Buchvorstellung
Ende Mai 2019 stellte ich hier bereits die Kleine Philosophie der Passionen: Pilze sammeln vor. Das im Jahr 2000 erschiene Büchlein von Hans Helmut Hillrichs (* Mai 1945; † April 2024) nehme ich immer wieder gerne zum Schmökern in die Hand. Vor ein paar Tagen bestellte ich aus dieser Reihe den Band über das Angeln, verfasst von dem Theologen und Philosophen Prof. Dr. Peter Kunzmann (* 1966).
Ich zitiere aus dem ersten Kapitel Deswegen: »Ich suche gerade meine dritte Stelle nach Raubfischen ab. Es ist ein ungewöhnlich heißer Sommer und an diesem Morgen rinnt schon um diese Uhrzeit kräftig der Schweiß. Die Sonne verwandelt die Bucht vor mir in einen riesigen Spiegel, einen hektargroßen Scheinwerfer, der mir in die Augen leuchtet. Die Sonnenbrille liegt, wo sie hingehört, im Handschuhfach des Autos und das steht genau auf der anderen Seite. Ich habe Durst. Und ich bekomme Hunger. Um halb fünf, also vor gut vier Stunden, hatte ich keine Lust auf ein Frühstück und wollte außerdem so schnell wie möglich ans Wasser. Jetzt habe ich kein Frühstück und bin weit entfernt von einer wohltuenden Tasse Tee. Oder Kaffee. Oder irgendwas. Mein Magen rächt diese Diät mit einem grummeligen Unbehagen. Die Hitze steigt und immer mehr Teile meines Körpers revoltieren und wollen wissen, warum ich sie aus dem Schlaf gerissen habe und warum ich hier dumm herumstehe und wieder und wieder einen künstlichen Fisch oder einen blechernen Fisch-Darsteller ins trübe Wasser vor mir werfe. Die Buchhalter unter meinen Hirnzellen rechnen mir vor, für wie viel Geld ich in diesen Stunden schon Material eingebüßt habe. Die Pessimisten unter meinen Hirnzellen machen mir die Größe der Fläche klar, die zu meinen Füßen liegt, und wie aussichtslos es sei, hier genau auf den hungrigen Räuber zu treffen. Der hat ja schließlich nicht auf mich gewartet! Ganz matt entgegne ich ihnen, ich hätte hier schon gut gefangen und verweise auf den dichten Bestand an Friedfischen, der die Räuber lockt, und dass ich doch wüsste, wo der Barthel den Hecht herholt. Durch das flirrende Licht hindurch kann ich eigentlich nur erkennen, wie ein Rudel Flussbarsche die Fischlein über den seichten Ufersand hetzt.
Und wie eine kleine Wolke von Weißfischen an die Oberfläche flieht. Mit einem Schlag weiß ich, was ich hier tue. Alle Bedenkenträger schweigen stille. Mein Spinner fällt genau dahin, wo die Wolke stand. Nichts passiert. Ich kurble vorsichtig und langsam weiter, die halbe Bucht hindurch spüre ich nur die Wasserwellen, die mein Gerät erzeugt. Nichts passiert. Fünf Meter vor dem Ufer taucht mein Spinner langsam wieder auf und dann stiebt es durchs Wasser, ein Schwall, Wassertropfen springen ins Licht, das Wasser tut sich auf und schließt sich sofort wieder. Eine Welle schwappt und die Tropfen verlöschen. Mein Spinner rotiert weiter. Der Hecht hat zugebissen, aber er hat sein Ziel verfehlt.
Ich wiederhole den Wurf. Ganz genauso. Alle Hirnzellen arbeiten wieder auf ihrem Platz. Es ist, als starrten alle genau auf den riesigen Monitor vor sich. Der Hecht erscheint nicht mehr darauf. Die Sensoren in meinen Händen melden nur den Widerstand des Spinners im Wasser und eine sanfte Biegung meiner Angelrute. Und dann diesen Ruck, gefolgt von einem Schlag, und dann den Zug, ein, zwei Mal gegen die Rute. Ich hab ihn.
Das heißt, jetzt beginnt der zweite Teil des Abenteuers, denn jetzt folgt der Drill, das Ermüden des Fisches an der Schnur. Laien stellen sich die Sache meist so vor, dass man ihn nur an den Haken bekommen muss und dann einfach „rauszieht“. Der Hecht vor mir denkt nicht daran und vor mir liegen noch etliche spannende Momente, in denen er zu entwischen droht, den Haken von sich schütteln oder zwischen Steinen oder Wurzelwerk verschwinden könnte oder ganz einfach mit einer kraftvollen Bewegung die Schnur reißen lässt. …«
Der Theologe und Philosoph verzichtet darauf den Leser mit Fangtipps belehren zu wollen. »Ich habe mir vorgenommen, ein Angelbuch ohne Hinweise zu Material, Technik, ohne Montageanleitungen, Futtertipps, Mondphasen-Hellseherei, Beißzeiten-Analyse und Köder-Empfehlungen zu schreiben.« Hier wird unterhaltsam und geistreich ergründet mit wie viel schillernden Facetten das vermeintlich langweilige Hobby kluge Menschen in seinen Bann zieht. Dabei hat Peter Kunzmann keine Angst davor, endgültige Antworten nicht liefern zu können.
»Ist es die Detektivgeschichte, die mich so sehr am Fischen reizt? Ja, vielleicht. Doch wenn, dann ist das nicht alles. Es ist auch alles zusammen, das Naturerlebnis und das Geduldsspiel und das geforderte Geschick und das geschärfte Auge. Dies alles und auch nichts davon. Denn Fischen ist eine Leidenschaft, eine Passion. Dass eine Passion keine Gründe kennt, macht sie erst aus. Gibt es irgendeinen Passionierten, der Ziel und Zweck zu nennen wüsste für seine Leidenschaft? Einen Pferdenarren oder Autonarren, der praktische Gründe für seine Neigung hätte? Was hielte man von einem Rosenzüchter oder einem Münzsammler, der damit Geld verdienen wollte? Was von einem Weinkenner, der die ernährungsphysiologischen Vorzüge pries? Einem Gourmet, der die Vitamine seiner Spezialitäten aufzählen kann? Glücksspiel als Geldanlage? Segelflug als Reisemittel? Tauchen als Beschäftigungstherapie?
Nein, es gibt für Passionen keine Gründe. Und darin liegt auch begründet, dass man niemanden zu ihnen überreden kann. Der Funke springt über oder er lässt es bleiben – aber noch nie habe ich erlebt, dass ein Passionierter einen anderen Menschen mit Argumenten hat werben können. Wer keinen Geschmack an feinem Essen findet, ist ein hoffnungsloser Fall, für den es nichts zu erklären gibt. Wem es gleich ist, was er isst und trinkt und wie er sich kleidet, dem kann man Regeln an die Hand geben, aber kein Feuer dafür entfachen.
Es bleibt etwas Grundloses, Unmotiviertes. Es packt deshalb dem einen und es bleibt dem anderen vollkommen rätselhaft, was man daran denn nur finden könnte. Angeln zur Beschaffung von Nahrungsmitteln? Auch ein Grund natürlich, denn ein frischer Fisch ist kulinarisch eine wunderbare Sache. Aber ein Grund fürs Angeln ist es eigentlich nicht. Höchstens eine Rechtfertigung, doch das ist eine andere Angelegenheit, die ich eigens besprechen will.
Warum also Fischen? Ich weiß nicht eigentlich, warum sich jemand mit hohem Aufwand an Zeit, Geld und guter Laune dem Angeln hingibt. Und selbst worin das Glücksgefühl in den glücklichen Momenten besteht, lässt sich nicht genau sagen. Der Fischer ist, mit Dr. Johnson gesprochen, der Narr an einem Ende einer Rute. Und eine Angelrute, so heißt es in Polen, ist die kürzeste Verbindung zwischen dem Wasser und einem Idioten. Recht so, argumentativ ist dem nicht beizukommen.
Aber: Wer einen anderen Menschen liebt, kann alle seine Vorzüge aufsagen. Und von allen diesen Vorzügen wird kein einziger hinreichen, um zu sagen: deswegen!«
Die nächsten Kapitel trägt den schöne Namen wie Filigranos und Puristen – Glaubenskämpfe am Wasser. Hier werden, ebenso geistreich wie lustig, Glaubensfragen vorgestellt und analysiert. »Flechtschnur oder Monofil? Schnurfarbe leuchtend oder getarnt? Gummifische natur oder spektakulär? Haken geschränkt oder gerade? Immer stehen wir an der Schwelle, nicht gerade zum Glaubenskrieg, aber doch zum Unentscheidbaren. Denn mit jedem gefangenen Fisch verstärkt sich die Überzeugung auf der richtigen Seite zu stehen.
Das garstige oberste Prinzip unserer Zunft kommt auch hier zu voller Geltung: Jeder Erfolg bestätigt den Angler, alles richtig gemacht zu haben. Und kein einziger Misserfolg gibt Aufschluss über seine Gründe. Fängt jemand mit einem Twister, so knallig bunt, dass er noch das trübste Abendwasser durchleuchtet, so weiß er, dass dies seinem Zander gefallen hat. Nimmt der Zander nicht, woher weiß er dann, dass der Fisch gerade diesen Leuchteffekt nicht mochte? Oder war es ihm zu kalt? Oder zu warm? Oder zu tief? Oder zu seicht? Oder war er satt? Oder war er einfach ein schlauer Zander, der keine Lust hatte, sich fangen zu lassen?
Deshalb bestätigt jeder Erfolg zwangsweise und naturgemäß die Richtigkeit einer Glaubensentscheidung. Und kein Fehlschlag wird sie je entkräften.«
Auch auf den folgenden Seiten habe ich mich nie gelangweilt und bin amüsiert in die Gegenwelt der Angelei versunken. Ich könnte noch viele schöne Stellen zitieren und kommentieren, aber das würde den Rahmen dieses Blogbeitrags sprengen. Einen kann ich mir jedoch nicht verkneifen:
»Vollkommen eingesponnen in seine Tätigkeit befasst sich der Fischer nur noch mit der Szenerie des Fischens. Viktor E. Frankl fand einen großen akademischen Namen für solche Zustände: Selbsttranszendenz. Damit beschreibt er wahrlich kein Phänomen des Fischens, sondern aller Dinge und Tätigkeiten, denen sich Menschen hingeben können. Die volle Konzentration ist gerichtet auf etwas, was den Menschen packen und restlos erfüllen kann, alles andere und sich selbst darüber vergessend. Die Welt außerhalb versinkt in Bedeutungslosigkeit und Abwesenheit. Die Psychologen beschreiben es als einen flow, ein ungestörtes Fließen der Gedanken auf einen Punkt hin. Über Stunden existiert förmlich nichts als Wasser, Fischer und Fischen. Und ein Fischer, der quasi neben sich steht und sich mit sich selbst unterhält und über seinen letzten und seinen nächsten Wurf. Diese Selbsttranszendenz erleben Menschen nicht nur beim Fischen, sondern auch beim Schach, beim Fußballspielen, beim Malen oder beim Musikhören – Selbsttranszendenz, die Hingabe an etwas anderes, was des Menschen Bewusstsein gleichzeitig wunderbar füllen und wunderbar leeren kann.«
Lesenswert!
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Pressestimmen
»Eine Philosophie, die Leiden und Leidenschaft miteinander versöhnt. «
― HNA
»Was treibt sie nur an, diese Angler, die stundenlang vor sich hin schauen können? Bricht da ein uralter Instinkt durch? Sind sie Beziehungsflüchtlinge? Abenteurer? Genießer? Naturliebhaber? Träumer? Sonderlinge? Praktiker? Es wäre kein Taschenbuch aus der Reihe Kleine Philosophie der Passionen, wenn sich nicht fast all diese Profile finden lassen würden.«
― Sächsische Zeitung
»… dass es auch im Taschenbuchregal Perlen zu entdecken gilt, Originalausgaben, bis zum Rand gefüllt mit blitzenden Gedanken und geistreichen Formulierungen, beweist … die Reihe Kleine Philosophie der Passionen. Wenn es diese Bücher nicht geben würde, man müsste sie erfinden. Wo sonst wird sich den Leidenschaften des Alltags mit solcher Hingabe angenommen?«
― Applaus
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Anmerkungen
Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Porzellan und Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: Kleine Philosophie der Passionen: Angeln
Autor: Peter Kunzmann
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
ISBN: 978-3423206853
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KRAUTJUNKER-Kommentar: Das Buch ist nur noch antiquarisch erhältlich. Idealerweise die ISBN hier kopieren und über Buchhai suchen und kaufen.
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