Lebensraum Weinberg: Wein ist Wirtschaftsgut, Genußmittel und noch viel mehr

von Wolfgang Abel

Für manche ist der Weinberg in erster Linie eine Wirtschaftsfläche, die es zu optimieren gilt. Um die fünf Euro kostet die Minute Maschinenlese wenn ein Lohnunternehmer mit dem Traubenvollernter anrückt. Also rechnet es sich, wenn die Rebzeilen lang und stramm stehen wie eine Ehrenformation in Nordkorea. In zwei, drei Stunden erledigt ein Vollernter wofür eine Gruppe Erntehelfer einen ganzen Tag buckeln muß. Außerdem droht bei Maschinenlese weder Mindestlohndynamik noch interkultureller Zoff zwischen polnischem Vorarbeiter und rumänischer Arbeitskolonne.

Ein Vollernter erwartet auch kein warmes Mittagessen, seine Schicht beginnt bei Dunkelheit oder im Morgengrauen, das sorgt für kühles Lesegut, während Erntehelfer noch ihre müden Knochen vom Vortag sortieren. Herbstkampagne hieß die Hochzeit einst, als in vier Wochen der Lohn eines ganzen Arbeitsjahres eingebracht wurde. Heute wird die Herbstkampagne im klimatisierten Fahrerhaus gesteuert und der lange Vespertisch im Weinberg taugt zur Nostalgie unter Hobbywinzern. Wo nach Maschinenminuten abgerechnet wird, gibt es kein Vesperbrett.

Vollernter lernen dazu. Noch vor zehn Jahren wurde der „halbe Weinberg“ in den großen Bottich gekippt. Bruttoertrag, inklusive Vogelnestern, Blattwerk, unreifen oder verfaulten Trauben. Mittlerweile ist die Maschinenlese in Durchschnittslagen Standard. Die Mechanik der Ernteautomaten läßt sich immer besser an Lesegut und Reifegrad anpassen. Nachgeschaltete Sortiereinheiten mit hoch auflösender Optik und KI werden auch bei maschineller Lese bald Ergebnisse liefern, die immer näher an eine Selektion per Hand heranreichen. Manche Kamera sieht mehr als das müde Auge eines unmotivierten, schlecht bezahlten Helfers.

„Niemals wird ein Vollernter in meine Reben kommen,“ schwören die vom Team Lebensraum Weinberg. Konsequente Qualitätswinzer, Traditionalisten und mutige Quereinsteiger gehören dazu. All jene eben, die einen Weinberg nicht als Wirtschaftsfläche verstehen, sondern als Lebensaufgabe, auch zur Seinsverstärkung. Dazu gehören Winzer, die am Sonntagmorgen niedertourig mit heruntergelassener Scheibe durch ihr Rebland gondeln, da und dort anhalten, aussteigen und ihre geliebten Lagen mit Respekt und guten Wünschen düngen. Im Demeter-Landbau werden im Herbst mit Kuhmist gefüllte Hörner vergraben, angeblich um kosmische Kräfte zu aktivieren. Im Weinbau hat eine Schleichfahrt durch die Reben auch etwas kosmisches. Auf Sozialarbeiterdeutsch gesagt entsteht ein Resonanzraum.

Intensive Resonanz – in Form von Schwielen an den Händen – erfahren jene Idealisten, die letzte verbliebene Steil- und Kleinstlagen bis heute in Handarbeit bewirtschaften und den reduzierten Ertrag als puristischen Garagenwein ausbauen. Im besten Fall werden solche Lebensraum-Weine zu einem einzigartigen Genußmittel*. Dank Mikroklima, Terroir und einer Haltung, die zwischen Hingabe und Selbstausbeutung pendelt. Allerdings gibt es immer mehr Garagenweine, die wie Kunstobjekte kuratiert und kalkuliert werden. Hauptsache schräg und teuer. Im Wein stecken nicht nur Wahrheit, Stories und Sulfite, Weinbau spiegelt den sozialen Wandel. Wenn ich eine Szene mit leeren Bottichen vor Rebbergen voll reifer Tauben sehe, muß ich an mühselig geschaffenes Kulturland denken, an Beruf und Berufung, an den enormen bis brutalen Strukturwandel, dem der gesamte Weinmarkt derzeit ausgesetzt ist.

Für den Weinfreund ist es Pflicht und Bereicherung, seinen persönlichen Lebensraum Weinberg stetig zu erweitern. Man betrachte führende Winzer und ihre Verfolger. Sehe in ihre Augen, auf ihre Hände und Schuhe. Besuche vor allem ihre Probierstuben; sofern solche überhaupt vorhanden, ernsthaft betrieben und behaglich temperiert sind**. Das uralte Prinzip der teilnehmenden Beobachtung sagt mehr als jedes Rückenetikett. Und noch etwas zum Kosmos Wein: Vor einem Regal mit 199 Weinen aus 99 Anbaugebieten kann ich niemandem in die Augen sehen. Geschweige denn mit Überzeugungstätern trinken, reden oder schweigen.

Abb.: Bereit zur Lese – am Badenweiler Römerberg; Bildquelle: Wolfgang Abel

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* In diesem Sinne baut der gelernte Landwirt, Schauspieler und spät berufene Winzer Michael Schmitter seine Weine an und aus. Handgelesene Burgunder, in herausragender Kleinlage am Kreuzenbuck oberhalb von Ihringen kultiviert. „Trockene, mineralische Weine mit langem Hefelager und langer Reifezeit“, vinumetcircensis.de

** Eine so würdige wie vitale Probierstube erweitert den Lebensraum des Weingutes Hermann Dörflinger in Müllheim.

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Wolfgang Abel

Vincent Klink: Wolfgang Abel ist ein wirklich sturer Hund vom Rande des Schwarzwalds. Er schreibt für südbadische Zeitungen, lebt in Badenweiler und nervt mit seinen Berichten die häufig vehement sich selbst lobende badische Gastronomie. Seine Texte führten schon zu Prozessen, die er als gründlicher Rechercheur und der Wahrheit verpflichtet immer gewann.

In seinem Oase Verlag (www.oaseverlag.de) erschienen die intelligentesten Reiseführer, die ich kenne. Wer in Süddeutschland, Ligurien, im französischen Jura, im Elsass, auf Lanzarote, in Portugal oder sonstwo ohne diese Bücher unterwegs ist, gehört wegen sträflicher Ignoranz verprügelt.
Ehrlich!

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