Der Mandschure

von Bertram Graf v. Quadt

Das Schreiben rührte mich. Denn der Freund, von dem es kam, hatte zwischen den Zeilen meiner Bücher gelesen. Das schaffen nicht viele. Unter der Oberfläche der Erlebnisse liegt meine Gefühlswelt, und er hatte hineingesehen: „Um Dich etwas abzulenken, würde ich mich freuen, wenn Du vom 3.10. -5.10.2025 hier aufschlägst, um einen Dybovsky-Hirsch zu erlegen.“

Hier, das ist ein Höft mitten in einem böhmischen Revier, weitab von Städten und ähnlichen Gemeinheiten. Ein Wohnhaus, ein Forsthaus, ein paar Nebengebäude, eine Kapelle, geweiht svatému Hubertovi, dem Heiligen Hubertus, dem Jagdpatron. Ein guter Ort zum Jagen, ein guter Ort zum Rasten, um Reden und zum Schweigen.

Und er, der mich einlud? Er ist ein Freund, ein Freund am Rande. „Ein Freund am Rande“: Das klingt womöglich eigenartig. Aber das trifft es auch. Wir waren nie engste Freunde, gute aber trotzdem immer, auch wenn es Zeiten der Entzweiung gab. Das gehört wohl dazu zum Mensch sein. Das Auseinandergehen und das einander wieder finden.

„Ein Freund am Rande“, klingt das nicht sehr distanziert? Aber die Gegenfrage muss heißen: braucht der Mensch denn nicht gerade am Rande Freunde? Am Rande, da wo der Mensch ausfranst, unvollständig wird, unvollständig ist? Braucht es nicht gerade da eine Ergänzung? Dort stand und steht er, und da ist er mir wertvoll. Sehr wertvoll.

Ich wusste vom Dybovsky-Hirsch nur wenig. Gesehen hatte ich ihn womöglich, er kommt auf den Jagden meines Freundes in einigen Treiben vor. Aber ich bezweifle, dass ich ihn da erkannt hätte. Der ursprüngliche Name dieser Sika-Unterart auf Latein ist schön: Cervus hortulorum – der Hirsch der kleinen Gärten. Warum er so heißt, weiß ich nicht, und grade passend ist das für diese größte Sika-Art auch nicht. Vielleicht hat man ihn deswegen nach seiner Stammheimat benannt, dem vollen Land zwischen Russland, der Mongolei und Nordkorea: Cervus nippon mantchuricus. Der Mandschure ist der größte seiner Art, steht am Widerrist gut zwei Hand höher als der normale Sika, kann beinah das doppelte wiegen. Ähnlich wie der Rothirsch trägt er eine starke Mähne, sein Geweih ist endenreicher. Vier Pirschen sollte ich auf ihn machen, sollte einen alten, reifen Hirsch in der Brunft schießen.

Es waren lange Pirschen in Böhmens Wäldern, die Brunft war noch schwach. Nur selten hörte ich am ersten Abend diesen eigentümlichen, langgezogenen Ruf des Dybovák, der mit einem Pfeifen beginnt, dann aufsteigt, wieder absinkt und in einem klagenden, warmen Laut endet. Ein junger Hirsch kam, stand minutenlang vor uns im Schlag und sicherte her, und so sah ich den Dybvosky-Hirsch zum ersten Mal: seine nun schon wintergraue Decke, die immer noch die weißen Punkte zeigte, die mächtige Mähne am Vorschlag, das kurze, dreieckige Haupt. Dann zog er fort, den Hang hinauf. Wir gingen weiter. Gelegentlich stand Kahlwild zwischen den Bäumen, junge Spießer dabei. Die Alten zeigten sich nicht. Tief in der Dunkelheit schon – wir hatten eine Dickung umschlagen und kamen im hohen Gras über eine Wiese wieder in den Wald – hielt mein Jager mit einem Mal an und zischte: „Divočák! Schießen!“ Ein Wildschwein stand da vor uns, irgendwo. „Sind keine zwanzig Meter!“ Ich hörte die Sau, aber ich konnte sie im Dunkel nicht sehen. Er nahm mich beim Ärmel, führte mich zwanzig Schritt weiter, richtete mich ein und flüsterte: „Prosim, da , ganz nah!“ Ich sah wieder nichts, es war zu dunkel für mich. Ich setze die Waffe ab, konnte die Enttäuschung des Pirschführers spüren. Er wollte mich zu Schuss bringen. Ich bat um Verzeihung. Dann gingen wir heimwärts. Mehrere Hirsche hatten mein Jagdführer und ich angepirscht, keiner hatte gepasst. Dennoch ging ich reicher heim, als ich losgezogen war.

Der Jagdfreund und ich leerten eine Flasche Bordeaux und gingen früh zu Bett. Ich war müde genug. Neun Kilometer hatten wir pirschend hinter uns gebracht an diesem Abend. Am nächsten Morgen saß ich vor Tagwerden an einer Wiese, dort hielt ein Hirsch sein Rudel, kreiste unaufhörlich herum, hielt dann inne, schlug sich mit Läufen und Geweih eine Kuhle in den Boden, wälzte sich darin, wurde aber augenblicklich wieder hoch und widmete sich wieder seinen Damen. Mein Jagdführer und ich zogen weiter, vorbei an dem Schlag, auf dem wir gestern den Hirsch gesehen hatten, tiefer ins Tal zu den Wiesen dort. Sie blieben leer. Aber oben im Hang war mit einem Mal wieder der Ruf eines brunftigen Dybováks zu hören. Hat dieser Ruf auch nichts mit der markerschütternden Tiefe eines Rothirschs gemein, so geht er dem Jäger dennoch durch und durch. Er kommt aus einer anderen Welt, in unseren Breiten klingt er nach Fabelwesen, Märchen und Sagen. Und nach Jagd, spannender, aufregender, anstrengender Jagd: Schrill pfeifend beginnt der Ruf, steigt dann höher und höher, bis er mit einem Mal bricht, abfällt und in einem tiefen, fast seufzenden Röhren endet.

Dort oben war ein Plateau, ein Schlag zog sich hinauf. „Hinauf?“ Ich sah meinen Jagdführer fragend an. Der wandte den Nacken zwei, drei Mal, dann schüttelte er den Kopf. Ich spürte es jetzt auch: Der Wind, obzwar nur ein schwacher Hauch, wechselte ständig die Richtung. „Warten!“, flüsterte der Mann. Dann zog er seinen Ruf aus der Tasche und antwortete dem Hirsch. Der verschweig zunächst, aber auf den dritten Ruf gab er an. Der Ton war deutlich näher als der erste, er musste oben ganz an der Kante des Plateaus stehen. Dann zog er vorüber, mehr als die Geweihspitzen waren nicht zu sehen.

Wir zogen weiter, umschlugen eine Nase und pirschten dann den Hang hinauf, durch enge Stangen und dichtes Zeug. Ein Wild sprang ab, ob Hirsch oder Tier war nicht zu sehen. Irgendwann kreuzten wir einen starken Wechsel, und dreißig Schritt oberhalb war ein kleiner Drückjagdstand. Vor uns eine kleine Blöße im Stangenholz, zwei größere Eichen darin, rechts oberhalb war eine Fichtendickung. Es dauerte einige Minuten, dann erkannte ich den Stand wieder: vor siebzehn Jahren war ich auf exakt diesem Fleck bei einer Saujagd gestanden, es war meine erste Jagd in diesem Revier. Von einem Keiler, einem Überläufer und fünf Frischlingen berichtet mein Tagebuch.

In der Dickung rumorte es, damals war es der Keiler, heute rumorte es anders: lauter, schlagender, rauflustiger. Ein Tier kam aus der Dickung, der Hirsch knapp dahinter. Ich war – so hatten es mein Pirschführer und ich abgesprochen – augenblicklich in Anschlag gegangen. Aber mein Jager gab mir nur das tschechische „Ne!“, „Nein!“. Der Hirsch war zu jung und augenblicklich wieder in der Dickung verschwunden. Wir suchten weiter, Wir suchten lang.

Viele Hirsche waren wir angegangen, viel hatte ich gesehen und erlebt zwischen Frühstück und Mittag und dann nach einer kurzen Pause bis tief in den Abend. Manche standen da, andere kamen auf den Ruf, kamen schnell, kamen nah: Einer schoss von hinten das Tal hoch und kam auf zwanzig Schritt heran, das Geweih gesenkt, die Lichter beinah ins Weiße verdreht.  Ein anderer, weiter unten im Tal an den Wiesen, stand im Gegenhang und äste, zog dann durch den Graben auf keine fünf Meter heran, äugte aus den Stauden zu uns her, so lange, bis mein Dackel es nicht mehr aushielt und seine Jagdleidenschaft herausschrie. Auch der war zu jung, mochte noch zwei oder drei Brunften erleben.

Der Tag wurde lang, sehr lang. Hirsch um Hirsch war zu jung, nicht reif, und langsam wollte es Abend werden. Auch bei meinem Pirschführer war Resignation zu bemerken: war er bisher noch mit voller Körperspannung vor mir durch den Herbstwald gegangen, waren sein Kopf und seine Schultern nun heruntergesackt. Auch ich war müde, und froh, dass ich den schweren 8mm-Stutzen, die Rabenprinzessin, gegen die leichte Kleine Sieben, eine Kipplaufbüchse in einem meiner liebsten Kaliber, der 7x57R, getauscht hatte. Sie wiegt ein gutes Kilo weniger.

Die Sonne war schon untergegangen, der Himmel voll grauer Wolken. Lang würde das Schusslicht nimmer halten, wir dachten beide ans Heimgehen, ans neue Versuchen morgen oder eben übers Jahr, das hatte mein Freund mir zugesichert: „Wenn Du ihn heuer nicht bekommst, na, dann kommst halt nächstes Jahr wieder.“

Nun gut, auch recht. Die Tage hier waren zauberschön, ich hatte viel erlebt und war schon dafür dankbar. Und dann kam ein langgezogener, aufsteigender schriller Ruf, der in weichem Alt klagend endete. Ein gutes Stück unter uns war das und der Weg dorthin krautig, verwachsen und verwuchert. Leise konnten wir da nicht vorwärtskommen, da musste das Glück helfen.

Fortuna ist ein launisches Luder, kein Stück besser als ihre Kollegin Diana. Aber diesmal hielt sie Wort. Zumindest durch das dichteste Zeig kamen wir ohne abspringendes Wild – aber halt auch ohne Anblick. Da war die Straße, da war der Heimweg. Und dann war da diese Wiese, auf der im hohen Gras, kaum sichtbar mehr, Tier und Kalb standen. Beide sicherten nicht auf uns her, sondern seitab in die Dickung. Ein schmaler Fichtenstreifen war das, und dahinter standen hohe Buchen. Der Pirschführer winkte mir mit dem Kopf, aber das wäre nicht nötig gewesen: Ich hatte den gleichen Gedanken: dorthin gehen, das letzte Restl Licht nutzen und schauen, ob dort wer stünde.

Bildquelle: Bertram Graf v. Quadt

Er stand da, eng hinter einer Buche. Nur Haupt und Vorschlag lugten heraus. Ich hatte den Stecken augenblicklich aufgerichtet und war bereit. Mein Pirschführer hockte am Boden und spekulierte. Lang. Sehr lang. Das wenige Licht, was noch da war, schwand zusehends. Dann kam endlich das tschechische „Ano!“ – „Ja!“

Ich versicherte mich rück: „Schussbar?“ – „Ich kann nicht sehen, was er auf dem Haupt hat. Aber dass er alt ist, das sehe ich genau.“ Das reichte mir. Zum Wild waren es gute hundert Schritt. Würde der Hirsch noch einen Tritt nach vorn machen, hätte ich das Leben breit frei. Der Jager rief den Hirsch an, er kam in die Gasse und stellte sich spitz von mir weg. Mochte Fortuna gnädig gewesen sein, Diana war es wohl nicht. Aber was soll ich Christenmensch mich mit heidnischen Gottheiten plagen? Ein Stoßseufzer zum Hl. Hubertus half. Ein wenig Leben wurde frei, genug für den Halt des Fadenkreuzes, genug für eine Kugel. Er fiel im Feuer.

Bildquelle: Bertram Graf v. Quadt

Er war alt, er war reif, an zehn Jahre. Er war gut. Gut für mich, und nichts anderes zählt. Ich war müde, wir hatten an diesem Tag 16 Kilometer auf der Pirch hinter uns gebracht – mein Schrittzähler hat mir das danach verraten. Ich stand vor meinem Hirsch, hatte den Hut in den Händen, den Hund an der Seite und brachte kein Wort heraus.

Der Pirschführer ging, um ein Auto zu holen, mit dem wir den Hirsch heimbringen wollten. Ich blieb sitzen, an dem Baum, neben dem mein Hirsch lag. Blieb dort und war still, in der stockfinsteren Nacht. Nur ein wenig Mondlicht, das durchs Laubdach drang, schwach und wolkenverschattet, ließ seine Enden leuchten. Mir war das Licht genug.

Bildquelle: Bertram Graf v. Quadt

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Bertram Graf v. Quadt

Man kann sich gegen schwere erbliche Belastungen nicht wirklich zur Wehr setzen. Damit war die Jagd unausweichlich. Beim Blick in die Generationen gibt es auf weite Sicht keinen männlichen Vorfahr – und nur wenige weibliche – die nicht gejagt hätten. Vater, Mutter, beide Großväter und so weiter und so fort – alles Jäger, und zum Teil hochprofilierte Jäger: der Vater meiner Mutter, Herzog Albrecht v. Bayern, hat die bedeutendste Monographie des 20. Jahrhunderts über Rehwild verfasst (Über Rehe in einem steirischen Gebirsgrevier) und darin mit viel Unsinn über diese Wildart aufgeräumt. Meine Mutter war an den Forschungen dazu intensiv beteiligt, gemeinsam mit meinem Vater hat sie die Erkenntnisse im gemeinsamen Revier im Allgäu umgesetzt. Nun will und muss aber jeder junge Mensch rebellieren. Ich habe mir dafür aber nicht das jagdliche Erbe ausgesucht, sondern die Schullaufbahn, das nie begonnene Studium, das Ergreifen anrüchiger Berufe (Journalist, pfui!) und anderes mehr. Und ich kann im Rückblick sagen: das war die richtige Entscheidung.
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Anmerkungen

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