Buchvorstellung
Das eiszeitliche Westeuropa vor 40.000 Jahren. »Die Männer hatten am anderen Ende des Tals Spuren einer Mammutherde gefunden. Fünf Sonnenaufgänge. Das hatte Arxey ihr mit allen Fingern seiner erhobenen Hand gezeigt. Dann krümmte er den Daumen leicht nach innen. Vielleicht auch nur vier. Einen Tag für den Weg zur Herde, zwei für die Jagd, zwei für den Rückweg, falls sie Brocken eines schweren Kadavers mit sich schleppten.«
Am zehnten Tag des Wartens, beschließt Igidi, die Frau des Anführes, angesichts schwindender Essensvorräte und Bärenspuren in der Nähe, dass sie sich einer anderen Sippe anschließen müssen. Doch die Wanderung durch die weglose Wildnis fordert von Beginn an Opfer. Das erste Hindernis ist ein Bergfluss, den starker Schneefall zu einem reißenden Strom hat anschwellen lassen.
»Sie fand keinen geeigneten Übergang, dafür führte der Strom zu viel Wasser. Doch sie mussten ihn überqueren, denn auf dieser Seite versperrte ihnen eine riesige Gruppe hoher Felsen den Weg. Immer wieder steckte sie ihren Speer in den Flussboden. Schließlich entdeckte sie eine Stelle, an der das Wasser niedriger zu sein schien. Idigi nahm die Seile aus Tabes Tragetuch und band sie um je zwei Kinder zusammen. Jede Frau musste eine Gruppe Kinder übernehmen. Idigi vertraute ihre beiden älteren Kinder Tabe an. Ein letztes Mal prüfte Idigi, ob ihr Säugling in seinem Tuch sicher auf ihrem Rücken befestigt war. Dann nahm sie Kitabes Hand.
Das Wasser war eiskalt und die Strömung zerrte schon beim ersten Schritt an ihr. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, Kitabes Finger fest mit ihren verschränkt. Sie schafften es fast bis zur Mitte des Flusses. Mit einem Mal sank der Boden unter Idigis Füßen abrupt ab. Sie schrie einen Warnruf nach hinten, doch zu spät. Sie sah Ude bereits untergehen. Der Strom riss Idigi fort und spülte sie auf die Flussbiegung zu. Sie versuchte, ihren Kopf oben zu halten, umklammerte mit einer Hand ihren Speer, mit der anderen griff sie nach Kitabes schlüpfrigen Fingern und schluckte Wasser.
Die Götter des Flusses waren zornig, sie forderten ein Opfer und entrissen ihr Kitabes Hand.
Idigi sah das angstvolle Gesicht ihrer Schwester, der Mund weit aufgerissen, wie zu einem Schrei. Sie griff nach Kitabe und erreichte sie fast. Doch schon drückte der Fluss ihre Schwester unter Wasser, das Gesicht jetzt still und ergeben, bedeckt von schaumigen Tränen, dann war Kitabe fort.
Idigi strampelte mit ihren Beinen, und endlich, endlich spürte sie wieder festen Grund unter ihren Füßen. Sie krabbelte ans Ufer und fiel erschöpft auf die Knie. Sofort griff sie hinter sich und wickelte das Tuch ab, auf das Unerträglichste gefasst. Der Säugling blickte ihr entgegen, sein Gesicht tropfnass, daoch dann holte er Luft und begann zu schreien. Sie wiegte ihn, hielt währenddessen angstvoll Ausschau nach den anderen. Tabe zerrte Neme und Jarti soeben auf eine Böschung. Doch nicht alle erreichten das Ufer lebend. Eine Frau hatte, überwältigt von den Wassermassen, das Seil verloren, beide Kinder waren fortgespült worden, darunter ihr eigenes. Sie warf sich auf die schlammige Erde und schrie und weinte, wie auch die andere Frau, deren Kind ebenfalls ertrunken war. Idigi sah, wie Ude, ungelenk paddelnd wie ein Biberjunges, das Ufer erreichte, und ihre dürren Arme um die trauernden Mütter legte und ihnen dabei tröstende Worte ins Ohr flüsterte. Idigi vergoss ebenfalls unzählige Tränen, um die beiden Kinder, um ihre süße kleine Schwester Kitabe. Sie konnten ihre Toten, die der Fluss verschlungen hatte, nicht einmal begraben. Darum hielten sie sich alle an den Händen und sangen die Trauerlieder, damit Kitabe und die Kleinen in der anderen Welt ein sicheres, warmes Zuhause erwartete.
Sie fanden Unterschlupf in einer Grotte unweit des Flusses, der ihnen so viel geraubt hatte. Tabe kehrte mit triumphierenden Gesicht zurück, sie hatte mit ihrem Speer drei kleine, silbrig-schuppige Fische getötet. Ude schlug ihren Feuerstein auf einen gelblichen Steinbrocken, bis Funken die getrockneten Pilze auf dem Nest aus dem Gras rasch entfachten. Stumm hockten sie alle vor dem Feuer und aßen die gebratenen, zartfleischigen Fische. In der Nacht hörte Idigi die Kinder im Schlaf wimmern, und sie fragte sich, ob sie je irgendwo ankommen würden.«
Eine Mutter und ihr Kind fallen am kommenden Tag Hyänen zur Beute. Kinder werden in der eisigen und weglosen Wildnis Opfer der Kälte und von Unfällen. Eine alptraumhafte Begegnung mit einem Bären lässt die Gruppe weiter schrumpfen. Während ihrer gefahrvollen Wanderung durch die Winterlandschaft, versuchen sie mühsam, durch das Sammeln von Pflanzen und Pilze Nahrung zu finden.
Die 37seitige Neandertaler-Erzählung des Büchleins Schneesöhne ist eher eine Kurzgeschichte, als ein Roman. Es gelingt Marion Leuther die Neandertaler, als Naturmenschen einer eigenen Art zu zeigen und nebenbei etwas vom heutigen Wissenstand über unsere fremden Geschwister zu vermitteln. „Lesen ist Denken mit fremden Gehirn“, sagte der Schriftsteller Jorge Luis Borges. Denken wie ein Neandertaler ist nochmal eine ganz andere Nummer, denn ganz so wie wir, waren sie nun doch nicht. Beim Lesen dieser Geschichte fragt man sich unwillkürlich, wie man sich selbst auf dieser Reise geschlagen hätte…
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Marion Leuther

Marion Leuther wurde 1965 in Köln geboren, wo sie heute noch lebt. Sie war viele Jahre als PR-Journalistin tätig und veröffentlicht seit 2011 Kurzgeschichten und Romane. Sie interessiert sich für Geschichte, Reisen, Kanufahren und Wandern. Mit „Schneesöhne“ entführt sie den Leser in ein lange vergangenes Zeitalter.
Interview mit der Autorin
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Anmerkungen

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Titel: Schneesöhne
Autorin: Marion Leuther
Verlag: AKRES Publishing
Verlagslink: https://www.akres-publishing.com/products/schneesoehne
ISBN: 978-3-910347-33-5
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