von Vincent Klink
Sehr weit weg von daheim riecht es auf einmal schwäbisch. Es ist Ende Oktober, und in der thailändischen Stadt Ayuthaya, zwei Stunden nördlich von Bangok gelegen, herrscht eine Hitze wie im Dampfbad. Die Klamotten sind zum Auswringen naß. Mir ist von einer Zeitschrift auferlegt, hier die Straßenküchen zu erproben.

Das habe ich schon reichlich getan, jetzt bin ich unter ein Theater geraten, dessen Bühne von aufeinandergestapelten Benzinfässern gestützt wird. Ja wirklich, ein komplettes Theater auf Benzinfässern. Backstage gibt es nicht, das „Hinter der Bühne“ findet unter der Bühne statt. Ich habe eine Obstkiste ergattert, rutsche darauf herum, hocke und gucke. Klatschnaß hocken ist immer noch besser, als im Monsunregen zu stehen und womöglich von einem Moped umgefahren zu werden. Drei Meter vor mir zwitschern qualmende Mokicks wild durcheinander. Die Verkehrsdichte entspricht einer deutschen Fußgängerzone an Samstagen, nur sind hier ausschließlich Mopeds und keine Fußgänger unterwegs.

Über mir, auf Brettern, die die Welt bedeuten, ist die Hölle los. In sehr bunten traditionellen Kostümen und greller Kriegsbemalung sind die Künstler am Toben. Auf schepperndem Boden geben sie ein Ehedrama zum Besten. Von wegen buddhistischer Gleichmut und sanfter mitmenschlicher Umgang: Gerade wird der in Kabalen verstrickte Held des Stücks von einigen prächtig kostümierten Hofdamen verprügelt.

Die Schöne neben mir sitzt vor einer aufgeklappten Munitionskiste, bunte Döschen stapeln sich darin. Sie schminkt sich. Jahrhundertealte Regeln gibt es dafür, ebenso für die Kostüme und die leiernde Musik.
An nässeklebende Kleidung kann man sich gewöhnen. Ich fühle mich einigermaßen wohl, schönen Frauen zugucken und verdauen, das hat etwas Kontemplatives. Allerlei Düfte wabern unter dem Theater durch. Eine Melange von Räucherstäbchen, dann die würzige Brise, die mich an zu Hause erinnert, nur weiß ich nicht, an was genau. Olfaktorische Dominante ist aber der Geruch, der weltweit größere Menschenansammlungen etikettiert: die rauchende Fritteuse.
Mehrere Stunden war ich auf dem riesigen Markt unterwegs gewesen, hatte immer wieder haltgemacht, um kleine Portionen im Stehen zu essen, neue Aromen und Köstlichkeiten zu entdecken. Als Koch ist man ja hartgesotten und nicht empfindlich. Es gab zum Beispiel Essen, das mit verfaulten kleinen Taschenkrebsen gewürzt war – eine absolute Spezialität.
Auf einem Holzgrill kokelten auf heller Glut Scampi zwischen einem drahtenen Geflecht, ähnlich einer Fliegenklatsche. Einige Meter weiter hatte ein Koch gerade Pak Bung Faidaeng in der Mangel: Gehackte Schalotten, Chili und Knoblauch warf er in hohem Bogen ins rauchende Öl eines dreckstarrenden Woks. Danach feuerte er das tropfnasse Morning-Glory-Gemüse dazu. Qualmendes Öl und triefende Nässe vertragen sich bekanntlich gar nicht. Unser Mann am Raketenofen aber handelte in voller Absicht. Die Pfanne explodierte, der Feuerball schlug meterhoch. Wie eine mystische Fackel vereinigte sich die Lohe mit den letzten Sonnenstrahlen der vergehenden Sonne. Die lanzettartig langen Blätter wurden von der glühenden Feuersbrunst ergriffen, brannten an den spitzen Enden an, karamellisierten zu unvergleichlichem Geschmack. Das geschah alles in strömendem Regen, freilich immer wieder im Schutz von Plastikplanen oder aufgeschlitzten großen Mülltüten. Hier unter den Theaterbrettern zieht angenehmer Wind durch. Ich rutsche auf meiner Kiste herum, weil mir der Hintern dermaßen brennt, als hätte man mir einen Molotow-Cocktail ins Skrotum geschoben. Verdammte Chilis. Zunge und Rachen haben sich daran gewöhnt, aber alles, was man in sich reinstopft, kommt auch irgendwo mal wieder raus.
Ich muß aufstehen, schlage mit dem Schädel an den Bühnenboden. Als hätte sich nun die Kopfinnenhaut ganz auf die Düfte konzentriert, kommt mir wieder der heimatliche Geruch in den Sinn. Ich nehme Witterung auf. Die Augen schließend konzentriere ich mich heftig, grübele und bade mich gedanklich mitten im Wohlgeruch. Was ist es nur? Ja, ich hab`s! Es müssen Hausmacher-Würste oder so etwas Ähnliches sein. Blut, Leberwürste – ja, hier umgibt mich die Kindheitserinnerung an Opas Hausmetzgete. Das darf ja nicht wahr sein, schwäbisches Schlachtfest mitten in Thailand bei fast vierzig Grad Hitze und strömendem Regen?
Wie ein Drogenhund steuere ich die Quelle der Gewürzschwaden an. Ich arbeite mich durch das Gerümpel unter dem Theater durch, komme auf der anderen Seite heraus und bin schlagartig im grellen Scheinwerferlicht vor der Bühne. Szenenapplaus. Das Publikum besteht aus kichernden Thaifamilien, allesamt feingliedrige, zarte, schlanke Menschlein. Bei meinem Anblick denken sie wohl an eine Erscheinung. Sie wähnen womöglich, Buddha sei aus dem Nirwana zurückgekehrt. Mir ist das peinlich, ich bemüßige mich hurtigen Schritts und auf den Boden starrend, aus meiner selbstverursachten Showeinlage zu entkommen. Nichts wie weg, an den Zuschauerreihen vorbei. Dahinter, unter einer riesigen Plastikplane, lümmeln dicke Kerle in Campingstühlen. Mit herzlichen Gesten, breitem Grinsen schieben sie mir einen grotesk verbogenen Gartenstuhl entgegen. Die denken sicher, ich hätte sie ganz speziell angesteuert. Einer der dicken Kerle steht auf und verbeugt sich, als grüße er von einer Empore ein Millionenpublikum. Er gibt einige Laute von sich, die nach Entzücken klingen. Ich deute es mal so: „Nimm Platz, Buddha, du bist einer von uns. Wir haben seit Jahren auf dich gewartet und dir eine Suppe gekocht!“ In der Tat, die Runde der Chefköche lagert um einen riesigen Aluminiumtopf, der auf einem niedrigen Hockerkocher vor sich hin blubbert.
Hier bin ich nun am Quell verlorener Kindheitserinnerung. Heimatlicher Geruch, Erinnerungen an Oma und Opa, deutsche Düfte, fehlte nur noch das Sauerkraut. Mein Dolmetscher erklärt mir, diese Herren seien keine Thailänder. Das glaubte ich ihm wohl, denn solche dicken Schränke hatte ich nicht einmal im Bier-Deutschland jemals zu Gesicht bekommen.
Es sei verraten, Chinesen waren es: Nun bin ich in Völkerkunde kein Experte, aber eine Grundregel kann ich aufstellen: Angesichts gefüllter Töpfe gibt es kaum freudvollere Menschen als die Chinesen. Die feisten Herren sind in ausgelassener Laune. Quiekend wuchtet sich einer aus dem Campingsessel, greift sich eine Schöpfkelle in Kantinen-King-Size-Format, schnappt sich eine flach abgesägte Konservendose und füllt sie.

Ich glaube, die Chinesen mögen mich. Sie haben eine Riesenfreude an meinem demonstrativen Appetit und mich in ihre Runde aufgenommen. Der Topf mit Metzelsuppe ist der Mittelpunkt ihrer Welt. Wie könnten sie wissen, daß ich auch aus einem Schweinekopf-Leberwurst-Kulturkreis stamme? Sie werden gespürt haben, daß ich Koch bin und auch so aussehe, so bin ich kein Fremder mehr, gehöre zur Familie. Ich löffle. Meine Güte, herrlich! Mein thailändischer Übersetzer hält sich vor Grausen im Hintergrund. Ihm wurde auch kein Stuhl angeboten. Der schmächtige Mann aus Bangkok ängstigt sich wohl vor den kritischen Blicken. Die kommen aus dem badewannenartigen Aluminiumtopf. Einige Sauschädel dümpeln in der wallenden Brühe. Zwinkern sie mit den Augen? Als mir die Chinesen ein Sauschwänzchen reichen und ich fachmännisch die Gelenke breche, die sulzige Haut einschlürfe, bin ich wieder jung und Kind. Genau so hat bei der Hausschlachtung im Schwäbischen die Metzelsuppe geschmeckt. Die Zeit hat sich verrückt: „Öha, öha“, schreit Opa und schwingt den Bierkrug: „Diese Chinesen, das sind Leute wie wir!“ Ich proste den am Suppentopf lagernden Bäuchen zu. Mit den Blechdosen stoßen wir auf die gelungene Suppe an. Ach, was für Lustmenschen! Wer grunzt hier? Bin ich es, meine Tafelrunde oder, vor Freude, sich so fulminant präsentieren zu dürfen, die Schweinsköpfe in der Suppe?

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Vincent Klink

Vincent Klink, geboren 1949, betreibt in Stuttgart das Restaurant Wielandshöhe. In der verbleibenden Zeit musiziert er, widmet sich Holzschnitten, malt und pflegt seine Bienen. Er ist Autor zahlreicher Bestseller, darunter Sitting Küchenbull (2009) und Ein Bauch spaziert durch Paris (2015) und Ein Bauch lustwandelt durch Wien (2019) und Ein Bauch spaziert durch Venedig (2022). Bibliophile Schätzchen sind die Bücher aus der Dumont-Reihe, die er mit Nikolaus Heidenbach und Wiglaf Droste schuf. Nicht nur der Titel Wild ist großartig. Zu den Inspirationsquellen dieses Blogs gehört die leider eingestellte kulinarische Kampfschrift Häuptling Eigener Herd, welcher dieser Reisebericht entnommen wurde.
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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Porzellan und Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: Häuptling Eigener Herd, Heft Nr. 13
Herausgeber: Wiglaf Droste und Vincent Klink
Verlag: © 2002 Edition Vincent Klink
Website: https://vincent-klink.de/
ISBN: 3-927350-11-7
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Die Veröffentlichung erfolgte mit freundlicher Genehmigung von Vincent Klink, Küchengott im Restaurant Wielandshöhe in Stuttgart. Ich empfehle den Besuch seines Gourmet-Tempels.

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