Schwarzwild im weiten Gebirge

am

von Leif-Erik Jonas

Vom ersten Schnee angeweißelt waren Berg und Alm, als ich eines Oktobernachmittags zu einer Gamspirsch aufbrach und von einem Wegende durch lichten Almwald der Waldgrenze entgegenstieg. Als mich mein Weg dabei durch eine sanft ansteigende, langgezogene Grasmulde führte, war ich nicht wenig überrascht, dass der Bergwiesenboden auf beträchtlicher Fläche vom Schwarzwild umgebrochen war. Und weil ich erst drei Tage zuvor das letzte Mal an dieser Stelle vorbeigekommen war, wusste ich, dass diese Brechstellen ganz frisch waren.

Erinnerungen wurden wach, denn wie in meinem Buch Auf schroffen Höhen erzählt und beschrieben, war es mir drei Jahre zuvor vergönnt gewesen, an ebendiesem Ort – genau genommen einen Schrotschuss weiter bergwärts – einen Überläuferkeiler auf seine Schwarte zu legen. Nun hatte also erneut Schwarzwild ausgerechnet diese Mulde aufgesucht. Und ich sah gute Chancen, dass sich das Stück noch in unserem Revier aufhielt.

Abb.: Auf Gebirgspirsch; Bildquelle: Leif-Erik Jonas

Ich war hin- und hergerissen, brach die Gamspirsch jedoch bald ab, fuhr zur Jagdhütte, holte Mais und Buchenholzteer und kehrte zur Wiesenmulde zurück. Den Mais vergrub ich in den Brechstellen, den Teer strich ich an eine nahe Junglärche. Nun konnte ich nur noch hoffen, dass die Sau die Kirrung annehmen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Nachdem knapp zwei Wochen verstrichen waren, gab ich schließlich auf und kontrollierte die Kirrung nicht mehr regelmäßig.

Im frühen Dezember wiederholten sich die Ereignisse. Wieder ging ich des Gamswildes wegen die Wiesenmulde hinauf, wieder war ich erst wenige Tage zuvor hier gewesen und wieder fanden sich nun frische Brechstellen. Außerdem war der Malbaum angenommen und die Sau hatte seiner Rinde mit ihrem Gewaff arg zugesetzt. Später an jenem Tag kirrte ich erneut und installierte eine Wildkamera.

Als ich die Kirrung zwei Tage später kontrollierte und die Kamera auslas, machte mein Jägerherz einen Freudensprung. Zeitig in der vorangegangenen Nacht war tatsächlich Schwarzwild abgelichtet worden. Doch entgegen meiner Annahme handelte es sich nicht – wie sonst üblich, wenn sich einmal eine Sau in unsere Bergwelt verirrt – um ein einzelnes, junges Keilerchen, sondern es war eine Bache mit zwei kräftigen Frischlingen.

Freilich glaubte ich nun, dass die drei Stücke die Kirrung fortan regelmäßig annehmen würden. Doch ich sollte mich irren. Wohl weil die Temperaturen in den folgenden Tagen weit unter den Gefrierpunkt sanken und der Boden pickelhart gefror, wanderte das Schwarzwild ab und ward nicht mehr bestätigt. In jenem Jahr wurde auch im gesamten Bezirk kein einziges Stück erlegt.

Im Hochsommer des neuen Jahres sprach sich die Neuigkeit herum, dass in der Nachbargemeinde vier Stück Schwarzwild in Anblick gekommen seien. Und deshalb fasste ich den Entschluss, bei nächster Gelegenheit an altbekannter Stelle zu kirren.

Es war dann ein Nachmittag im zeitigen August. Mein Hauptaugenmerk galt der Rehbrunft und ich hatte mir einen Revierteil in den Kopf gesetzt, von dem ich mir viel versprach. Doch meinen Plan musste ich bald verwerfen, denn die einzige Zuwegung war durch Bauarbeiten nicht passierbar. Ich überlegte kurz und entschied dann, nun endlich mein Vorhaben in die Tat umzusetzen und nach dem Schwarzwild zu schauen. Also fuhr ich hinein ins Tal und hinauf an den Rand der weiten Hochalm. Vom Wegende war ich dann gerade erst einige Schritte weit gegangen, als mein Jägerherz schneller schlug. An mehreren Stellen fanden sich kleinflächige Bodenverwundungen. Richtig als Brechstellen waren diese handflächengroßen Flecken kaum zu bezeichnen, dennoch tippte ich darauf, dass Schwarzwild der Verursacher war. Doch auch das Almvieh oder den Dachs konnte ich nicht gänzlich ausschließen. Dann schließlich am Malbaum angekommen, bestätigte sich meine Vermutung. Er war vom Gewaff der Sau übel zugerichtet worden – wirklich frisch wirkten die Rindenverletzungen jedoch nicht und ich ärgerte mich, nicht schon eher hier Nachschau gehalten zu haben. Nun war es womöglich schon zu spät, die Sau weitergezogen und die rare Chance vertan. Dennoch vergrub ich Mais in den letztjährigen Brechstellen und hoffte, der Schwarzkittel würde vielleicht doch noch einmal zurückkehren.

Am nächsten Tag lastete brütende Hitze über Berg und Alm. Es war noch früh am Nachmittag und bis ich an die Abendpirsch denken musste, verblieb noch reichlich Zeit, mit der ich nicht viel anzufangen wusste. Deshalb kam ich – ohne mir viel davon zu versprechen – auf die Idee, die Saukirrung zu kontrollieren. Und tatsächlich war sie angenommen! Außerdem hatte die Sau in einer schrotschussentfernten, schlammigen Lacke gesuhlt – gleich an zwei Stellen zeichneten sich die Umrisse des Wildkörpers im feuchten Schlamm ab. Auch der Malbaum war wieder angenommen worden. Und sogar an einem zweiten Malbaum, den ich vier Jahre zuvor mit Buchenholzteer eingestrichen hatte, haftete Suhlenschlamm. In der Nähe der Suhle hatte die Sau wenige Quadratmeter umgebrochen – hier kirrte ich nun und installierte eine Wildkamera. In den folgenden beiden Nächten zeichnete sich ein vielversprechendes Bild. Die Kirrung wurde gut angenommen und die Fotofalle lichtete jeweils in der Zeit um Mitternacht einen jungen Keiler ab.

Tags darauf ist das Wetter wenig beständig. In der Mittagszeit entlädt sich ein heftiges Gewitter, in den frühen Abendstunden wabern weißrauchige Nebel um die zackigen Gipfel und immer wieder setzt leichter Tropfenfall ein. Dennoch will ich meinen Ansitzplatz herrichten, denn die Wettervorhersage verspricht eine trockene und weitgehend klare Nacht, die ich nicht ungenutzt verstreichen lassen möchte, denn der Sommermond ist nahezu voll.

Abb. Sonnenuntergang im Gebirge; Bildquelle: Leif-Erik Jonas

Oberhalb von Kirrung und Suhle erhebt sich eine haushohe Böschung, die gleichzeitig den Rand des Lärchenwaldes markiert. Ihre Krone bietet guten Überblick und ist als Ansitzplatz wie geschaffen. Also stelle ich hier zwei aus Haselstangen gefertigte Dreibeine auf. Zum Ansitzen ist es nun allerdings noch zu früh und aufgrund der Möglichkeit eines weiteren Gewitters verzichte ich vorerst darauf, den Schirm fertigzustellen und Tarnnetze über die Dreibeine zu hängen. Stattdessen kehre ich zum Auto zurück und fahre zu einer Stelle, von der man weiten Blick übers Tal hat, und vertreibe mir die Zeit mit dem Abglasen des Gegenhangs.

Meine Ahnung bestätigt sich: Dunkle Wolken ziehen heran, schwerer Regen prasselt hernieder, gleißend helle Blitze zucken aus dem finsteren Gewölk und urweltliche Donner grollen durch die Täler. Als es aufklart und nur noch vereinzelte Tropfen vom Himmel fallen, ist es höchste Zeit geworden, an den Sauansitz zu denken.

Einen doppelten Büchsenschuss vom Wegende entfernt parke ich den Pajero und steige ein Viertelstündlein zu meinem Ansitzplatz hinauf, werfe Tarnnetze über die Dreibeine und setze mich nieder.

Schrotschussweit vor mir befindet sich nun die Kirrung. Die Suhle liegt zu meiner Linken und etwas näher. In ihrem schlammigen Wasser spiegelt sich das Gezweig des einen Malbaumes. In derselben Richtung – aber doppelt so weit entfernt – steht der zweite Malbaum, jener, der in den letzten Tagen weitaus besser angenommen worden ist. Rechts reicht die langgezogene Grasmulde bis zu einer knapp zweihundert Schritt entfernten und mit Junglärchen bewachsenen Geländekante hinauf. Nach links und vorne hingegen ist der die Mulde umgebende junge, lichte Lärchenwald nur rund sechzig Meter entfernt.

Mittlerweile hat der Regen völlig aufgehört. Der Himmel ist jedoch noch wolkenverhangen und in der Ferne baut sich in blauschwarzen Farben drohend die nächste Gewitterfront auf. Nebel wallen um die zackigen Gipfel und immer wieder wabern die milchigen Schleier auch die Grasmulde hinauf. Wieder geht ein kurzer Regenschauer hernieder und ich bin mir recht unsicher, ob der Ansitz hier und heute überhaupt einen Sinn hat oder ob mich das Wetter bald zum Abbruch zwingen wird.

Doch schon wenig später schimmern erste azurblaue Flecken vom überwölkten Himmel und geben mir Hoffnung, dass die Wettervorhersage recht behalten wird und mir eine klare Mondnacht bevorsteht. Dafür werden nun die herantreibenden Nebelschwaden immer dichter, sodass man in der einsetzenden Dämmerung mitunter kaum weiter als bis zur Kirrung schauen kann. Doch nie dauert es lange, bis sich der Gamshüter wieder verzieht und freien Blick gewährt. War der Wind anfangs noch etwas unstet, treiben die Nebel nun konstant bergwärts, mithin in jene Richtung, aus der ich die Sau am wenigsten erwarte.

Angespannt sitze ich da, horche in die aufsteigende Finsternis hinein. Jedes leise Geräusch lässt das Jägerblut rascher durch meine Adern fließen. Die Möglichkeit, ein Stück Schwarzwild in den Weiten der schroffen Gebirgswelt zu erlegen, ist schließlich etwas, auf das der Bergjäger für gewöhnlich ein Leben lang vergeblich wartet. Entsprechend groß ist der Wille, ja keinen Fehler zu machen und kein Anzeichen anwechselnden Wildes zu versäumen.

Zwischen den raum stehenden Junglärchen jagt eine Fledermaus im Flatterflug nach Insekten. Die letzten Farben des Tages sind dann schon vielschattiertem Grau gewichen, als mich halbrechts ein leises Geräusch aufhorchen lässt – war da nicht ein Grunzen? Oder habe ich mich getäuscht? Kurz darauf ein deutliches Knacken zu meiner Linken – dann wieder die große Stille eines feuchten Bergsommerabends. Doch bald tönt von links ein rhythmischer, kratzender Ton. Hier gibt es keinen Zweifel! Die Sau scheuert ihre Schwarte am weiter entfernten Malbaum, der für mich jedoch durch eine einzelne Junglärche verdeckt ist.

Zeitlupenlangsam schiebe ich den Gehörschutz auf meine Ohren. Schon sehe ich reichlich schrotschussentfernt – wenig neben dem Malbaum – im Dämmerlicht einen schwarzen Klumpen! Während ich mit aller Vorsicht die Bockbüchsflinte an die Schulter hebe, wechselt die Sau stichgerade auf mich zu. Dann verhofft sie keine zwanzig Schritt entfernt hinter dem anderen Malbaum und verharrt still. Hat sie einen Hauch meiner Witterung bekommen? Kaum wage ich zu atmen. Doch – welch Erleichterung! – schon bald setzt die Sau ihren Weg nach rechts fort und zieht der Kirrung entgegen. Das Gewehr liegt bereits am Dreibein auf, als die Sau zwei, drei Bergstocklängen vor dem Mais brettlbreit verhofft und in der nicht besonders lichtstarken Zieloptik nur mehr als tiefgrauer Umriss zu erkennen ist. Rasch erhöht mein rechter Zeigefinger den Druck aufs Zünglein, doch einen Augenblick vor dem Brechen des Schusses rutscht ein Fuß des Dreibeins am feuchten Almgrasboden ab und die Auflage sinkt eine Handbreit tiefer. Der Sau ist das unvermeidliche Geräusch freilich nicht entgangen und schlagartig wendet sie ihren Kopf ein wenig in meine Richtung. Obwohl ich nun nahezu freihändig zielen muss, steht das Fadenkreuz leidlich ruhig am Blatt und wenige Herzschläge später gellt der Schuss über die Weiten der sanften Hochalm. Mit ungeahnter Geschwindigkeit flüchtet die Sau los, beschreibt dabei einen leichten Bogen und hält so genau auf mich zu. Gerade will ich aufspringen und mich mit ein paar schnellen Schritten in Sicherheit bringen, da scheint sich ihr Wurf auf knapp halber Böschungshöhe richtiggehend in den Boden zu rammen. Die Sau schwankt, flüchtet die Böschung taumelnd wieder hinunter, bricht wenig neben der Suhle zusammen und nach kurzem Schlegeln streckt sich der Wildkörper.

Als ich bald darauf an meine rare Beute herantrete, fühlt sich alles so unwirklich und doch so selbstverständlich an. Nach kaum drei Viertelstunden des Sitzens ist mir hier zum zweiten Mal etwas gelungen, was in einem Bergjägerleben für gewöhnlich nie – und mit viel Glück einmal – gelingt. Vor knapp vier Jahren bin ich nur zehn Schritt entfernt an meinem ersten Bergschwein gestanden – und nun liegt hier das zweite vor mir, ein Überläuferkeiler von reichlich fünfzig Kilogramm.

Abb.: Der erlegte Überläuferkeiler; Bildquelle: Leif-Erik Jonas

Nach der Roten Arbeit gehe ich den halben Kilometer zum Pajero hinunter und fahre zum Wegende. Eigentlich wollte ich gar bis nahe zum Anschuss hinauf, doch der Almboden ist durch den Regen so aufgeweicht, dass auch gute Geländetechnik und grob profilierte Reifen an ihre Grenzen kommen. So lasse ich das Fahrzeug wenig oberhalb des Wegendes stehen und kehre zu Fuß zu meiner Beute zurück. Noch bis nach Mitternacht lasse ich mir Zeit, das Erlebte auszukosten und in mich aufzunehmen. Der Himmel hat mittlerweile aufgeklart und es ist wunderbar, in der mondhellen, kühlen Sommernacht hier heroben an meinem Keilerchen zu sitzen und den Blick über die finsteren Silhouetten der mich umragenden Bergriesen schweifen zu lassen.

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Leif-Erik Jonas

Leif-Erik Jonas: Geboren 1993 in Norddeutschland, wohnhaft in Osttirol. Beruflich tätig als Jagdvermittler, Jagdreisebegleiter, Pirschführer und Autor.
https://jonas-jagd.com/

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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Porzellantassen. Weitere Informationen hier.

Titel: In wilden Weiten: Pirschgänge in der Bergwelt

Autor: Leif-Erik Jonas

Herausgeber ‏ : ‎ Books on Demand; 2. Edition

ISBN: 978-3757845032

Ein Kommentar Gib deinen ab

  1. Jetzt bin ich neugierig geworden, da ich mich doch einigermaßen in Osttirol auskenne, nachdem ich seit knapp 50 Jahren mit meiner Familie regelmäßig im Defereggen bin.

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