von Wolfgang Abel
Man nehme einen Vacherin Mont d’ Or aus der Franche-Comté. Das ist der nur wenige Wochen gereifte französische Rohmilch-Weichkäse aus dem hohen Jura in der typischen Spanschachtel. Je nach Quelle stammt das Holz angeblich von Fichte oder Tanne, wir nennen ihn hausintern einfach nur Kistenkäse. Die runden Spanschachteln gibt es in diversen Kalibern von 480 Gramm bis etwa drei Kilo, produziert wird der AOP-Käse nur im Winterhalbjahr von Oktober bis April (wenn die Kühe nicht mehr genug Milch zur Produktion von Comté geben). Als Hauptgang für zwei Personen sollte ein Einpfünder ausreichen, mit einer kapitalen drei Kilo-Kiste bekommt man somit auch eine größere Runde satt. Und wie so oft, wenn der Backofen an die Stelle eines weniger routinierten Kochs tritt, gelingt die ganze Fuhre fast nebenher, jedenfalls ohne lästig großen Aufwand.
Die Vacherin-Kiste hat unten einen Holzdeckel zur Verstärkung, der bleibt wo er ist. Der obere Deckel aus Käserinde wird rundum mit einem spitzen Messer eingeritzt bevor die Fuhre in den vorgeheizten Backofen kommt und dort bei 200 Grad und Umluft solange verbleibt, bis die Oberfläche erfwacht und magmaartige Blasen wirft, bei 500 Gramm dauert das etwa 30 Minuten. Viele Vacherin-Rezepte empfehlen, den Rindendeckel vor dem Vulkanisieren im Ofen mit einer Gabel einzustechen, über Kreuz einzuritzen, mit Weißwein zu tränken oder gar den Käselaib mit Knoblauchzehen zu spicken. Solche Zugaben müssen nicht sein. Wie der Rote im Barrique hat der Vacherin in der Kiste direkten Holzkontakt, das genügt zur Parfümierung der feinen Käsearomen, weitere Applikationen und Zierleisten wären mehr Verfälschung als Verfeinerung. Vorgewärmte Teller und ein schönes Feuer im Kachelofen sind als Beilagen jedoch immer willkommen.

Wenn der Vacherin Fahrt aufnimmt und dies durch leises Blubbern verkündet, ist es soweit. Der zuvor geritzte und nun hoffentlich goldbraun gratinierte Rindendeckel wird erst unmittelbar vor dem Servieren abgenommen, zum Warmhalten nach dem ersten Durchgang dient der Bodendeckel. Als fließender Löffelkäse paßt Vacherin perfekt zu Pellkartoffeln, zur Not auch zu einem frischen dunkel gebackenen Baguette. Wichtige Beilagen sind schwarzer Pfeffer aus der Mühle sowie ein saurer Kontrapunkt zur mollig-warmen Käsespeise. Feldsalat mit einer säurefrischen, zart mit Maggi parfümierten Vinaigrette paßt farblich und aromatisch. Fast obligatorisch als Beigabe sind die maximal kleinfingergroßen Cornichons von Maille, sie haben präsente Säure und knackigen Biss, exakt so wie es auf dem Etikett steht („Sélection grand croquant“). Außerdem sind immer noch ein paar Perlzwiebeln im Glas, die im Kontext mit Vacherin gerne genommen werden. Zur Erweiterung des Spektrums wäre auch noch nach italienischer Manier süßsauer eingelegtes Gemüse in Agrodolce denkbar. Über alles betrachtet garantiert eine Kiste Vacherin ein ähnlich geselliges Löffeln und Beisammensein wie Raclette oder Käsefondue. Der Aufwand ist aber geringer, die Aromen sind zarter, der Mastfaktor ungleich gnädiger. Außerdem müssen Gardinen und anwesende Strickwaren hinterher nicht deodoriert werden.
Woher kommen wir, wohin gehen wir – mag man sich zu Jahresbeginn öfter als sonst fragen – vor allem aber: was trinken wir dazu? Weil so ein Schmelzkäseabend den Gaumen doch einigermaßen auskleidet, kommt neben Allzweckwaffen wie Winzersekt oder Rotspon nur ein Weißwein mit präsenten Aromen in Frage. Weitere Diskussionen zu Herkunft und Sorte sind sinnlos, zumindest in der Welt des Kulinarischen haben ausgrenzende Brandmauern keinen Platz, ein seelenwärmendes Essen wie Vacherin aus der Kiste verträgt sich nicht mit wohlfeilen Dogmen. Falls das Gespräch wegen Kachelofenhetze, Käsescham oder Rohmilchbepreisung dennoch ins Politische gerät, sei an Nietzsches zehn Gebote des Freigeistes erinnert, über die bis heute mit Gewinn diskutiert werden kann. Nietzsches viertes Gebot lautet übrigens: „Du sollst den Berühmten und Einflussreichen aus dem Wege gehen.“
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Wolfgang Abel

Vincent Klink: Wolfgang Abel ist ein wirklich sturer Hund vom Rande des Schwarzwalds. Er schreibt für südbadische Zeitungen, lebt in Badenweiler und nervt mit seinen Berichten die häufig vehement sich selbst lobende badische Gastronomie. Seine Texte führten schon zu Prozessen, die er als gründlicher Rechercheur und der Wahrheit verpflichtet immer gewann.
In seinem Oase Verlag (www.oaseverlag.de) erschienen die intelligentesten Reiseführer, die ich kenne. Wer in Süddeutschland, Ligurien, im französischen Jura, im Elsass, auf Lanzarote, in Portugal oder sonstwo ohne diese Bücher unterwegs ist, gehört wegen sträflicher Ignoranz verprügelt.
Ehrlich!
Zu den Kolumnen geht es direkt hier:
https://www.oaseverlag.de/Abels_Kolumnen/Die_Kolumne_von_Wolfgang_Abel/
Wolfgang Abel auf KRAUTJUNKER: https://krautjunker.com/?s=Wolfgang+Abel
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