Buchvorstellung
Die meisten menschlichen Kulturen entstanden parallel zu Wölfen, und alle in Begleitung von Hunden. Vermutlich hätte die Eroberung dieser Welt ohne Hunde als Jagdgefährten und Wachhabende viel länger gedauert und mehr Opfer gefordert. Seit Jahrtausenden gelten Wolf und Hund als unser zweites Selbst. Im Guten wie im Schlechten. Sie lösen Liebe und Hass, Respekt und Verachtung aus. Unberührt lassen diese Tiere, die man durchaus noch als eine Art betrachten kann, kaum einen Menschen.
Ein starker Grund für die von ihnen ausgehende Faszination ist, dass es zur Lebensweise der Wölfe viel mehr Parallelen gibt, als zu unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen. Wir beide bilden unter natürlichen Bedingungen Kriegergesellschaften. Nach innen hin freundlich, fürsorglich und kooperativ, bei der Bekämpfung fremder Gruppen konsequent aggressiv und robust. Zwar leben wir mit Nachbarn meist im Burgfrieden, tauschen uns mit einem gewissen Grundmisstrauen aus, aber wenn die Ressourcen knapper werden brechen Konflikte aus, bei denen wir uns bis aufs Blut bekämpfen. Die Gruppen, welche nach dem Motto leben, „der Klügere gibt nach“, werden ausgelöscht, so unmoralisch und unzivilisiert dies uns Zivilisierten auch erscheinen mag.
Unsere Intelligenz, Anpassungsfähigkeit, Kooperationsbereitschaft und Aggressivität haben uns zu den Top-Beutegreifern gemacht, die nahezu alle Lebensräume der nördlichen Hemisphäre besiedeln und dominieren.
Das Verhältnis untereinander ist ambivalent. Zwar ist es geprägt von gegenseitiger Faszination und Respekt, aber als Welt enger wurde, kippte es meist zu Ungunsten der Wölfe. Ein komplett konfliktfreies Miteinander kann es zwischen uns nicht geben, dafür sind wir uns zu ähnlich. Im Zuge dieser jahrtausendelangen Entwicklung verwandelten wir viele Wölfe genetisch zu Hunden.
Nun jagten sie nicht mehr frei, sondern mit uns. Mittlerweile richten sie sich in ihrem Sozialverhalten weniger auf andere Hunde, als auf uns aus. Sie entwickelten eine steilere Dominanzhierarchie und wurden weniger tolerant und kooperativ untereinander, als es Wölfe sind. Im gleichen Zuge wurden sie kooperativer und gefügiger in ihrer Beziehung zu Menschen. Mittlerweile sind Hunde fähig, unsere sozialen Fehler zu schlucken und emotional zu puffern. Durch Selektion und Zucht spezialisierten wir sie zu treuen Wächtern, Kriegskameraden, Jagdgefährten, Abfallbeseitigern oder Sozialgefährten und Schmusetieren.
Um uns selbst zu verstehen, sollten wir berücksichtigen, dass wir erst in der Gemeinschaft mit Hunden und Wölfen zu modernen Menschen wurden. Theoretisch wäre es interessant zu sehen, wie wir uns ohne Hunde an unserer Seite entwickelt hätten, jedoch gibt es seit 35.000 Jahren keine Kontrollgruppe von Menschen, auf welche dies zutrifft. Hunde und Menschen bilden zusammen eine unschlagbare Einheit. Nachweislich glücklicher, sozial kompetenter und gesünder sind Hundebesitzer ohnehin.
Kurt Kotrschal (* 1953 in Linz), Professor für Verhaltensbiologie an der Universität Wien, Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle Grünau und Mitbegründer des Wolfsforschungszentrums (siehe: http://www.wolfscience.at/de/) sowie Wissenschaftler des Jahres 2010, beschreibt in seinem Buch Wolf – Hund – Mensch das Beziehungsspektrum dieser Spezies so faszinierend und klug, dass es 2013 zum Wissenschaftsbuch des Jahres gewählt wurde.
Heutzutage betrachten wir Mitteleuropäer Wölfe oft entweder als Inkarnationen von freier Natur oder unkontrollierbare Menschenfresser. Im internationalen Vergleich gelten die Deutschen als eine der wolfsfreundlichsten Nationen. Vielleicht weil mit dem Verschwinden der Wildnis deren idealistische Überhöhung einsetzte. Ein nüchterner Blick auf die Wölfe fällt uns allen schwer, wie ein kurzer Blick auf die Kulturgeschichte der Menschheit zeigt. Die ähnliche Lebensführung machte die „Parallelwesen“ in der Vorstellungswelt steinzeitlicher Jäger- und Sammlerkulturen zu „Brüdern“. So vermutet der Autor, dass bei den ersten Domestikationen nicht der rationale Nutzen im Vordergrund stand, sondern die spirituellen Vorstellungen animistischer Kulturen. Die Beziehung war ambivalent und komplex. Wölfe konkurrierten um die gleiche Beute, bejagten diese ebenfalls in Gruppen, bekämpften entschlossen Feinde und sorgten liebevoll für Familienmitglieder. Sie dienten den Schamanen aufgrund ihrer Seelenverwandtschaft als Projektionsfläche und galten als Mittler zwischen der wahrnehmbaren Welt und jener der Geister. Sie inspirierten unsere Vorfahren zu zwei der ältesten Mythen, die sich bei allen indogermanischen Völkern finden: Die Vorstellung einer Verwandlung vom Mann zum Wolf schuf den Werwolf-Mythos. Der Zweite ist das Nähren von Menschenkindern durch eine Wölfin. In den Indianerkulturen wurde die familiär-friedfertige Seite des „Bruder Wolf“ betont. Wölfinnen wurden in den Gründungssagen von Rom und der türkischen Nation als Urmütter verehrt. In kriegerischen Kulturen wie jener der mittelalterlichen Mongolen, der Esoterik der deutschen Nationalsozialisten oder im türkischen Rechtsextremismus der Grauen Wölfe, dessen Wolfsgruß Erdoğan gerne zeigt, gelten sie als Sinnbild schneidiger Kämpfer. Demgegenüber galt in der Bibel des Christentums der Wolf als Sinnbild des Bösen. Allerdings geht der Autor fehl in der Annahme, wenn er die Amtskirchen im Mittelalter als Ursache der Verfolgung vermeintlicher Werwölfe und Hexen sieht. Es war ein Phänomen der frühen Neuzeit und hatte seine Ursache im Aberglauben des Volkes, während des Austritts aus dem wundergläubigen Mittelalter.
Wie auch immer: Mit der Biologie der Wölfe hat dies weniger zu tun, als vielmehr mit den Vorstellungen der Menschen von ihrer Welt.
In Wirklichkeit verfügen Wolfsrüden untereinander über eine hohe soziale Intelligenz. Wie viele andere Wildtiere erspart ihnen die Natur die Bürde eines ganzjährig hohen Androgenspiegels. Der Grund dafür liegt darin, dass weibliche Wölfe, entgegen Hündinnen oder Menschenfrauen, nicht das ganze Jahr fortpflanzungsfähig sind. So ersparen sie sich den Ärger, die Nachteile und Kosten, welche die allzeit bereiten Hunderüden und Menschenmänner tragen müssen. Dies gilt natürlich auch für die Frauen und Kinder, die unter Männer leiden, welche sich von ihren Hormonen beherrschen lassen. Interessant in diesem Zusammenhang ist das Buch Leitwölfe sein: Liebevolle Führung in der Familie des weltberühmten dänischen Familientherapeuten Jesper Juul.
Ebenfalls spannend: In Zeiten des deutschen Nationalismus und seiner autoritären gesellschaftlichen Ideale wurde die Zucht des wolfsähnlichen Deutschen Schäferhundes begründet. Wolfsrudel sind sehr erfolgreich, aber sie funktionieren komplett anders, als es sich kaiserliche Kavallerie-Offiziere wie Max von Stephanitz vorstellten. Im Gegensatz zu einem despotischen Schimpansen-Chef verfügt ein Alpharüde weder über die Mittel noch die Lust, widerspenstige Rudelmitglieder durch Druck auf Linie zu bringen. Stress und Sanktionen gefährden den Zusammenhalt des Rudels und dessen Leistungsbereitschaft. Jungwölfe müssen zu nichts gezwungen werden, instinktiv folgen sie dem entschlossenen und zielgerichteten Verhalten der erfolgreichen Alten, denn sie leben in einer Achtungs- und Anerkennungsgesellschaft. Hinzu kommt die permanente Bedrohung durch konkurrierende Rudel. Das Leben unter Kriegsdruck führt offenbar zum Zusammenrücken und zu freundlicher Hilfsbereitschaft untereinander.
Einen breiten Raum nimmt in dem Buch auch der positive Einfluss von Wölfen auf Wildtierpopulationen ein. Durch ihre Jagd, die selektiv auf schwache Tiere ausgerichtet ist, tragen sie zu gesunden Beständen von Beutetieren bei und haben diese in langen Zeiträumen auch geformt. Etwas zugespitzt behauptet Kurt Kotrschal, dass es die Wölfe waren, welche Hirsche und Wildpferde in ihrer jetzigen Gestalt schufen.
Ob es so vergleichsweise unproblematisch ist, dass sich Wölfe in unseren zersiedelten Kulturlandschaften wiederansiedeln, vermag ich nicht zu beurteilen. Der Autor empfiehlt unter anderem kampfstarke Herdenschutzhunde einzusetzen. Soweit ich weiß, sind diese aber durchaus eine ernstzunehmende Gefahr für Kinder und Wanderer, die sich ihnen und ihren Herden unbedacht nähern. Schließlich leben wir nicht in abgelegenen anatolischen Tälern, wo man seit Generationen gewohnt ist, Herden und ihren Hütehunden aus dem Weg zu gehen.
Andererseits kann man schwerlich Menschen, die in Asien oder Afrika ohnehin ein ärmeres und risikoreicheres Leben führen, dazu ermahnen, Löwen, Tiger und Elefanten in ihrer Nachbarschaft zu akzeptieren, während wir bei den verhältnismäßig unproblematischeren Wölfen hysterisch und ängstlich werden. Bedenken sollte man auch, dass wesentlich mehr Menschen durch Hunde zu Schaden oder ums Leben kommen, durch den Straßenverkehr sowieso. Für Menschen geht ein erheblich höheres Risiko durch einen herabfallende Dachziegel oder Blitzschläge aus, als von Wölfen.
Natürlich sieht jemand, dessen Fohlen auf der Weide gerissen wurde oder bei dem in der Nähe des Waldkindergartens Wolfsspuren gesichtet wurden, die Sache aus einer ganz anderen Perspektive, als jemand, der in Eppendorf im GEO einen schönen Beitrag über Wölfe liest.
Ein schwieriges und emotionales Thema, welches mich sehr interessiert, aber bei dem ich mir beileibe kein Expertenwissen anmaßen möchte.
Die in Wolf – Hund –Mensch: Die Geschichte einer jahrtausendealten Beziehung geschilderten historischen und biologischen Fakten haben mich absolut fasziniert. Hoffen wir, das Hund, Mensch und Wolf gemeinsam eine gute Zukunft haben.
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Anmerkungen
Von KRAUTJUNKER existiert eine Gruppe bei Facebook
Titel: Wolf – Hund –Mensch: Die Geschichte einer jahrtausendealten Beziehung
Autor: Kurt Kotrschal
Verlag: Piper Verlag GmbH
Verlagslink: https://www.piper.de/buecher/wolf-hund-mensch-isbn-978-3-492-30443-6
ISBN: 978-3-492-30443-6
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Lesenwerte Weblinks:
https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/das-tiergespraech-paviane-leben-mit-hunden-und-katzen