Glocken der Heimat

von Christa Fuchs und Gudrun Harrer

„Beidl“ sagt man auf dem österreichischen Lande zum zweitbesten Stück des männlichen Säugetieres – und der Handel damit zum Zwecke des Verzehrs ist verboten. Nicht etwa, weil ein Eiweißschock droht, sondern aus Gründen der „Ethik“.

„Selbst wenn man Katze in Tomatensauce, geschmorte Stierhoden oder Armadillowürste aß, immer hatte man das Gefühl, in sicheren Händen zu sein.“ So heißt es über das legendäre Edinburgher Restaurant The Decadent von Medlar Lucan und Durian Gray, deren nun auf Deutsch erschienene Kunst der dekadenten Küche (Edition Tiamat). Aber nicht einmal hier wird man so richtig fündig, wenn man, so wie wir heute, einmal so richtig untergriffig sein und die Handvoll einer interessanten Zubereitung zuführen will. Vage ist auf ein Kochbuch des Küchenchefs von Papst Pius V., Bartolomeo Scappi, aus dem Jahr 1570 verwiesen mit einer Crostata, gefüllt mit Bries, Augen, Ohren und Hoden eines jungen Ziegenbocks. Auch bei Dumas Père findet man von Bär bis zu Schildkröte alles, was die junge Braut braucht, um eine Küche zu führen, aber keine testicules. An dieser Stelle wird eine metaphorische Verrenkung nötig: Hoden sind ein weißer Fleck in der Kochbuchlandschaft (bitte bildlich vorstellen).

Aber unlängst hatten wir sie plötzlich bei einem Freund auf dem Teller, und zwar die von einem (jungen) Hammel. Sie zu kochen wird ja wohl nicht verboten sein – wohl aber der Verkauf im katholischen Lande Österreich laut Lebensmittelkodex, und zwar „aus ethischen Gründen“. Das ist interessant. Obwohl: Dass – pardon – Säcke in den Status des Kultischen erhoben werden, ist nichts Neues, das konnte auch schon die mit Stierhoden behängte Artemis Ephesia (sorry guys, es sind keine Busen) leisten. Waren übrigens schon Teil der Aufbaudiät der olympischen Athleten, das Testosteron haben also auch schon die Griechen erfunden. Wenn man dem Internet glauben darf, dann schmieren sich heute manche Herren einen Extrakt aus Stierhoden ganz gerne sonst wo hin.

Wir sind ganz für die orale Aufnahme. Zum Beispiel nach Anweisung des in dieser Beziehung immer verlässlichen Zio Antonio Carluccio, der Herz, Lunge und Hoden vom Lamm in einem Stück Darm zu kleinen Involtini bindet, mit Salz, Petersil und Chili würzt und im Rohr bäckt oder besser noch über der Holzkohlenglut grillt. Sonst sind nur nur ragoutartige Rezepte und natürlich das uraustriakische Panieren untergekommen, bei uns in Wien wird ja bald noch die Sachertorte in Bröseln gewälzt und herausgebacken. Oder die Mozartkugeln: Übrigens kannten wir mal einen Italiener, der meinte, bei diesen handle es sich tatsächlich um eine (hoffentlich Miniatur-)Ausgabe der Mozart’schen „balle“.

Also verboten, aber wo klein Kläger da ist bekanntlich auch kein Richter. Wie streng die Behörden bei Meldung einschreiten oder ob auf den Schlachthöfen auch wirklich kontrolliert wird, ob jeweils genügend Hörner, Hufe und Hoden von den gemetzelten männlichen Rindviechern übrig bleiben, wissen wir nicht. Im städtischen Bereich dürfte die Beschaffung eher schwierig sein, bei Stammkunden der bäuerlichen Selbstvermarkter schaut es gewiss anders aus – wobei die von uns unlängst verspeisten Lammhoden aber ganz offiziell auf einem Wiener Markt verkauft wurden; wo, sagen wir selbstverständlich nicht, sollen’s suchen, die Herren Inspektoren, der Händler wusste wahrscheinlich gar nichts von dem dummen Verbot.

Abb.: Rognons blancs de boucs; Bildquelle: Wikipedia

Rognons blancs, Weiße Nierndeln, lautet übrigens das vornehme Synonym, deeskalierende Alias-Namen gibt es ja überhaupt zuhauf, wie Spanische Nieren (nein, hier machen wir keine Torero-Witze), aber die Schweizer Glocken der Heimat sind unser Favorit.

Gefunden wurden auch Alpeneier, und natürlich gibt es jede Menge lokale Varianten in jeder Sprache. „Man sagt Beidl“, will heißen Beutel, zitiert Thomas Rottenberg im Standard eine Jungbäuerin, bei der er eine Stierhodenreservierung platzierte. „In unserem Fall also Biobeidl.“ Er berichtet auch, dass ausgerechnet im Land der Prüderie jährlich das große Montana Testicle Festival stattfindet, bei dem sage und schreibe zwei Tonnen von Bergaustern verkocht werden.

Abb.: Ein Besucher verzehrt einen frittierten Hoden auf dem Hodenfestival in Tiro; Bildquelle: Wikipedia

Das Verbot und dadurch Abdrängen in die Illegalität hat die testosterongeschwängerte Aura der Dinger, wie immer man sie nennt, nur verstärkt, gerade die hürdenreiche Beschaffung des Rohstoffes hat geheimlogenartige Anhängerschaften kreiert. Die Fuchs erinnert sich aus ihrer immer ferner liegenden Kindheit an verschwörerische Stierhodenessen der Timelkaner Schützenrunde. Auch wissen wir von höchst geheimnisvollen Treffen im schönen Erlauftal zu berichten. In einem idyllischen Landgasthof findet alljährlich an einem Samstag um den ersten Advent eine Stierhoden-Partie statt. Als er das Wirtshaus vor über zwanzig Jahren übernommen habe, sei man an ihn herangetreten, sagt der Wirt (der sich nähere Angaben verbeten hat, aber meint, dass behördlicherseits die Angelegenheit in den vergangenen Jahren weniger streng gehandhabt wird): Es gäbe da in der Gegen einige Interessenten, und ob er sich erbötig mache, die Ware liefere man… Herr X. Y. machte sich tatsächlich erbötig, und im holzgetäfelten, mit ausgestopften Jagdtrophäen dekorierten Extrazimmer fanden daraufhin in familiärer Atmosphäre mit zehn bis 15 Kommensalen die ersten Stierhoden-Exerzitien statt. Mittlerweile ist die Zahl der konspirativen Esserschaft auf 80 Personen angewachsen, der hauseigene Saal ist somit ziemlich ausgelastet, sonst aber ist alles geblieben, wie es war: Die präsumtiven Teilnehmer werden entweder schriftlich oder telefonisch verständigt, keine Tafel, kein Speisekartenaushang kündigt von dem Ereignis, nach wie vor hat es den streng exklusiven Charakter einer geschlossenen Gesellschaft. Bei der Zahl von Essern ist es aber eine harte Herausforderung an die Beschaffungslogistik, der lokale Fleischhauer und sein Bruder, ebenfalls Fleischhauer und in einem Schlachthof beschäftigt, sammeln und richten die faustgroßen oder auch etwas größeren Prachtstücke der Zuchtstiere auch gleich zu, das heißt, sie entfernen die harte, umgebende Haut. Vor dem großen Ereignis dümpeln dann im winterkalten Stiegenhaus des Gasthauses die Stierhoden in den diversesten wasserbefüllten Becken vor sich hin, denn das scheint ganz entscheidend: Sie müssen ausgiebig gewässert werden, ja ja, der Ammoniak ist ein Hund.

Rocky Mountain-Austern, serviert mit Zitrone und Cocktailsauce; Bildquelle: Wikipedia

Die Beidln gibt es dann in zweierlei Ausführung. Erstens in Sauce: Sie werden halbiert, feinblättrig geschnitten und nochmals gewässert, in Butter fein gehackte Zwiebel angeschwitzt, die abgetropften Streifen werden dazugegeben, angebraten und der dabei entstehende Saft – „die Stierhoden safteln allerweil“, erklärt der Wirt – eingekocht. Empfindlichere Naturen braten die Stierhoden zuerst nur alleine an, schütten den austretenden Saft weg und geben erst jetzt die à part angeschwitzten Zwiebeln dazu. Dann kommt Tomatenmark dazu und wird mitgeröstet, mit Rindsuppe aufgießen, dünsten, salzen und pfeffern und mit Gmachtl – heißt: Sauerrahm mit etwas Mehl versprudeln – binden. Das Gericht sollte eine suppige Konsistenz haben, wie Beuschel, dazu wird Brot gereicht. Petersilie und frische Paradeiswürfel zum Schluss täten der Sache gewiss nicht schlecht, erlauben wir uns anzumerken, wie es ja überhaupt gewiss allerlei raffinierte Ragoutgerichte gibt, die da zum Einsatz kommen können. Das Ding an sich schmeckt ja nicht nach viel, „Champignons“ ist die häufigste Auskunft.

Für den Hauptgang werden die Stierhoden mittels Schmetterlingsschnitt in Schnitzelform gebracht, paniert und dann tiefgefroren. Letzteres ist entscheidend, vielleicht wegen des Saftelns, die Schnitzel verlieren sonst die Panier. Wir haben jedenfalls gebeten, uns im kommenden Winter auch zu verständigen, wobei ein Freund, der schon öfter dabei war, warnt: Die Konservation sei bei diesem Gelage ziemlich deftig, nein nein, nicht die Herren, die Damen seien vom Thema des Abends teilweise über die Maßen inspiriert. Die Harrer, die Stierhoden, übrigens banal paniert, in Norditalien schon vor 20 Jahren völlig legal gegessen hat, kann sich an eine solche Wirkung nicht erinnern. Aber damals war man eben auf die Verbalerotik noch nicht so angewiesen, vielleicht wäre das heute anders.

Hoden-Speise von F. W. Bernstein; Bildquelle: Häuptling Eigener Herd Heft 24

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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Emaille und Porzellan. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: Häuptling Eigener Herd, Heft 24

Herausgeber: Wiglaf Droste und Vincent Klink

Verlag: © 2005 Edition Vincent Klink

Website: https://vincent-klink.de/

ISBN: ‎ 3-927350-22-2

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Die Veröffentlichung erfolgte mit freundlicher Genehmigung von Vincent Klink, Küchengott im Restaurant Wielandshöhe in Stuttgart. Ich empfehle den Besuch seines Gourmet-Tempels.


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