Dichter, Naturkundler, Welterforscher: Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage

Buchvorstellung

Im September 2014 veröffentlichte Michael E.W. Neÿ auf dem KRAUTJUNKER den interessanten Blogbeitrag Aufbruch in die neue Welt – mit Humboldt, Chamisso und Forster auf großer Fahrt. Insbesondere seine Vorstellung des Buches Dichter, Naturkundler, Welterforscher: Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage ließ mich nicht mehr los, denn wie wundersam ist es, dass ein Abkömmling alten französischen Adels in Preußen zu einem der meistgelesenen Lyriker und wichtigsten Naturforscher seiner Zeit wurde?

Adelbert von Chamisso wurde 1781 in der Champagne als Louis Charles Adélaïde de Chamissot de Boncourt auf Schloss Boncourt geboren. Die Wirren der französischen Revolution verschlugen seine Familie ab dem Jahr 1790 über Belgien und die Niederlande nach Deutschland. Das mittelalterliche Schloss wurde nach der Flucht der Familie von den ortsansässigen Bauern bis auf die Grundmauern abgetragen. Eine Tragödie! Heutzutage ist ein Haus für die Mehrheit nur noch ein hochpreisiger Gebrauchsgegenstand wie ein Auto oder womöglich noch eine Kapitalanlage, weil wir in einer hedonistischen Zeit leben. Über viele Jahrhunderte jedoch konnte man einen Menschen von seinem Haus ebensowenig voneinander trennen, wie eine Schnecke von ihrem Gehäuse. Der Mensch erlebte sich als Teil einer Gemeinschaft, zu der nicht nur die Lebenden, sondern auch seine toten Vorfahren zählten. Familie und Haus bildeten eine untrennbare Einheit. Haus und Hof zu verlassen, bedeutete nicht nur Obdachlosigkeit, sondern auch Entwurzelung und oft Schande.

Nach schwierigen Jahren wurde die vertriebene Familie aus uraltem lothringischem Adel von König Friedrich II. persönlich in Preußen willkommen geheißen. Zuerst diente der Junge als Page am preußischen Königshofe. Mit siebzehn Jahren trat er seinen Militärdienst in der Armee an. Das Kasernenleben mit seinem stumpfen Drill ödete ihn an, so dass er sich in Literatur und Philosophie versenkte und Teil der intellektuellen Salons des Berlins der Romantik von 1800 wurde. Hier fand der entwurzelte Grafensohn seine geistige Heimat und begann in der Fremdsprache Deutsch zu dichten.

Nach dem Ende seines Militärdienstes kehrte er für eine Weile nach Frankreich zurück, wo er wieder in Künstlerzirkeln und u.a. mit dem Literaturkritiker August Wilhelm Schlegel und Madame de Staël verkehrte. Diese bescheinigte ihm, er sei »ein Mensch mit Herzenskraft und anmutigen Manieren, traditionsbewußt und zeitgemäß, zugleich ungesellig und weltscheu; ein Mann von Stand und Bildung« – kurzum »einer der Gegensätzliches in sich vereinigt, und das in Perfektion«.
Er sah sich so: »Ich bin Franzose in Deutschland und Deutscher in Frankreich, Katholik bei den Protestanten, Protestant bei den Katholiken, Philosoph bei den Gläubigen, Weltmann bei den Gelehrten und Schulmeister bei der feinen Gesellschaft; Jakobiner bei den Aristokraten und bei den Demokraten ein Adeliger – ein Mann des ancien regime«.

Mit Madame de Staël Mit reiste er in die Schweiz und begeisterte sich für Pflanzenkunde. Zu jener Zeit war dies bis in die höchsten Kreise gesellschaftsfähig. Bekanntlich beschäftigte sich auch Johann Wolfgang von Goethe lange mit seinen Theorien zur Urpflanze. Zurückgekehrt in Berlin begann v. Chamisso an der Universität mit botanischen Studien. Mit der 1814 veröffentlichten phantastischen Erzählung Peter Schlemihls wundersame Geschichte wurde er in der europäischen Welt berühmt.

Wie die Titelfigur seiner Erzählung bot sich dem Mann mit der Doppelbegabungen von 1815-1818 die Möglichkeit, als Naturkundler an einer Forschungsexpedition in den Pazifik und die Arktis teilzunehmen. Die dreijährige Weltumseglung mit der unter russischer Flagge segelnden Zweimasterbrig Rurik, die der deutschbaltische Offizier Otto von Kotzebue kommandierte, wurde das Abenteuer seines Lebens. Der Vater des Kapitäns ist der konservative Bestsellerautor und Erfolgsdramatiker August von Kotzebue, welcher 1819 dem politischen Attentat des Burschenschafters Carl Ludwig Sand zum Opfer fiel, was seltsamerweise im Buch nicht erwähnt wird, obwohl es große Bedeutung hatte.

Die Rurik segelte zunächst von Sankt Petersburg nach Kopenhagen. Hier ging v. Chamisso am 9. August 1815 als 34jähriger an Bord und war damit der Älteste der Besatzung. Der Kapitän war nur 27 Jahre alt und der Bordarzt und die beiden Ersten Offiziere zählten nur 22 Lenze. Ihre Expedition führte sie über den Atlantik nach Brasilien, um das Kap Horn nach Chile und von dort in den Pazifik. Hier besuchten sie die Osterinsel und die Marshallinseln, segelten bis in die Beringstraße zwischen Kamtschatka und Alaska. Anschließend ging es wieder nach Süden und von Kalifornien nach Hawaii zu den Atollen der Ratak-Kette und schlussendlich über die Philippinen und die Südspitze von Afrika zurück nach Sankt Petersburg, welches sie am 3. August 1818 erreichten.

Während dieser Reise war 1816 das Jahr ohne Sommer, das seine Ursache in einem gigantischen Vulkanausbruch hatte. Literaturkenner wissen, dass in jenem kalten und verregneten Sommer der Roman Frankenstein entstand, weil die Gesellschaft um Lord Byron sich bei dem Dreckswetter damit vergnügte, Schauergeschichten zu erfinden.

Auf der Expedition untersuchte v. Chamisso Naturphänomene, machte zoologische Entdeckungen, entwickelte Theorien zu den Meeresströmungen und der Entstehung von Korallenriffen. Charles Darwin gehörte später zu seinen Bewunderern. Weiterhin untersuchte er die Gesellschaften der seinerzeit sogenannten wilden Völker mit ihren Sprachen und Traditionen. Er kritisierte den Raubbau an der Natur sowie die Unterwerfung und Ausbeutung der Völker, die von den Europäern entdeckt wurden. Bei der Lektüre seiner Schilderungen untergegangener Welten bleibt dem Leser oft der Mund offen. Insbesondere das ursprünglich Hawaii mit seiner aphrodisischen Kultur der Promiskuität und wunderschönen Natur, muss für die jungen Männern ein Paradies gewesen sein. Hingegen führte das jahrelange Zusammenleben auf engstem Raum und bei niedrigem Komfort in einem kleinen Segelschiff regelmäßig zu Frustrationen und Konflikten. Der Forscher verstand die seemännischen Verhaltenscodes nicht, eckte deshalb bei Kapitän und Mannschaft an. Auch machte ihm die Seekrankheit während der gesamten Weltumseglung schwer zu schaffen.

Die von ihm gesammelten und in Paketen gesammelten Pflanzen wurden teils von den Matrosen als Kopfkissen verwendet, teils auch ohne Meldung einfach über Bord geschmissen. In Alaska erblickten die Reisenden an einem abgerutschten Uferhang blankes Eis unter Erde Gras und Moos: Dies war die Entdeckung des Permafrostbodens. Mammut-Stoßzähne, die v. Chamisso fand und sorgsam aufbewahrte, wurden von den russischen Matrosen im Lagerfeuer verheizt.

Nach seiner Rückkehr veröffentlichte v. Chamisso neben vielen Abhandlungen, u.a. seine Reise um die Welt in den Jahren 1815-1818. Er nutzte dieses Buch, welches in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben den Werken von Alexander von Humboldt zur gefragtesten Reiseliteratur galt, auch als unfaire Abrechnung mit dem Kapitän, dem er sich an Bord unterwerfen musste. Dass v. Chamisso ein Mitglied es alten Schwertadels, während v. Kotzebue nur dem neuen Briefadel angehörte, mag eskalierend gewirkt haben. Ein Jahr nach seiner Rückkehr heiratete er die Ziehtochter seines Freundes Julius Eduard Hitzig, Antonie Franziska Piaste (* 1800; † 1837). Aus der Ehe gingen sieben Kinder hervor, wobei er noch Zeit fand, ein uneheliches zu zeugen. Der passionierte Pfeiferaucher starb ein Jahr nach dem Tod seiner Frau am 21. August 1838 im Alter von 57 Jahren in Berlin an Lungenkrebs.
Die Stadt Berlin errichtete ihm nach Goethe und Schiller als drittem Schriftstelle ein Denkmal, denn auch in seinen letzten Lebensjahren seines Lebens war Chamisso als Dichter wieder sehr erfolgreich.

Auf den letzten Seiten hat es mich amüsant zu lesen, wie Matthias Glaubrecht bei v. Chamisso die Begrenzungen des Denkens seiner Zeit darstellt, während er in Gendersprache schreibt und vor der angeblichen Klimakatastrophe warnt, was beides ebenso die Begrenzungen seines Denkens in unserer Zeit illustriert.

Das knapp 700 Seiten dicke Buch, ist das Ergebnis jahrelanger sorgfältiger Recherche. Es wurde mit dem Sigmund Freud-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet. Der anspruchsvolle Wälzer lässt sich flüssig lesen und man wünscht sich, dass ihn auch Freunde lesen, denn Dichter, Naturkundler, Welterforscher: Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage bietet Stoff für lange Gespräche.

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 Matthias Glaubrecht

Der Evolutionsbiologe, Biosystematiker und Wissenschaftshistoriker Matthias Glaubrecht, Jahrgang 1962, ist Professor für Biodiversität der Tiere an der Universität Hamburg und wissenschaftlicher Leiter des geplanten neuen Hamburger Naturkundemuseums (Evolutioneum) am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB). Er war Gründungsdirektor des ehemaligen Centrums für Naturkunde der Universität Hamburg und Leiter der Abteilung Forschung am Museum für Naturkunde Berlin.


Glaubrecht ist Autor mehrerer Bücher, darunter eine Biographie Charles Darwins und Am Ende des Archipels – Alfred Russel Wallace. Zuletzt erschienen von ihm der Spiegel-Bestseller Das Ende der Evolution – Der Mensch und die Vernichtung der Arten und Die Rache des Pangolin. Wild gewordene Pandemien und der Schutz der Artenvielfalt.

https://hamburg.leibniz-lib.de/ueberuns/mitarbeiter/glaubrecht-biodiversitaet.html

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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Tassen. Bestellinformationen findet Ihr hier: https://krautjunker.com/2024/12/16/krautjunker-tassen/

Titel: Dichter, Naturkundler, Welterforscher: Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage

Verlag: Verlag Galiani Berlin

Verlagslink: https://www.galiani.de/buch/matthias-glaubrecht-dichter-naturkundler-welterforscher-adelbert-von-chamisso-und-die-suche-nach-der-nordostpassage-9783869712246

ISBN: 978-3869712246


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