Zu Gast bei Balzac – Dichter und Genießer

Buchvorstellung

»Auch wenn Honoré de Balzac nur 51 Jahre alt geworden ist, überragen doch seine Persönlichkeit und sein unvergleicheliches Werk sein Jahrhundert, beschienen von „übernatürlichem Licht“, wie (* 1885; † 1870) befand. Allein die Zahlen – 84 Titel mit etwa 3000 Romanfiguren – lassen erahnen, daß die Entstehung des Werkes Schwerstarbeit war, die mit einer Vielzahl enttäuschter Ambitionen einherging und den Schriftsteller Hoffnung, Gesundheit und schließlich das Leben gekostet hat.
Die Faszination, die von diesem Koloß des Romans, diesem „Galeerensträfling der Literatur ausgeht, der laut Baudelaire der „merkwürdigste, drolligste, interessanteste und eitelste der Charaktere der Menschlichen Komödie war“ lässt nicht nach.«

Abb.: Honoré de Balzac

Laut André Maurois, eigentlich Émile Salomon Wilhelm Herzog (* 1885; † 1967), wurde keinem Schriftsteller bis auf Shakespeare solch ein Kult zuteil wurde und keiner verdiente ihn auch so sehr wie er, weil er eine eigene Welt ist. So reicht ein Leben kaum aus, alle Aspekte dieser Künstlerpersönlichkeit zu ergründen.

Abb.: Der junge Honoré de Balzac, gezeichnet von Achille Devéria (* 1800; † 1857)

Balzac war – wie die genussfreudigen Gioacchino Rossini (1792; †1868) und Alexandre Dumas der Ältere (1802; †1870) sowie sein Freund Théophile Gautier (* 1811; † 1872), – mit einem vitalen Appetit gesegnet. Die gute Küche zählte zu seinen höchsten Freuden, die er nicht nur mit Messer und Gabel, sondern auch mit der Feder genüsslich zelebrierte. Kein Wunder also, dass sich Zu Gast bei Balzac ganz dieser kulinarischen Leidenschaft widmet. Das erste Kapitel des Buches trägt somit den schönen Titel Das glückliche Miteinander von Sprache und Speisen.


So schilderte er in der französischen Literatur al der Erste in seinen Romanen nicht nur minutiös die Speisen, sondern bereicherte seine Prosa auch mit ihren Farben, Düften und Geschmacksnoten.

Abb.: Blick ins Buch; Bildquelle: KRAUTJUNKER

In Balzacs Welt ist das Mahl weit mehr als bloße Nahrungsaufnahme oder dekoratives Beiwerk. sondern tief verwoben in dem dramatischen Gefüge des Romans. Wo bei anderen Autoren die Figuren bloß reden, dinieren sie bei Balzac – und mit jedem Bissen offenbaren sie ein Stück ihrer Seelen.
Nicht nur die Gespräche, auch die Gerichte erzählen, in welchem Milieu man sich befindet. In Die Bauern wird schlichter gegessen und gesprochen als in Die Kleinbürger. Dort speist man bemüht bürgerlich in der guten Stube als wäre kulinarischer Ehrgeiz bereits sozialer Aufstieg. Ganz anders im Bankhaus Nucingen: Dort inszeniert Baronin Nucingen jeden Sonntag mit solcher Grandeur ein Dîner für die „gute Gesellschaft“ dass es für den Rest der Woche im Ort für Gesprächsstoff sorgt.

Abb.: Blick ins Buch; Bildquelle: KRAUTJUNKER

Die Gastronomie dient Balzac nicht bloß als Gewürz in der Handlung, sondern Mittel, seinem Publikum die vielgestaltigen Regionen Frankreichs näherzubringen. Dabei wusste er auch – eine Rarität unter Männern seines Standes und seiner Zeit – wie man gut kocht.
Die Bretagne wirkt in Béatrix fast mittelalterlich: Es wird an alten Tafeln gespeist, bedeckt mit hundertjährigem Leinen, die sich unter „homerischen Gerichten“ biegen.
Ganz anders die Touraine. In Katharina von Medici gerät der Dichter ins Schwärmen, wenn er seine Heimatprovinz beschreibt, „der man nie genug Bewunderung zollen kann. Dufterfüllt wie Italien, überblüht wie die Ufer des Guadalquivir und zudem schön durch ihre eigenartigen Züge, ist sie ganz und gar Französin und immer Französin gewesen.“

Am Esstisch werden Allianzen geschmiedet, Geständnisse gemacht und blüht die Liebe auf. Zwischen Suppenterrine und Dessert entfaltet sich die menschliche Komödie in all ihren derben und edlen Nuancen. Die Köchin ist oft eine Schlüsselgestalt. Die Regisseurin des häuslichen Theaters, die Vertraute des Protagonisten. Wo sie kocht, brodelt nicht nur die Suppe, sondern oft auch die Intrige.

Abb.: Blick ins Buch; Bildquelle: KRAUTJUNKER

„In Paris [sind] die Tafelfreuden die Nebenbuhler der Kurtisanen,“ schrieb der Meister. Hier entstanden in mit dem Véry, dem Café Anglais und dem Rocher de Cancale die ersten renommierten Restaurants. Große Küchenchefs wie Adolphe Duglére (* 1805; † 1884), Prosper Montagné (* 1865; † 1948) und Marie-Antoine Carême (* 1783; † 1833) prägten das Goldene Zeitalter der Gastronomie. Adolphe Dugléré, Jean Anthelme Brillat-Savarin (* 1755; † 1826) und König Louis XVIII (* 1755; † 1824) höchstselbst erfanden die gastronomische Kritik als literarisches Genre.

In diesem Frankreich der Restaurationszeit und der aufstrebenden Bourgeoisie schwelgt die neue Oberschicht, hervorgegangen aus Revolution und Kaiserreich, in opulenten Tafelfreuden. Die Kunst des Speisens wird zur Hochform erhoben, die Küche zur Bühne und das Mahl zur täglich neu inszenierten Prestigegeste.
Doch diese gastronomische Glorie bleibt ein Privileg der Besitzenden. Während in den Pariser Salons Austern auf Silberplatten serviert werden, herrscht in so mancher abgelegenen Provinz noch immer die blanke Not. Dort stirbt man – fern von jeder Trüffelsoße – nicht selten unbeachtet den Hungertod.

Abb.: Blick ins Buch; Bildquelle: KRAUTJUNKER

Für viele Schriftsteller der Zeit ist dieser Kontrast kaum eine Zeile wert. Nicht so für Honoré de Balzac. Er misst dem Hunger – als existenzieller, gesellschaftlicher und moralischer Kraft – eine ebenso große Bedeutung bei wie den Herzensangelegenheiten seiner Helden. In seinem Werk bekommt das Fehlen von Brot mitunter mehr Gewicht als der Verlust der Liebe.
Die Naturalisten werden diesen Gedanken aufnehmen und weiterführen – allen voran Émile Zola (1840; †1902), dessen Figuren oft zwischen Herd und Hölle pendeln und Gustave Flaubert (1821; †1880), der den bürgerlichen Überdruss ebenso messerscharf sezierte wie den leeren Magen.

Man darf es als eine jener charmanten Widersprüchlichkeiten betrachten, wie sie nur große Geister hervorzubringen vermögen: Während Honoré de Balzac in seinen Romanen die Freuden der Tafel zelebrierte wie ein Priester die Liturgie, unterwarf er sich beim Schreiben in seiner Mönchskutte asketischer Selbstkasteiung.

Abb.: Kaffeejunkie Balzac in seiner Mönchskutte; Bildquelle: KI von KRAUTJUNKER

Der Tagesplan des Meisters sah eine strenge Diät vor: schwarzer Kaffee in schwindelerregenden Dosen, rohe Eier auf trockenen Brotscheiben, dazu Sardinen, in Butter zerdrückt. Mit dieser schmalen Kost und viel Koffein jagte er wie ein hungriger Traumjäger durch seine Phantasie.
Doch wehe, wenn das Manuskript vollendet war! Dann forderte das Leben seine Rückzahlung mit Zinsen. So lässt er sich von seinem Verleger in das Restaurant Véry einladen. In diesem Restaurant – in welchem der Maler und Bildhauer Alexandre-Évariste Fragonard (* 1780; † 1850) einst über seinem Speiseeis verstarb und welches als „der König unter den Restaurants und das Restaurant der Könige“ galt, ließ er sich von seinem Verleger Werdet einladen. Bei diesem Geschäftsessen verschlang er „erbarmungslos“ einhundert Ostender Austern, zwölf Koteletts vom Salzmarsch-Lamm, eine Ente mit weißen Rübchen, ein Paar gebratener junger Rebhühner und eine Seezunge auf normannische Art, „ohne die Vorspeisen und kleinen Phantasien wie Süßspeisen, Früchte und Birnen mitzuzählen. Das Ganze … natürlich von den feinsten Weinen aus den renommiertesten Lagen, von Kaffee und Likör abgerundet!“

Jules Champfleury (* 1821; † 1889) nennt den beleibten Sanguiniker „einen vergnügten Eber“ und die legendären Lästermäuler Edmond (* 1822; † 1896) und Jules de Goncourt (* 1830; † 1870) notierten süffisant, Balzac würde sich „auf schreckliche Art, wie ein Schwein“ den Bauch vollschlagen.
Selbst die Cometesse Ewelina Hańska (* 1801; † 1882), welche diesen Vielfraß mit den „vollen Wangen von lebhaftem Rot“, wie ihn sein Freund Théophile Gautier beschrieb, nach achtzehn Jahren des Wartens sechs Monate vor seinem Tode heiratete, während dieser ihre Metamorphose von der Sylphide zur Matrone zu begleitete, war über seine hemmungslosen Tischgewohnheiten entrüstet.

Abb.: Blick ins Buch; Bildquelle: KRAUTJUNKER

Anschließend zog er sich wieder in seine Arbeitssucht zurück, verfasste seine Werke im Stehen, nur bekleidet mit einer Mönchskutte aus feinem Kaschmir.

Diesen ständigen Wechsel zwischen ausschweifenden Gelagen und Enthaltsamkeit überstand Balzac nur dank seines exzessiven Kaffeekonsums. Das Aufputschgetränk nahm im Leben des Schriftstellers eine Sonderstellung ein – seine Kanne stets in Griffweite. Sich seiner Abhängigkeit bewusst, widmete er dem Kaffee sogar eine kleine Schrift (Traité des excitants modernes), in der er ihn, neben Alkohol, Tabak und Zucker, zu den anregenden Lastern seiner Epoche zählte.

Abb.: Honoré de Balzac auf seinem Sterbebett, gemalt von Eugène Giraud (* 1806; † 1881)

Den Abschluss dieser Literaturgeschichte mit Fokus auf die Kulinarik des großen Künstlers folgen auf den großformatigen Seiten S. 130 bis S. 183 nachkochbare Rezepte aus Balzacs Pariser Universum samt Weinempfehlungen.

Abb.: Blick ins Buch; Bildquelle: KRAUTJUNKER

Zu Gast bei Balzac lädt den Leser ein an diesem Fest der Sinne teilzunehmen. Der Stil des Gonzague Saint Bris ist angenehm, lebhaft und inspirirend, da er die Autorenbiografie mit seinem literarischem Werk, kulinarischen Details und schmackhaften Anekdoten verknüpft.

Abb.: Blick ins Buch; Bildquelle: KRAUTJUNKER

Bereichert wird der Titel durch schöne Fotos und zeitgenössische Krarikaturen, wobei Layout und Druckqualität des 1999 erschienen Buches nicht heutigen Standards entspricht. Zu Gast bei Balzac ist weniger eine Literaturwissenschaft als eine kulinarisch-literarische Bildungsreise in die Vergangenheit mit großem Genusscharakter. Im Idealfall lädt es Dich dazu ein, bessere Bücher zu lesen und besseres Essen zu genießen.

Abb.: Blick ins Buch; Bildquelle: KRAUTJUNKER

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Gonzague Saint Bris

Gonzague Saint Bris (*1948; †2017), Sohn eines Diplomaten, war ein vielseitiger französischer Intellektueller: Journalist, Literaturkritiker, Schriftsteller, Kulturmanager und Historiker. Als Nachkomme des Verlegers von Honoré de Balzac entstammte er wie der berühmte Dichter der Region Touraine und wuchs im Schloss Clos Lucé auf.
Saint Bris galt als Begründer der Bewegung der Neuen Romantik und verfasste zahlreiche Romane, Essays und Sachbücher. Unter seinen Veröffentlichungen finden sich unter anderem eine Biografie von Balzacs Geliebter Madame Hanska sowie ein Werk über den romantischen Dichter Alfred de Vigny.
Er verstarb im Alter von 69 Jahren bei einem Autounfall in der Normandie.

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Anmerkungen

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Titel: Zu Gast bei Balzac – Dichter und Genießer

Autor: Gonzague Saint Bris

Rezepte: Jean Bardet

Übersetzung: Angelika Kuhk

Verlag: Wilhelm Heyne Verlag München

Ausgabe: 1. Januar 1999

ISBN: 978-3453159495


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2 Kommentare Gib deinen ab

  1. Avatar von Barbara Fohrer Barbara Fohrer sagt:

    Danke vielmals für diesen schönen Artikel! Und für die Erinnerung an gleich soviel Schönes in diesem wunderschönen Land! Ich versuche jedes Jahr bis zu 10 x genau diese Themen auf meinen Reisen und die Einmaligkeit zu beschreiben. Dann kehre ich heim und versuche in Küche und auf dem Sofa, in diese Welt kulinarisch und literarisch einzutauchen – oft mit Freunden und Gleichgesinnten.

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    1. Avatar von KRAUTJUNKER KRAUTJUNKER sagt:

      Vielen Dank für Deinen freundlichen Kommentar. Es hat mir viel Freude bereitet, diesen Blogbeitrag zu schreiben. Gerade die anspruchsvolleren Themen erhalten oft weniger Aufmerksamkeit bei den Klickzahlen. Zum Glück ist KRAUTJUNKER ein nichtkommerzielles Projekt, daher schreibe ich, worauf ich Lust habe – ich bin wirtschaftlich nicht darauf angewiesen, mich nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner oder Trends zu richten.

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