Angler sind oft glückliche Menschen, doch verstanden werden sie nur von wenigen. Hier muss Integrationsarbeit geleistet werden, weil unser Land stark genug ist, Vielfalt als Bereicherung zu begreifen und gemeinsam Lösungen zu finden.
Nachdem ich letzte Woche Wahn und Sinn des modernen Spinnfischers vorgestellt habe, widme ich mich heute der nächsten zoologischen Unterart aus der Menagerie des Angelwahns: dem Karpfenangler.
Der Materialmystiker
Wer denkt, Angeln sei einfach, billig und romantisch, hat noch nie einen Karpfenfischer gesehen. Kaum etwas ist so materialaufwendig wie das Erlegen dieser Süßwasserschweine.
Der Karpfenangler ist der Technik-Nerd unter den Anglern. Beruf und Familie? Ja, vielleicht. Doch sein wahres Leben spielt sich in Neigungsgruppen, Tackle-Kellern und Jagdgebieten ab. Sein Lebensziel: Karpfen – die rundesten Beutetiere, die sich das menschliche Gehirn vorstellen kann.
In seinem eigentlichen Habitat geht er mit einer Ausrüstung ans Wasser, für die andere sich einen neuen Kleinwagen kaufen würden. Von seiner Camping-Ausrüstung bis zum Angel-Tackle ist das Meiste in Tarnfleck gehalten und erinnert an das Kriegsmaterial einer militärischen Spezialeinheit. Seine Hightech-Ruten ruhen beim Transport ins Einsatzgebiet in einem Gestell, das aussieht, als hätte Thule einen Vertrag mit den Panzeraufklärern abgeschlossen.
Er ist in der Lage eine Unzahl komplizierter Montagen zu knüpfen, von denen jede einzelne einen exzentrischen englischen Namen trägt. Wer außerhalb seiner Bubble weiß schon, was ein Helicopter Rig, ein Blowback Rig oder ein Snowman Rig ist? Und wer will es wissen?

Seine hochproteinhaltigen Köder, die sogenannten Boilies, entstehen in seiner Küche wie Straßendrogen unter absoluter Geheimhaltung. Er hält sie für Gamechanger mit selektiver Lockwirkung. Da wird Casein mit Sojamehl vermischt und Proteinpulver mit geheimen Lockstoffen oder auch „nur“ Bananenaroma kombiniert. Im Fachhandel finden sich so verrückte Produkte wie Tuttifrutti orange bis Monster Crab dunkelbraun. Wem dies nicht ausreicht, kann für Apothekenpreise auch konzentrierten Dip in Fläschchen kaufen, sofern er sich zwischen Amino Flash Anis und Oriental Dreams entscheiden kann. Gerne auch fluoreszierend. Gemessen an den Werbeslogans der Hersteller wirken die Versprechungen der Kosmetikindustrie hochseriös. Verbreitete sich das Gerücht, dass es den Karpfen nach Kaviarkugeln verlangt, so würde der Karpfenangler notfalls in einer Tabledancebar auftreten, um auch dies zu finanzieren, denn nur was viel kostet, kann auch gut sein.
An jeder Rute hängt, einer kostbaren Christbaumkugel gleich, ein elektronischer Bissanzeiger mit Nachtlichtfunktion und WLAN. Auf dem See operiert er mit einer Technik, wie ein Drohnenpilot über der Ukraine-Front. So verwendet er ein ferngesteuertes Boot mit GPS, Fishfinder und Autopiloten, um seine Boilies und Köder im Zielgebiet punktgenau zu platzieren. Wir sprechen von Futtermengen, vor denen ein Labrador kapitulieren würde. Für seine langen Ansitze verfügt er über eine Campingausrüstung in Tarnfarben und natürlich einen Trolley, mit dem er seine High-End-Spezialausrüstung ans Ufer karren kann.

Der Karpfen – der Gérard Depardieu des Tümpels
Sein Antagonist, der Karpfen, ist das genaue Gegenteil. Wie das Wildschwein unserer Wälder führt der Karpfen unter der Wasseroberfläche ein komfortables Leben als kluger Gourmet und Lebenskünstler. Mich erinnert er an den aus dem Leim gegangenen Gérard Depardieu in seinen Bonvivant-Rollen. Ein träge dahingleitender Genießer, welcher sich gemütlich schlemmend und schlummernd durch die Weiherwelt treiben lässt. Auch beim Fressen verfällt er nicht in Stress. Genüsslich schlürft er Häppchen von der Wasseroberfläche wie Gérard Depardieu als Vatel, der mit ruhiger Hingabe Delikatessen kostet. Ein Phäake mit Kiemen.
Doch wehe, wenn er am Haken hängt. Dann verwandelt sich der gemütliche Süßwasser-Schlemmer des Weihers in einen Obelix, der seine Masse in schiere Energie verwandelt und seine Gerissenheit einsetzt, um die Angelschnur an Hindernissen zu zertrennen. Neben seiner Kraft kommt ihm sein massiger und hochrückiger Körper zugute. Wie ein mit dem Lasso gefangener Bulle stellt er sich quer, um seine Wasserverdrängung für sich zu nutzen. Ein cleverer Kämpfer der Schwergewichtsklasse.
Das Abenteuer
Der moderne Karpfenangler reist gern. Nach Frankreich oder Spanien zu legendären Karpfenseen, wo Karpfen mit Namen wie La Grosse, Two Tone, The Black Mirror, Heather the Leather oder Mon General leben. Jeder dieser Fische wurde schon mehrfach gefangen, gewogen, fotografiert und in Zeitschriften vorgestellt – kurz: Es sind Promis mit eigenen Fan-Clubs.

Der Carp-Freak will ihn nicht fangen, um ihn zu essen. Wenn nach all diesen Kosten und Mühen, der nervenaufreibende Drill gelingt, ist der Fang ein Moment größter Lust, gar ein existenzielles Erlebnis. Mit postkoital verzücktem Gesichtsausdruck hält er das pralle Tier wie eine kurvige Traumfrau an seine Brust und schenkt dem Schuppentier Blicke, die seine Gattin lange nicht mehr erhielt. Der aus seinem Element gerissene Fisch schaut aus wie eine entführte Braut in einer Komödie: Glotzaugen, aufgespritzte Lippen, pure Slapstick-Schockstarre.
Am Ende wird der Fisch vom Angler vermessen, gewogen, fotografiert, bewundert – und dann schonend zurückgesetzt. Keinem anderen Beutetier dieses Erdenknödels werden so liebevoll die Stressfalten mit einem feuchten Tuch abgewischt, bevor man es wieder in die Freiheit entlässt.

Fazit
Das alles ist für geistig normale Menschen schwer zu verstehen, aber der Karpfenangler ist kein Mensch, der Fische fängt – er ist ein Mensch, den der Karpfenwahn längst gefangen hat. Er lebt für das Abenteuer, die Technik, sowie die Geheimnisse zwischen Köder und Karpfen.
Schon Erasmus von Rotterdam wusste vor fünfhundert Jahren,„Die höchste Form des Glücks ist ein Leben mit einem gewissen Grad an Verrücktheit.
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Anmerkungen
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