Buchvorstellung von Werner Berens
Vorbemerkungen
So heißt das Buch bzw. die Übersetzung aus dem Schwedischen, erschienen als Buch der Friedenauer Presse, einem Imprint des Verlages Matthes & Seitz Berlin.
Der Autor, Matthias Alexander Castrén, berichtet, beschreibt, erzählt darin auf 313 eng beschriebenen Seiten in den im Folgenden erwähnten Kapiteln und vielen Unterkapiteln über seine Forschungsreisen nach Lappland 1838, in das russische Karelien 1839, dem nördlichen Russland und Sibirien 1841-1844.
Alexander Castrén war Ethnologe und Professor für finnische Sprache und Literatur. Vor allem aber war er Forscher, der sich unter heute kaum vorstellbaren Mühen die Sprachen, Lebensweisen, religiösen Vorstellungen von Lappen, Karelieern, Samojeden, Syrjänen etc. erschloss. In einem ausführlichen Nachwort berichtet Kaus-Jürgen Liedtke über das Leben und die Forschungen Castréns bzw. ihre Bedeutung. Er erwähnt dabei- was in Zeiten „sprachpolizeilich“ und politisch gepflegter möglicher Empfindlichkeiten leider notwendig zu sein scheint-, dass das Buch die damals üblichen Stammesbezeichnungen beibehält. Ebenso „rechtfertigungspflichtig“ scheint die eigentliche Selbstverständlichkeit, dass historisch bedingte Einschätzungen von Charakterzügen der erwähnten Volksgruppen eben historisch bedingt sind und eine der political correctness geschuldete „Sprachreinigungsaktion“ die Perspektive Castréns postkolonial verdrehen würde.
Leseerlebnis
Der mitteleuropäische Leser und die mitteleuropäische Leserin des Buches wird nicht sofort in die Welt des Buches einzutauchen vermögen, weil die geschilderten Vorgänge, Handlungen und Lebensverhältnisse ihm/ihr in doppelter Hinsicht fremd sind:
1. Die Bedingungen, unter denen ethnologische Feldforschung im 19. Jahrhundert stattfinden musste….
»Wir streiften nicht selten den ganzen Tag über durch Wald und Feld … dabei hatten wir gegen eine unleidliche Hitze, gegen Mücken und anderes Geschmeiß zu kämpfen … zündeten am Ufer der Flüsse … ein Feuer an und trockneten an diesem unsere Kleider……waren wir oft genötigt, unseren Hunger durch ein mit Stroh untermischtes Brot … zu stillen.«
2. Die mancherorts vorzufindenden gesellschaftlichen Verhältnisse:
»Das Weib ist eine Sklavin im strengsten Sinne des Wortes … und lebt in der tiefsten Erniedrigung … jeder Ort, an dem sie sich niederlässt, wird durch Räucherungen gereinigt … So muss sie ruhig zusehen, wie ihr Herz … An den Meistbietenden verkauft wird.«
Kurz: Der- in meinem Fall durchaus vorhandene – das Buch-zur-Seite-legen-Impuls sollte unbedingt unterdrückt werden. Natürlich sind die Lebensverhältnisse der Lappen, Samojeden usw. dem Mitteleuropäer fremd, der Alltag der nördlichen Naturvölker von dem seinen meilenweit entfernt. Aber wer sich auf das Buch einlässt, der wird nach einer individuell verschiedenen Seitenzahl der Eingewöhnung in eine fremde Welt eintauchen, die faszinierend ist, die sich zu seiner verhält wie die Nacht zum Tag. Castrén berichtet von seinen Reisen, den darin enthaltenen Beschwerlichkeiten, von Kriegen, Feindseligkeiten und Freundschaften, von tief im Naturgötterglauben verhafteten Menschen. Er erwähnt mehrfach den bedrückend ängstlichen Glauben der bereits christianisierten Naturvölker, die sich in der Furcht vor religiösen Verfehlungen und im Glauben an ein besseres Leben nach dem Tode an die akribische Ausübung religiöser Rituale klammern. Er beschreibt in fast allen besuchten Ethnien die Alkoholsucht, den unablässigen Branntweinkonsum, mit dem in einer feindlichen, kalten Umwelt die dort Lebenden sich ihre äußerst kargen Lebensverhältnisse erträglicher trinken. Er schildert mehr oder weniger spekulativ die Charaktereigenschaften verschiedener Ethnien, vergleicht und bewertet sie im Sinne von höher oder tiefer stehend- ganz im Sinne der aus heutiger Sicht wenig wissenschaftlichen Forschung seiner Zeit.
Sprache und Hilfen für den Leser
Der Autor schreibt so, wie man damals schrieb – ein wenig abgehoben von der Alltagssprache. Doch glücklicherweise spart er sich die blumige Gefühlsduselei zeitgenössischer Schriftstellerinnen, ist durchaus zu selbstironischer Betrachtung fähig und schildert nüchtern Archaisches:
»Ein leichter Schlag mit dem Beil gegen die Stirn warf das Tier zu Boden. Hierauf stach man ihm ein Messer ins Herz und nahm die Luftröhre heraus. Um diese entstand ein gewaltiger Kampf unter den Anwesenden … Bauch aufgeschnitten. … das Tier auf den Rücken gelegt. Es bot den Anblick eines großen, ovalen Gefäßes, in dem Lunge, Leber und andere Leckerbissen in einer ansehnlichen Blutmasse umherschwammen … schnitten sich Stücke des warmen dampfenden Fleisches ab, tauchten die Stücke ins Blut, führten sie mit der anderen Hand an den Mund und begannen zu kauen… «
Selbst dort, wo er Wertungen äußert, verlässt er selten den Duktus des Wissenschaftlers jener Zeit:
»Sie leben gewöhnlich in großer Armut, die nicht selten mit Faulheit, Trunksucht und sittlicher Verderbnis verbunden ist. Der Grund … entspringt teils ihrem Unvermögen, die reichen Quellen richtig zu nutzen, welche die Natur dem Menschen zu seinem Unterhalte schuf …«
Das Buch enthält ein ausführliches Nachwort, eine Landkarte, ein umfangreiches Glossar, in dem die Bedeutung der verwendeten Begriffe für Geräte, Handlungen, Götter der Naturvölker erklärt werden. Einige frühe Fotografien von Ostjaken und Samen setzen aussehen und Lebensverhältnisse der Erwähnten ins Bild.

Quintessenz
„Man“ muss sich einlesen und einlassen, wenn man sich in die fremde Welt eisiger, karger Landschaften und der Menschen, die von solchen Landschaften hervorgebracht werden, begeben will. Und man muss gegebenenfalls einige „Verästelungen“ ins „Kleinteilige“ überlesen können. Letzteres wird dann erforderlich, wenn der Autor im ethnologischen „Furor“ sich z.B. in den Einzelheiten der Rituale schamanischer Geisterbeschwörung verliert. Auch die Abbildung einer modernen Landkarte im Buch wäre dazu hilfreich, die zahlreich im Text vorkommend Ortsbezeichnungen zuordnen zu können… Kann man mit diesen Unvollkommenheiten leben, öffnet das Buch dem mitteleuropäischen Leser eine Welt, die so fremd und dabei aus eben auch diesem Grunde so faszinierend ist, dass man aus ihr nicht mehr hinauskommt und sich festliest. Sie ist aus historischen und aus geographischen Gründen so grundlegend anders als die, in der wir leben, dass die Auseinandersetzung mit ihr unter dem Gesichtspunkt: Erweiterung des Horizontes das Beste ist, was mir als Leser ähnlicher Werke in den letzten Jahren auf den Lesetisch gekommen ist.
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Matthias Alexander Castrén

Matthias Alexander Castrén, 1813 in Finnisch-Lappland geboren, war Ethnologe und Begründer der ural-altaischen Sprachwissenschaft. 1851 wurde er zum ersten Professor des Lehrstuhls für finnische Sprache und Literatur an der Universität Helsinki ernannt. Seine Reseminnen (Reiseerinnerungen), 1853 erstmals auf Deutsch erschienen als Reisen im Norden, werden mit dieser Ausgabe im deutschen Sprachraum wieder zugänglich gemacht. Castrén starb 1852 in Helsinki.
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Werner Berens

Werner Berens ist Fliegenfischer, Jäger, Autor und Genussmensch, der den erwähnten Tätigkeiten soweit als möglich die lustvollen Momente abzugewinnen versucht, ohne aufgrund kulinarisch attraktiver Beute übermäßig in die falsche Richtung zu wachsen. Als Leser und Schreiber ist er ein Freund fein ziselierter Wortarbeit mit Identifikationssmöglichkeit und Feind von Ingenieurstexten, die sich lesen wie Beipackzettel für Kopfschmerztabletten. Altermäßig reitet er dem Sonnenuntergang am Horizont entgegen und schreibt nur noch gelegentlich Beiträge für das Magazin Fliegenfischen.
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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Porzellan und Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: Reisen in Taiga und Tundra
Autor: Matthias Alexander Castrén
Herausgeber: Klaus-Jürgen Liedtke
Übersetzung: Henrik Helms
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Verlagslink: https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/reisen-in-taiga-und-tundra.html?lid=2
ISBN: 978-3751806299
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