Die Köche des Kreml: Wie Russland mit Essen Politik macht

Buchvorstellung von Aleksey Morozov

Mitten in der Breschnew-Ära fand in Moskau eine große linguistische Konferenz statt, und die Plenarsitzung wurde im großen Saal des Palastes der Sowjets im Kreml abgehalten. Das Mittagessen wurde in der Kantine des Palastes eingenommen, die normalerweise den Parteifunktionären vorbehalten war. Als die Teilnehmer die Kantine betraten, herrschte eine bedrückende Stille. Noch nie hatten sie so viel und so gutes Essen zu so niedrigen Preisen gesehen. Von Kaviar war keine Rede, selbst die Namen mancher Gerichte waren ihnen unbekannt – und sie waren keine „einfachen Leute“, sondern Professoren und Dozenten.
Und plötzlich ertönte in dieser unruhigen Stille die Stimme eines Professors: „Na ja, eng ist der Kreis dieser Revolutionäre…“
Alle brachen in Gelächter aus, jeder wusste, wie das berühmte Zitat von Lenin über die Dekabristen (also eine Geheimorganisation von Aristokraten, die den Zaren stürzen wollten) weiterging: „… schrecklich weit weg vom Volk sind sie“.

Diese wahre Anekdote stammt nicht aus dem Buch Die Köche des Kreml von Witold Szabłowski, welches ich hier vorstelle. Ich habe sie von meiner Professorin Dr. Marina Kulinitsch gehört. Sie fasst gut zusammen, worum es in diesem Buch geht: was und wie im Kreml gegessen wurde, welchen Kontrast es zum Leben und Essen mancher Menschen in Russland und der Sowjetunion darstellte (wenn überhaupt), und auch um die Männer und Frauen, die damit zu tun hatten, einschließlich einer Person, die das Essen in dieser Kantine kochte.

Was für Nahrung haben die Herrscher Russlands, Nicolaus II, Lenin, Stalin, Brejnew, Jelzin und Putin zu sich genommen? War es nur Treibstoff für den Körper oder etwas mehr? Was aßen die Kosmonauten, und wem gebührt die zweifelhafte Ehre, als erster Mensch im All gepinkelt zu haben? Wer das wissen will, soll Die Köche des Kremls lesen. Doch das Land besteht nicht nur aus Prominenten, und so schreibt Szabłowski auch über die Menschen, die mit den Entscheidungen der Herrschenden leben mussten: Wie ging es den Soldaten im Zweiten Weltkrieg und in Afghanistan? Wie überlebte man die Hungersnöte in den Städten und Dörfern?

Vom Frühstück bis Abendbrot und von Kaviar bis Tannenzapfensuppe führt Szabłowski den Leser durch die Tiefen und Höhen Russlands. Es geht um Stolz, wie bei Gagarins Flug ins All, und um Scham, wie bei Tschernobyl. Manchmal muss man lachen, etwa wenn er sich über die zuckersüße offizielle Leniniana lustig macht. Manchmal hat man Tränen in den Augen. Und immer ist das eine gar nicht so weit vom anderen entfernt: Bei Nikolaus II. dauerte es nur rund eineinhalb Jahre von der raffiniertesten Palastküche bis zum fast verwahrlosten Dasein in Jekaterinburg vor der Hinrichtung.

Der Untertitel Wie Russland mit Essen Politik macht ist ein wenig irreführend. Eine akademische Geschichte der Verbindung zwischen Lebensmittelversorgung und politische Entscheidungen in der UdSSR, dem Russischen Imperium, sowie der Russische Föderation ist es nicht. Dass ist nicht als Kritik gemeint, sondern um keine falschen Erwartungen zu verbreiten. Wer wissen will, wie genau der Holodomor durchgeführt wurde, warum es in den Perestroika-Jahren fast zu einer Hungersnot kam, oder ob Jewgenij Prigoschin „sein“ Privatheer durch ein Lebensmittelgeschäft finanziert hat, soll sich an anderen Quellen wenden.

Die Köche des Kremls ist eine Menschengeschichte. Der Autor interessiert sich nicht für Menschenmengen. Was er wissen will, ist wie es einem einzigen Mann oder eine einzige Frau ging. Und im Mittelpunkt dieses Buches stehen die Menschen, die das Essen für all die oben Genannten zubereitet haben: die Köche. Ein Großteil des Buches ist in Ich-Form geschrieben, Szabłowski lässt seine Helden frei von sich und ihrem Leben erzählen.

Und diese Ich-Erzählungen klingen wahr und menschlich. Das ist ein Verdienst der Übersetzerin. Paulina Schulz-Gruner hatte es nicht leicht. Oft handelte es sich um eine Doppelübersetzung, die Sprache der Helden wurde zunächst vom Autor aus dem Russischen ins Polnische und dann aus dem Polnischen ins Deutsche übertragen.

Natürlich gibt es immer wieder Kleinigkeiten, die auffallen. Der Duchowka-Ofen zum Beispiel ist ein ganz gewöhnlicher Backofen, und wer ein Rezept mit wilder Ziege aus der russischen Küche ausprobieren möchte, muss keine Jagd auf verwilderten Nutztieren oder den zentralasiatischen Steinbock bei BookYourHunt.com buchen. Es geht einfach um Rehwild.

Aber im Großen und Ganzen ist der Text eine ausgezeichnete Übersetzung, und zwar deshalb, weil er sich nicht wie eine Übersetzung liest. Ich hatte oft das Gefühl, direkt mit diesen Männern und Frauen zu kommunizieren, ihre Stimmen zu hören und erkennen. Vielleicht weil die Geschichten – ich meine natürlich nicht die von den Kreml-Machthabern – so bekannt sind, und fast jede Seite hat tief vergrabene Erinnerungen ans Tageslicht gebracht.

Frau Hanna, die Überlebende des Holodomor, die niemanden mit leerem Magen nach Hause gehen lässt, erinnert mich sehr an meine Großmutter und immer mehr an meine Urgroßmutter. Beide flüchteten 1932, wenn die Familienlegende nicht lügt, versteckt im Tender eines Dampflokomotive, aus dem Hungergebiet. Zum Glück war der Ururgroßvater Schmied bei der Eisenbahn und konnte das arrangieren.

Das war nicht in der Ukraine, das war in Powoljie, aber auch dort gab es Patrouillen, die die Leute nicht aus dem Hungergebiet herausließen. Und da muss ich an die Powoljie-Deutschen denken, die von dieser gezielten Hungersnot besonders betroffen waren. Stalin hielt sie immer für verdächtig und ließ sie 1941 nach Asien deportieren, ebenso wie die Krimtataren, von denen Szabłowski im vorletzten Kapitel seines Buches erzählt.

Die Geschichten aus Die Köche des Kreml sind auch in dem Sinne wahr, dass die Berichterstatter sie für die Wahrheit hielten. Ob es immer genauso passierte, oder ob die Erzähler naiv die Staats-Propaganda verschönerten und sich selbstbetrügerisch eine eigene Realität basteln, das muss der Leser für sich selbst entscheiden. Für dieses Buch ist eine gewisse Fähigkeit zum Lesen zwischen den Zeilen vorteilhaft. Zum Beispiel, um darauf aufmerksam zu werden, wie immer die anderen das Essen stahlen. Oder wie es immer die anderen Kommunisten waren, die nicht an den Kommunismus glaubten und deshalb die scheinbar guten Systeme scheitern ließen. Immer die anderen. Nicht wir.

Manchmal gelingt es dem Autor, die Mythen zu überprüfen und sie der Wahrheit gegenüberzustellen. Dass dies nicht immer gelingt, ist nicht seine Schuld. Nur wenige der vom Autor behandelten Themen wurden von seriösen Wissenschaftlern untersucht, was sich auch im Literaturverzeichnis widerspiegelt. Die Quellen sind eine Mischung aus seriöser akademischer Geschichtsschreibung und Sensationspresse. Dies führt dazu, dass der Text manchmal sensationalistisch wirkt.

Als professioneller Koch beschränkt sich Szabłonski nicht nur auf Geschichten. Er liefert auch viele Rezepte, und zwar aus der Zeit des Hungers: Blokadebrot, Brennnesselsuppe, Giersch-Salat, Tee aus Möhren und Birkenporling. Aber die meisten Rezepte entstammen der Haute Cuisine, den Menüs der Zaren und Generalsekretäre der KPSU. Ich schaue sie mir an und bin genauso verwirrt wie die Professoren und Dozenten in der Anekdote vom Beginn dieser Buchvorstellung.

Ich habe nur wenige von ihnen gekostet, und wenn, dann auf eine viel einfachere Weise als im Buch. Frühlingssalat aus dem Tschernobyl-Kapitel zum Beispiel besteht laut Szabłonski aus Orangen, Grapefruits und Erdbeeren. Der Frühlingssalat, den ich in verschiedenen Kantinen Russlands gegessen habe, würde in Deutschland als Krautsalat bezeichnet werden: geschnittener Kohl, mit etwas Karotten, Zwiebeln und Sonnenblumenöl.

Und damit komme ich zum wichtigsten Punkt meiner Kritik: Wie erwähnt führt der Autor seine Leser durch die Tiefen und Höhen Russlands. Was ich aber in diesem Buch vermisse, ist der Durchschnitt. Er lässt sich nicht so einfach als Mittelwert zwischen Siegen und Niederlagen definieren. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass – abgesehen von den Ereignissen, die in dem Buch geschildert werden – in Russland mit dem Essen alles ganz normal war. War es nicht.

Mit Ausnahme von Moskau und einigen anderen Potjomkin-Dörfern, war es selten einfach, sich zu ernähren. Wenn man sich bloß satt essen konnte, war das eine gute Zeit. Einfach alles zu kaufen, was man wollte, ohne zu suchen, ohne Karten, ohne lange Schlangen, aber mit einer ausreichenden Auswahl und auch bezahlbar – das gab es in Russland erst in den Nullerjahren. Und auch wenn dies keine persönliche Leistung Putins war, sondern eher ein Ergebnis der Marktwirtschaft und der ständig steigenden Ölpreise, so erklärt es doch, warum viele Menschen in Russland ihn für den besten Präsidenten aller Zeiten halten.

Diese kritischen Anmerkungen schmälern nicht den Wert des Buches. Die Köche des Kreml ist allen zu empfehlen, die sich für Essen und die Geschichte Russlands und der UdSSR interessieren. Das Essen ist ein gutes Symbol, um den Kontrast zwischen dem engen Kreis der sozialistischen Politiker und Bürokraten an der Spitze des Landes und den Menschen, die einfach leben wollten, anschaulich zu beschreiben. Die Geschichten der Menschen sind spannend zu verfolgen und die Rezepte der Gerichte laden zum Ausprobieren ein. Insgesamt ist das Buch eine lohnende Lektüre.

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KRAUTJUNKER-Kommentar: Die Geschichte der Sowjetunion ist ein zeitloses Beispiel dafür was passiert, wenn Machthaber an der Spitze des Staates die Menschen zu unvernünftigen Entscheidungen zwingen können, ohne selbst einen Preis für Fehlentscheidungen zahlen zu müssen.

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Pressestimmen:

Die Mechanismen russischer Herrschaft, gespiegelt am Beispiel der Küche: […] „Oral History“ im doppelten und besten Sinn.
Bernd Matthies, Tagesspiegel

Das Buch zeigt auf sowohl unterhaltsame als auch informative Weise, wie die politischen Führer des Landes durch ihre kulinarischen Vorlieben und Strategien die Weltgeschichte immer wieder beeinflusst haben […] eine faszinierende Kombination aus Geschichte, Politik und kulinarischer Entdeckungsreise.
– Sebastian Schmitt, Quotenmeter

Ein polnischer Reporter schreibt die etwas andere Kulturgeschichte der Sowjetunion. Das Ergebnis ist literatura faktu vom Feinsten.
– Marc Reichwein, Welt am Sonntag

Es ist ein an vielen Stellen erschütterndes Buch, das seine Leserinnen und Leser mitnimmt in Momente der russischen Geschichte, die selbst beim Lesen nur schwer auszuhalten sind. Es zeigt Geschichte aus einer Perspektive, die mit den Lobhudeleien für die Mächtigen nichts zu tun hat.
– Ralf Julke, Leipziger Zeitung

Witold Szablowski gibt Menschen wie der Köchin Ljuba den Raum, ihre berührenden Geschichten zu erzählen […] Diese Passagen sind die eindrucksvollsten des Buches.
– Dietrich Schröder, Märkische Oderzeitung

Instrumentalisiertes Essen, Hunger als Waffe: Ein vielfach prämierter polnischer Journalist betrachtet Russlands lange und blutige Geschichte von der Herdplatte aus.
– Johannes Lau, Buchkultur

In Die Köche des Kreml entführt uns Witold Szabłowski auf eine kulinarische Reise durch die russische Geschichte, bei der Essen nicht nur als Nahrung, sondern auch als politisches Instrument dient.
– Mediennerd

… eine lebendig geschriebene Reportage mit einzigartigen Einblicken. Szablowski erzählt unterhaltsam oder lässt erzählen, gegenwärtig und den Menschen zugewandt.
– Katharina Höhnkvalentinas-kochbuch.de

Es ist schon sehr erhellend, der Spur der Speisen zu folgen.
– Insa Wilke, WDR 3, Gutenbergs Welt

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Witold Szabłowski

Abb.: Witold Szabłowsk, 2015; Bildquelle: Wikipedia

Witold Szabłowski, geboren 1980, ist ein polnischer Journalist. Mit 24 Jahren arbeitete er als Koch in Kopenhagen und wurde mit 25 Jahren der jüngste Reporter bei einer der größten polnischen Tageszeitungen, wo er über internationale Themen schrieb. Für seine Reportagen wurde er u. a. mit dem Journalistenpreis des Europäischen Parlaments, dem Ryszard-Kapuscinski-Preis und dem englischen PEN-Preis ausgezeichnet, außerdem wurde er für den Nike-Preis nominiert, Polens renommiertesten Literaturpreis. Witold Szabłowski lebt in Warschau.

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Aleksey Morozov

Aleksei Morozov stammt aus einem kleinen sowjetischen Industriestädtchen. In den verschmutzenden Wohnblocks wuchs der Wunsch zum Eskapismus, wenn nicht zum Angeln oder der Jagd auf Wasservögel an der Wolga, dann zumindest in die Welt der Bücher. Nach einige Jahren als Dozent für Linguistik und Englisch als Zweitsprache wechselte er auf die dunkle Seite und wurde Journalist, Redakteur, Übersetzer und Digital-Marketing-Manager. Seit 2020 lebt Aleksei mit seiner Familie in Düsseldorf.

Besucht Alekseys Blog: https://sportingbookworm.wordpress.com/

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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Emaille und Porzellan. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: Die Köche des Kreml: Wie Russland mit Essen Politik macht

Autor: Witold Szabłowski

Übersetzung: Paulina Schulz-Gruner

Verlag: Katapult-Verlag GmbH

Verlagslink: https://katapult-verlag.de/programm/die-koche-des-kreml

ISBN: 978-3948923785


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