von Werner Berens
Im Land der Mitternachtssonne – Eine Reise in Schweden ist Titel des bei Die Andere Bibliothek erschienen Büchleins, von Hans Christian Anders. Die Reise des bekannten „Märchenschriftstellers“ (* 1805; † 1875) durch Schweden wird in diesem Buch in einer 2025 erschienenen neuen Auflage lebendig.
Die 219 Seiten des wertigen Hardcoverbuches sind in zahlreiche Kapitel gegliedert, die vielfach dem Ort der jeweiligen Reisestation entsprechen.
»Der große Dichter und Reisende Hans Christian Andersen führt uns vom Vänersee durch die Schärengärten … Feen verwandeln sich in Schwäne, um in den stillen Seen des Nordens zu baden, und die Porträts der Menschen werden zu Reflexionen über Leben und Tod«.Dieser Ausschnitt aus der Buchbeschreibung auf der Coverrückseite umreißt den Inhalt, eine Mischung aus Beschreibung, Erzählung und Reflexionen.
Dankenswerterweise gibt es zu jedem Kapitel am Ende des Buches ein Glossar mit Erläuterungen, in dem die historischen Zusammenhänge und die Bedeutung eines jeden Ortes der Reise erklärt werden.
Inhalt und Sprache
»Wir fliegen und singen: „Schweden, du herrliches Land, Schweden, wohin heilige Götter in der Urzeit aus den Gebirgen Asiens kamen, du Land, das noch immer von ihrem Glanz bestrahlt wird.«
»Wir gingen den Pfad entlang durch den Wald und Gebüsch. Eine Schar barhäuptiger Jungen umringte uns, jeder wollte den Fremdenführer machen. Der eine überschrie den anderen, aber keiner stimmte mit dem anderen überein.«
»Im Hause sitzt das Weib am Webstuhl, und am späten mondhellen Abend treten die gefallenen Helden gespensterhaft an das Feuer und schütteln das Wasser aus den nassen, triefenden Kleidern. In der Asche schläft der Leibeigene.«
»Bei seiner Ankunft aber verkündeten des Königs Herolde in den Straßen der Stadt: „,Nils Sture ist ein Landesverräter!’ darauf ließ des Königs Kanzler ihn durch angeworbene deutsche Söldner ergreifen. Sie setzten Nils mit Gewalt auf die elende Mähre des Schinders, schlugen ihn ins Gesicht, dass das Blut spritzte, drückten ihm eine geteerte Krone von Stroh auf den Kopf und befestigten vorn am Sattel der Mähre ein Plakat.«
»Wenn ein Kind die Blumen auf dem Felde ausreißt und uns einen großen Strauß bringt in buntem Durcheinander, so erkennen wir doch in jeder einzelnen Blume die Schönheit, die Harmonie in Farbe und Form, die unserem Auge so wohltuend ist. Unwillkürlich ordnen wir sie, und jede einzelne Schönheit fließt zusammen in ein Schönheit-Ganzes.«
Das Buch ist eine durchaus gelungene Mischung aus sich in Schwärmereien verlierenden Gedanken, Reisebeschreibung, träumerischen Reminiszenzen in die Historie, Nacherzählung von Sagen und historischen Ereignissen und Reflexionen über die Unwägbarkeiten des menschlichen Daseins. Ersteres ist oft sehr lang und blumig, das zweite eine durchaus interessante Beschreibung, die Einblicke in die Reisebedingungen- und -beschwerlichkeiten jener Zeit ermöglicht. Das Wiederaufleben der Sagen und Ereignisse der schwedischen Geschichte und die mit Erzählungen durchsetzten Beschreibungen der Lebensverhältnisse am jeweiligen Ort sind einfach spannend. Vor allem letztere nehmen den Leser mit in ein hautnahes Miterleben von Lebensumständen, die nicht aus dem Nachhinein „wiederbelebt“ werden, sondern in denen der Schriftsteller zum Zeitpunkt seiner Darstellung war. Dementsprechend ist die Sprache des Schriftstellers die der damaligen Zeit: blumig, gefühlsbetont, metaphorisch reich und überreich an Wortgirlanden.
Quintessenz
Die perfekte Zielgruppe dieses Buches sind/wären Schwedenkenner, die mit der Geografie, den Mentalitäten und der Geschichte Schwedens vertraut sind. Diejenigen, die nichts über Schweden wissen oder nichts wissen wollen, werden zumindest am Anfang Schwierigkeiten damit haben sich in die schwärmerischen Beschreibungen und Reflexionen Andersens hineinzufinden.
Die Frage: Lege ich das Buch zur Seite oder vertiefe ich mich mit Hilfe von Google Maps in die schwedische Geografie, damit ich wenigstens weiß, von welchen Orten Andersen schreibt?, begleitete mich die ersten dutzend Seiten. So wird es auch anderen gehen. Ich tat beides nicht und wurde im Verlaufe des Leseprozesses durch die Sagen- und Ereignisnacherzählungen, durch die Beschreibung der Lebensverhältnisse der Menschen vor Ort so in das Buch hineingezogen, dass es am Ende unwichtig war, wo der Trollhättan ist oder wo der Vänern liegt.
Um dahin zu kommen, muss man sich auf das Buch einlassen und die Fähigkeit des selektiven Lesens beherrschen, die immer dann erforderlich ist, wenn Andersens Wortgirlanden allzu ausführlich ins assoziativ-persönlich-träumerische diffundieren. Man kann sich dann von einem spannenden historischen Ereignis, einer Sage eines in Vitriol „konservierten“ Arbeiters oder von einer historischen Liebesgeschichte ins Buch zurückholen lassen. Das Buch ist unter dem Gesichtspunkt Lesespaß ALLES, von mehrseitigem, Überdruss förderndem Wortgeklingel bis zur hochspannenden, bildgewaltigen Erzählung, vom Weglegebedürfnis bis zum Mehr von diesen Erzählungen. Man weiß nicht, was im nächsten Kapitel kommt. Bildet die Reiseankunft den Rahmen für eine hoch interessante Geschichte oder verliert Andersen sich in sich selbst. Insofern ist das Buch nicht rund, aber für den „modernen Leser“, der sich darauf einlässt, eine spannende Erweiterung des Horizontes. Und für den, der Schweden nicht nur auf der Landkarte kennt ist es meines Ermessens unverzichtbar.
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Hans Christian Andersen

Hans Christian Andersen, geboren am 2. April 1805 in Odense auf der dänischen Insel Fünen, wuchs in bescheidensten Verhältnissen auf. Nach dem Besuch der Armenschule ging der Vierzehnjährige nach Kopenhagen, wo ihn das Theater lockte. Gefördert durch staatliche und private Zuwendungen, absolvierte er die Lateinschule in Slagelse. Seine Romane, Reisebeschreibungen und Märchen brachten ihm ein jährliches Stipendium auf Lebenszeit ein, das seine Existenz als freier Schriftsteller sicherte. Reisefreudig wie kein anderer Autor seiner Zeit, war er besonders in den Adelskreisen von Paris, Rom, Berlin, Weimar, Oldenburg und München ein gerngesehener Gast. In seinem Heimatland verbrachte er viele Wochen auf den Landsitzen seiner Freunde und Gönner. Oft war das Vorlesen seiner Märchen der Dank an seine großzügigen Gastgeber. Andersen starb am 4. August 1875 auf einem Gut bei Kopenhagen.
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Werner Berens

Werner Berens ist Fliegenfischer, Jäger, Autor und Genussmensch, der den erwähnten Tätigkeiten soweit als möglich die lustvollen Momente abzugewinnen versucht, ohne aufgrund kulinarisch attraktiver Beute übermäßig in die falsche Richtung zu wachsen. Als Leser und Schreiber ist er ein Freund fein ziselierter Wortarbeit mit Identifikationssmöglichkeit und Feind von Ingenieurstexten, die sich lesen wie Beipackzettel für Kopfschmerztabletten. Altermäßig reitet er dem Sonnenuntergang am Horizont entgegen und schreibt nur noch gelegentlich Beiträge für das Magazin Fliegenfischen.
Hier findet Ihr Werner Berens‘ Bücher auf Amazon und hier auf Facebook und hier auf dem KRAUTJUNKER!
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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Porzellan und Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: Im Land der Mitternachtssonne – Eine Reise in Schweden
Autor: Hans Christian Andersen
Übersetzung: Gerda Meichner, Fritz Meichner
Gestaltung: Manja Hellpap
Verlagslink: https://www.aufbau-verlage.de/die-andere-bibliothek/im-land-der-mitternachtssonne/978-3-8477-4042-1
ISBN: 978-3847740421
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