die Anfänge meines englischen Wortschatzes verdanke (eine gewisse Zeit lief die Serie nur untertitelt im deutschen Fernsehen), sondern eben auch eine tiefe Liebe für Tweed, Ale, Regen und Robert Hardy.
Unbarmherzig hat sich seitdem die Pawlowsche Konditionierung festgesetzt, Familienfeste (allen voran bei schlechtem Wetter) irgendwie mit „England“ zu assoziieren und somit auch einen entsprechenden kongenialen Rahmen schaffen zu wollen. Der Vorteil einer solchen frühkindlichen Prägung ist fraglos, dass sie auch durch den Kontakt mit der Realität kaum noch getrübt werden kann und so manche Frustration überlebt: „So much the worse for reality“.
Der Nachteil ist freilich, dass sie beständige Phantomschmerzen nach einem lange verschollenen Ideal hervorruft – und ich vermute, meine beständige Suche nach dem „echten England“ geht noch weiter in der Zeit zurück als die nach dem „echten Europa“, wenn ich auch manchmal vermute, dass diese Sehnsucht nach einem (schon von Shakespeare betrauerten) „merry old England“ nicht nur auf die grässlichen Verwüstungen der Industrialisierung zurückzuführen ist, sondern auch schon vorher eine kulturelle Konstante der englischen Mentalität war.
Wie dem auch sei: Kochen ist jedenfalls die ideale Strategie, eine solche Spurensuche synästhetisch selbst vom heimischen Herd aus in Angriff nehmen und das Resultat auch noch mit anderen teilen und verspeisen zu können – natürlich begleitet von einem guten Ale und abgerundet von einem anständigen Whisky. Der Whisky-Kolumnen und Nosing-Experten gibt es viele; so viel soll hier nur zum Thema gesagt sein, dass es mittlerweile eben auch einige ausgezeichnete englische Whiskys gibt, allen voran aus der St.-George’s-Destillerie.
Zutaten (für 6 Personen):
1,2 kg Steakwürfel (und ja, die Zeiten sind schlecht, eine gute Rindergulaschmischung ist also kein Verbrechen)
250 g Pilze
4 Zwiebeln
Knoblauch
5 Eier
500 g Mehl (dazu Mehl zum Bestäuben, Ausrollen und Nachbessern)
300 g Butter
Bier (…)
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David Engels

Prof. Dr. David Engels, geboren 1979, studierte Geschichte, Philosophie und VWL. Nach der Promotion in Alter Geschichte an der RWTH Aachen wurde er 2008 auf den Lehrstuhl für Römische Geschichte an der Freien Universität Brüssel (ULB) berufen. Seit 2018 arbeitet er am Westinstitut (Instytut Zachodni) in Posen. Einem breiteren Leserkreis wurde er durch seine essayistische Tätigkeit und seine Bücher Auf dem Weg ins Imperium (2014), Renovatio Europae (2019) und Was tun? (2020) bekannt. Im Februar 2024 stellte ich auf dem KRAUTJUNKER Aurë entuluva! – Der Tag soll wieder kommen. J.R.R. Tolkien zum 50. Todestag vor. Im Mai 2025 erschienen Widerstand und Ehre: 12 neue Lebensbilder der Freiheit und im September Das Abendland verteidigen: Einführung in den Hesperialismus.
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Verbindlichsten Dank für das Copyright des hier veröffentlichten Originalbeitrags auf corrigenda*.
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Anmerkungen

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