von Michael E.W. Neÿ
„Wage zu wissen“ oder „Wage es Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen“ wurde 1784 von Kant, in Anlehnung an die Aufforderung Horaz (20 v.Chr.), weise zu sein, zur Maxime der Aufklärung erklärt. Aufklärung sei, so Kant, „der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ Unmündigkeit wiederum, so der Königsberger Philosoph, sei „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Selbstverschuldet sei sie, „wenn die Ursache (…) nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt (…)“. Der Blick in die Auseinandersetzungen der Gegenwart nähren den Verdacht, wir könnten längst wieder hinter die Errungenschaften der Aufklärung zurückgefallen sein. Und während wir bequem von unserer Couch aus, fast grenzenlos in das Wissen der Welt und darüber hinaus eintauchen könnten, ohne davon allzu viel Gebrauch zu machen, haben die Aufklärer all ihren Mut zusammengenommen und sich aufgemacht gesellschaftliche und geographische Grenzen zu überwinden, um die Welt zu entdecken, sie zu kartographieren, um zu sammeln und zu systematisieren, um ihre Erkenntnisse einzuordnen in ein neues, sich wandelndes Welt- und Menschenbild.
Es scheint Sinn zu machen, in einer Zeit, die immer mehr nach einfachen Antworten sucht, einen Blick in die Geschichte zu werfen um die wieder zu entdecken, die aufgebrochen sind, um uns die Welt erklärbar zu machen.

Steffen Martus entwirft (2018) in AUFKLÄRUNG – Das deutsche Jahrhundert ein Epochenbild. Deutschland, das natürlich ein anderes war als das heutige, ist im Aufbruch. Noch immer erholt sich die Welt vom dreißigjährigen Krieg als Samuel Pufendorf, gelehrt und fortschrittlich tolerant denkend im schwedischen, Hofhistoriograph wird. In Halle/Saale wandelt sich die Universität zum Hotspot der Frühaufklärung und August Hermann Francke gründet in Glaucha seine erste Armenschule. Künftig soll nicht mehr nur die Herkunft entscheiden, wer Zugang zur Bildung hat. Steffen Martus wirft einen Blick auf den Staat und die aufklärerischen Fürsten, die Universität als politisches Aufklärungsprojekt, wirft einen besonderen Blick (was mich persönlich lokalpatriotisch sehr begeistert) auf den Hamburger Patriotismus und scheut sich auch nicht, die Missstimungen und Auseinandersetzungen zwischen den Aufklärern und ihre Widersprüche zu benennen. Besonders spannend ist, so finde ich zumindest, der Blick auf Moses Mendelssohn und die jüdische Aufklärung in Deutschland. Mendelssohn schaut – anders als z.B. Kant – ambivalenter auf die Wirkung der Aufklärung und sieht sie nicht zwangsläufig als Erfolgsgeschichte an. Hintergrund für Mendelssohns eher pessimistische Einschätzung mag daran liegen, dass der jüdische Bevölkerungsteil den stärksten Druck in einer unaufgeklärten Gesellschaft zu tragen hatten. Und ebenso wusste Mendelssohn um die Beständigkeit von Vorurteilen und Aberglauben und den weiten Weg, den die Menschen zu einer aufgeklärten Gesellschaft noch zurücklegen müssten. Steffen Martus Buch ist ein gelungenes sozio-politisch-ökonomisches Gesamtbild, dass den kritischen Blick nicht schaut und bei aller Komplexität doch gut lesbar bleibt.

Zu den wohl bekanntesten Vertretern der deutschen Aufklärung gehört wohl Alexander von Humboldt. Ihm widmet Andrea Wulf (2015) die Biographie Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. Gleich vorweg, was man dem Buch auf 432 Seiten, die Anmerkungen und das Literaturverzeichnis nicht mitgezählt, anmerkt ist die Begeisterung für den jüngeren der beiden Humboldt-Brüder. „Die Erfindung der Natur“ ist mein Versuch Humboldt zu finden. Andrea Wulf wird ihrem Vorhaben mehr als gerecht. Am Ende der Lektüre erscheint es unverständlich, dass dieser wissenschaftlich interdisziplinär ausgerichtete Universalgelehrte, den selbst sein Freund Goethe als unerschöpfliche Quelle des Lernens beschreibt, heute kaum mehr bekannt ist. Andrea Wulf hat nicht einfach ein Buch geschrieben und sich durch Archive gelesen. Sie hat, neben Briefen, Briefen, Tagebüchern und Humboldts Büchern rund um die Welt auch die Orte erkundet an denen er geforscht und gewirkt hat. Im besten Sinne ist sie Humboldt, um ihn zu finden, nachgereist. Das führt dazu, dass wir nicht nur eine Lebensgeschichte vorfinden, sondern auch lebendigen und zeitgeschichtlich fundierte Beschreibungen der Lebensorte Humboldts. Andre Wulf reist in ihrer Humboldt-Biographie mit uns an die Ort und durch die Zeit und lässt uns die Welt erleben, in der Humboldt wurde. Nach Humboldt sind mehr Orte benannt, als nach irgendeinem anderen Menschen, selbst auf dem Mond gibt es ein Mare Humboldtianum, es gibt Mineralien, Fische, Pflanzen und und und, dass nach ihm benannt wurde und selbst Nevada (USA) hätte beinah seinen Namen getragen. Noch 1869 gab es anlässlich seines 100. Geburtstages weltweit Feiern und seine Forschungen und Theorien wirken auf den heutigen Naturschutz und unsere Sichtweise auf die Welt. Wie komplex, Humboldts Sichtweise war, lässt sich daran ablesen, dass er 1801 bereits vor der Verödung des Planeten warnt und als Folge vermutet, dass wir irgendwann auch andere Planeten verheeren. Das, was das Buch aber lesenswert macht ist, dass es nicht in der Aufzählung Humboldts wissenschaftlicher Großtaten steckenbleibt, sondern auch – auf Grundlage von Briefen, Tagebüchern und Berichten, die Andrea Wulf auf den verschiedenen Kontinenten in Archiven aufgestöbert hat, auch seine Persönlichkeit und die Begegnungen mit Zeitgenossen nachzeichnet. In Summa ein Buch, dass uns an eine grandiose Persönlichkeit erinnert und gleichzeitig dazu auffordert, weniger wissenschaftlich im Silodenken zu verhaften als einfach neugierig und Grenzüberschreitend auf die Welt um uns zu schauen.

Ein kleiner Sidekick muss noch drin sein. Andrea Wulf hat natürlich noch mehr Bücher geschrieben und zumindest eines davon schließt für mich nahtlos an die Humboldt-Biographie an: Magnificient Rebels – The First Romantics and the Invention of the Self (2022). Wir wechseln von der Aufklärung in die Frühromantik und aus der großen weiten Welt nach Jena in Thüringen. Wir begegnen Caroline Schelling, August Wilhelm und Friedrich Schlegel, Novalis, Johann Gottlieb Fichte, Georg Friedrich Hegel, Johann Wolfgang von Goethe und mit ihm zusammen wieder Alexander von Humboldt. Und während es in der Humboldt-Biographie um die Entdeckung der Welt bis in ihren letzten Winkel und die „Erfindung der Natur“ geht, nimmt sich Andrea Wulf in Fabelhafte Rebellen der Entdeckung des Ichs, des Selbst an. Sie tut das mit der gleichen persönlichen Begeisterung und fachlichen Tiefe und schafft es auch hier alles so in ein Bild zu verweben, dass man mit lebendigen Eindrücken die Menschen hinter der Philosophie kennenlernt und die Welt, in der sie leben. Eindrücklich der Moment, in dem man mit Humboldt und Goethe meint im Jenaer Anatomieturm zu stehen und elektrische Versuche an sezierten Fröschen beobachtet, um ihre Funktionsweise zu verstehen. Für mich gehören beide Bücher zusammen, wenn man sich für die Zeit interessiert und für Humboldt begeistert.

Den „Wilden von den Sandwich Inseln“ nennt sich Adelbert von Chamisso selbst, als er nach seinen großen Weltreisen in preußischen Diensten unterwegs ist und, auch dies eine Selbstbeschreibung, Vorsteher eines großen Heulagers sei. Für den Autoren der Biographie Dichter, Naturkundler, Weltenforscher – Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage (2023) ist Chamisso einer der ganz großen jener vordarwinistischen Zeit, in der auch bedeutende Literaten und Denker wie Goethe und Humboldt versuchen einen Reim auf die Natur zu machen.“ Was Chamisso allemal ist, ein Wanderer zwischen den Welten seiner Lebensspanne. Er gehört ebenso in die Spätaufklärung, in die Klassik, die Romantik, den Biedermeier und den Vormärz und das alles, ohne sich bedingungslos einer dieser Epochen wirklich zuordnen zu lassen. Chamisso ist Poet, Naturkundler und Artenforscher, Franzose und Preuße, er ist bürgerlich bieder und zugleich sozialkritisch mit Blick auf die allgemeinen Verhältnisse, wie auf die der Frauen seiner Zeit. Matthias Glaubrecht, seinerseits Evolutionsbiologe und Wissenschaftshistoriker hat 2012 bereits Reise um die Welt herausgegeben, den Bericht Chamissos um seine tatsächliche Fahrt auf der Rurik rund um den Globus. Entsprechend sachkundig beschreibt Glaubrecht auf 541 Seiten die Lebensstationen Chamissos von der Kindheit in und der Flucht der reformierten Familie aus Frankreich über Kunersdorf, Berlin, die fernsten Orte der Welt zurück nach Preußen. Glaubrecht kennt die Orte, hat die Archive dazu durchwandert, setzt die Bezüge zu Darwin, vergleicht Chamissos Aufzeichnungen aus dem Reisebericht mit denen des Kapitäns Otto von Kotzebue und denen des Malers und Zeichners Ludwig Choris, um sie einzuordnen. Neben den biographischen Beschreibungen, dem Blick auf die Person Chamissos, lässt der Autor den Blick auf die gesellschaftlichen Bedingungen und die Zeitläufte nicht aus. Er schafft damit ein umfangreiches und detailliertes Gesamtbild, das gut lesbar ist, in Zeiten der Schlagzeilenkommunikation, dem Leser aber auch einiges an Durchhaltevermögen abfordert. Ergänzt wird das Werk durch rund 200 Seiten Anmerkungen, Quellen etc., denen man die Präzision Glaubrechts anmerkt. Was dem Buch darüber hinaus gut tut, ist die Profession Naturwissenschaftlers, der auch hier Einordnung schafft und zudem in einem abschließenden Kapitel noch aufzeigt, wie sich die von Chamisso besuchten Orte und Regionen im klimatischen Wandel zum Heute hin gewandelt haben.

Übrigens habe ich das Buch nach rund 150 Seiten erstmal beiseitegelegt, um Chamissos Peter Schlemihl zu lesen, in dem vieles der Weltreise vorweggenommen wird. Ein Stück Weltliteratur, das ein wenig in Vergessenheit geraten ist und doch, auch vom Stoff her, gut neben Goethes Faus bestehen kann.
„Selbst Zwerge sehen weiter, wenn sie auf den Schultern von Riesen sitzen.“ Schreibt Umberto Eco. Nun sind Humboldt, Chamisso und die übrigen Aufklärer alles andere als Zwerge, sie sind für sich genommen schon Giganten. Dennoch sind sie nicht herausgelöst aus ihrer Zeit und unabhängig von denen, die vor ihnen waren. In seinem Roman Peter Schlemihl denkt sich der Protagonist, beschrieben von Adelbert von Chamisso, in das Arbeitszimmer Alexander von Humboldts, der dort am Schreibtisch sitzend, umgeben von Büchern ist. Darunter benennt Peter Schlemihl ausdrücklich George Forster. Auf Chamissos eigener Reise um die Welt spielen Vater und Sohn Forster dann ebenfalls eine wichtige Rolle. Schlussendlich trägt Chamissos Bericht den gleichen Titel, wie der Johann Reinhold Forsters. Chamisso war ebenso Humboldt-begeistert und Humboldts Berichte wiederum standen bei Darwin auf der Beagle im Regal. Eine solche Begeisterung führte allerdings nicht dazu, die Vorbilder unkritisch anzunehmen. Chamisso konnte, ohne seine Begeisterung für Humboldt zu verlieren, in dessen Theorie zur Entstehung widerlegen. Zu sehr waren die Aufklärer am Diskurs und daran voneinander zu lernen, sich und die Weltsicht weiterzuentwickeln interessiert.

Allein deshalb darf zum Schluss der Hinweis auf die wundervolle Ausgabe Dr. Johann Reinhold Forster´s Reise um die Welt auf Kosten der Großbritannischen Regierung, zu Erweiterung der Naturkenntnis unternommen und während den Jahren 1772 bis 1775 in dem von Capitain J. Cook commandirten Schiffe the Resolution, ausgeführt. Beschrieben und herausgegeben (und illustriert von eigener Hand) von dessen Sohn und Reisegefährten Geoerge Forster (DAS waren noch Titel!), die im Rahmen der Anderen Bibliothek 2007 neu herausgegeben wurde. Forster lesen heisst, sich ungefiltert auf die Sprache und die Beschreibungen eines aufgeklärten Naturforschers des 18. Jahrhunderts einzulassen. Eine Sprache, in die man sich eingewöhnen und die man aushalten muss, wo sie wohl heute eher Warnhinweise für die Leser enthalten würde. Neben den beschreibenden Biographien ist aber genau dieses Eintauchen in das Originale der besondere Genuss. Sicherlich kein Buch, dass man einfach so weg liest. Eher eines, das man in den dunkleren Tagen zur Hand nimmt, ein gutes Glas Whisky oder einen starken Tee griffbereit, um in ferne Welten und andere Zeiten abzutauchen, begleitet von den meisterhaften Illustrationen George Forsters.
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Michael E.W. Neÿ

Michael E.W. Neÿ, gebürtiger Niederrheiner und aufgewachsener Heidjer, liebt Deutsch-Drahthaar, Pferde, sein Gravelbike, das Moor und aufgrund seiner friesischen Vorfahren wohl Geschichten über das Meer unter Segeln. Im Alltag beschäftigt sich der inzwischen in Magdeburg lebende Sozioökonom mit Biographie- und Bildungsforschung und den Geschichten, die die Zukunft schreibt.
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Anmerkungen

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Herzlichen Dank für diesen wunderbaren Artikel! Seit 58 Jahren begeistert von Humboldt. Seit Erscheinen begeistert von Anfrea Wulfs Buch.
Nur schade, dass z.B. in Schulen der Name Humboldt noch nicht einmal mehr erwähnt wird..
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