Montaigne. Philosophie in Zeiten des Krieges

Buchvorstellung von Christoph Stumpf

Möchte man ein Gefühl dafür bekommen, wie es sich in Frankreich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderte lebte, stelle man sich eine Talkshow von Anne Will vor, in der die Menschen nicht allein mit Worten, sondern auch mit Streitäxten aufeinander losgehen, diese aber bisweilen auch aus dem Fernseher herausfliegen und den Zuschauer treffen können. Freilich kann man den Fernseher nicht einfach ausschalten oder gar den Stecker ziehen: er schaltet sich immer wieder von selbst an und drängt sich in die Wohnstuben der Menschen hinein. Das muss einem die Talkshows von Anne Will nicht sympathischer erscheinen lassen, erlaubt aber zumindest den Schluss, dass früher nicht immer alles besser gewesen ist: Es waren durchaus ungemütliche Jahrzehnte, in denen sich radikalisierte Katholiken und radikalisierte Protestanten, Landbewohner und Städter, Adel und Bürgertum – und eigentlich auch alles, was zwischen diesen Gruppen stand – sich gegenseitig immer wieder ziemlich brutal bekämpfte.

Einer, der irgendwie immer zwischen all diesen Gruppen stand und blieb, war Michel Eyquem de Montaigne: er entstammte einer bürgerlichen Familie, die allerdings die Aufnahme in die Aristokratie anstrebte. Montaigne stammte aus Bordeaux, wohnte aber zumeist auf dem Land im Périgord. Er war und blieb Zeit seines Lebens Katholik, ohne aber jemals seine Verbindung zum Protestantismus abzubrechen. Das, was er der Nachwelt vor allem hinterließ, war eine große Sammlung von „Essais“ – und die von ihm geschaffene Literaturgattung der Essays selbst. Seinem breiten Interesse war die Reichweite seiner Themenwahl geschuldet. Die ungemütliche Diskussionskultur seiner Zeit bedingte es, dass er sich allzu definitiver Meinungsäußerungen enthielt und immer wieder seine Überlegungen mit der Frage „Que sais-je?“ – „Was weiß ich?“ – relativierte und abschloss. Das Bild einer Waage im Gleichgewicht mit dem Motto „Que sais-je?“ wählte er sich auch zu seinem Emblem.

Der deutsche Historiker Volker Reinhardt, der an der Universität Freiburg im Üechtland in der Schweiz lehrt, hat in Montaigne. Philosophie in Zeiten des Krieges, erschienen 2023 bei C.H. Beck in München, den Versuch unternommen, die Biographie von Michel Eyquem de Montaigne aus externen Quellen nachzuzeichnen, um den so gefundenen Lebensweg mit Montaignes Essais abzugleichen. Herausgekommen ist eine durchaus beachtliche biographische Skizze, die auch vor dem Hintergrund aktueller Diskussionskultur zum Nachdenken anregt.

Im ersten Kapitel zu Herkunft und Jugend, der den Zeitraum von 1533 bis 1548, werden die Familienverhältnisse und die frühe Jugend von Montaigne betrachtet. Zweifel wirft vor allem die Schilderung Montaignes von seiner eigenen Erziehung Zweifel auf: nach eigenem Bekunden will er von einem deutschen Hauslehrer ohne Französischkenntnisse Latein als Primärsprache erlernt haben. Das dürfte tatsächlich ebenso dem Reich der Legende angehören wie die noble Abstammung der Familie Eyquem. Tatsächlich waren die Mitglieder der Familie vor allem als Kaufleute und Juristen beschäftigt; erst der Großvater erwarb das Schloss Montaigne, nach dem sich sein Sohn dann benannte. Seine Familie bemühte sich gewissermaßen darum, als autodidaktische Aristokraten endlich im Adelsstand anzukommen

Das zweite Kapitel deckt die Jahre 1549 bis 1570 unter der Überschrift Karrierehoffnungen, Karrierebrüche ab. Hier wird die widerwillige Aufnahme juristischer Studien durch Montaigne betrachtet wie auch seine Präferenz für das doch eher aristokratische Landleben. Eindrücklich wird seine schwärmerische Freundschaft mit dem viel zu früh verstorbenen Etienne de la Boétie beschrieben, dessen Tod auch die ersten literarischen Betätigungen bei Montaigne ausgelöst hatten. Viel nüchterner werden dagegen seine Heirat und die Familiengründung gewürdigt; in Montaignes eigenem literarischen Wirken tritt seine Ehefrau kaum und seine einzige überlebende Tochter nicht viel ausführlicher in Erscheinung. In diesem Zusammenhang wird auch der Beginn der Karriere von Montaigne als Richter in Bordeaux geschildert, wobei diese Karriere freilich zunächst nicht sehr weit führte und vielmehr schon recht bald im Rückzug Montaignes aus kommunalen Querelen in die Ruhe des Landlebens einmündete.

Im dritten Kapitel wird dann die eigentliche Lebensbeschäftigung Montaignes in den Blick genommen, nämlich seine Tätigkeit als schriftstellernder Edelmann in den Jahren 1571 bis 1580. Hier analysiert Reinhardt die verschiedenen Sammlungen von Montaignes Essais und auch seine möglichen Motivationen und Zielrichtungen. Letztlich waren die Essais immer thematisch begrenzte Abhandlungen, in den Montaigne seine Gedanken zu bestimmten Themen wie Erziehung, Ehe, Freundschaft äußerte, nachdenklich, bisweilen humorvoll, nicht immer widerspruchsfrei, aber stets achtsam vor zu großer Entschiedenheit.

Das vierte Kapitel beschäftigt sich dann mit Montaignes Reise nach Rom in den Jahren 1580 bis 1581, mit denen er die kirchliche Bestätigung der Glaubenskonformität seiner Essais einholen wollte, die dann aber von einer Wahl Montaignes zum Bürgermeister von Bordeaux beendet wurde – wobei nach wie vor offenbleibt, ob diese Wahl nun die Rückkehr Montaignes beschleunigt oder eher verzögert hat.

Im fünften Kapitel wird die Tätigkeit Montaignes als Bürgermeister von Bordeaux in den Jahren 1581 bis 1588 nachgezeichnet. Obwohl er dieses Amt nicht angestrebt zu haben schien, scheint er sich dann dennoch aktiv um eine Wiederwahl bemüht zu haben. Im Amt selbst scheint er freilich, wie Reinhardt es ausdrückt, als »ehrlicher Makler« zwischen den Interessen der unterschiedlichen Parteiungen, des Königs, der Kaufmannschaft, der Protestanten und der Aristokratie gewirkt zu haben. Zugleich hat ihn die Tätigkeit aber auch nicht von der Abfassung weiterer Essais abgehalten.

Das sechste Kapitel ist den letzten Jahren im Leben Montaignes unter dem Titel Ruhe und Resignation gewidmet. Es beschäftigt sich mit der Verheiratung seiner Tochter, aber auch mit seinem Kontakt zu einer glühenden Verehrerin, die als Multiplikatorin seines Werkes fungiert zu haben scheint.

Das Buch wird durch eine Zeittafel, einen Apparat von Anmerkungen, ein Literaturverzeichnis, ein Verzeichnis der Bildnachweise und ein Personenregister ergänzt.

Beeindruckend an Reinhardts gut lesbarem Werk ist die mit großem Fleiß aus externen Quellen rekonstruierte Biographie eines „authentischen Montaigne“. Natürlich haben die Essais für das Bild von Montaigne größte Bedeutung, geben aber eher über sein Wesen und seinen Charakter Aufschluss, während sie als Zeugnis biographischer Fakten nur eingeschränkte Tauglichkeit besitzen. Montaigne wird hier durchaus lebendig, wenn auch nur weiterhin eingeschränkt wirklich fassbar, da auch die externen Quellen nicht in jeder Hinsicht Klarheit verschaffen und auch Montaigne in seinen eigenen Äußerungen aus reinem Selbsterhaltungstrieb eine zu große Klarheit vermeidet.

Bisweilen irritiert es allerdings vor diesem Hintergrund, wenn Reinhardt selbst als Biograph diese Klarheit erzwingen zu wollen scheint: so hat sich Montaigne beispielsweise – in Anbetracht der Religionsstreitigkeiten seiner Zeit nur allzu verständlich – in der Darstellung seiner eigenen religiösen Überzeugungen zurückgehalten, was Reinhardt freilich in eine – unstreitig nirgendwo von Montaigne geäußerte – Grundablehnung der Religion selbst deutet. Das wirft durchaus die Frage auf, warum sich Reinhardt hier als religionskritisches Sprachrohr des religiös zurückhaltenden Montaigne berufen fühlt, während er sich bei anderen Themen, die Montaigne im Uneindeutigen beließ, eben mit der Uneindeutigkeit begnügte. Freilich ist aber hier auch für den Rezensenten ein: „Que sais-je?“ angebracht.

Wie bereits eingangs erwähnt, mag einem die Erinnerung an Montaigne auch vor dem Hintergrund aktueller Debatten verschiedene Anregungen verschaffen. Akute Gefahren für Leib und Leben muss heute freilich – anders als zu Zeiten Montaignes – keiner fürchten, aber die Heftigkeit und Emotionalität in der Diskurskultur mag einem bisweilen durchaus – wie bei Montaigne – den Rückzug auf das Land als reizvoll erscheinen lassen, vor allem dann, wenn – wie bei Montaigne – dort auch eine gut ausgestattete Bibliothek vorhanden ist. Gleichwohl sollte man sich bei derartigen Anflügen von Weltschmerz durchaus wiederum eine Weisheit von Montaigne hinter die Ohren schreiben: »Am jetzigen Verfall hat jeder von uns seinen eigenen Anteil.« Zudem: „Que sais-je?“

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Pressestimmen

„Präzise und überaus lesenswerte historische Kontextualisierung“
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Thomas Macho

„Fast nebenbei gelingt Reinhardt ein beeindruckendes Panoramabild des von Glaubenskriegen und Machtkämpfen zerrissenen Frankreichs des 16. Jahrhunderts, vor dessen Hintergrund Montaignes Leben und Denken erst plastisch und greifbar wird.“
Cicero, Alexander Grau

„Reinhardt lässt sich nicht um den Finger wickeln. Mit beeindruckendem Spürsinn entwirrt er das Knäuel aus List, gezielten Abschweifungen und Täuschungsmanövern in Montaignes Schriften“
Die ZEIT, Marianna Lieder

„Von den taktischen Finessen des Michel de Montaignes, von seinen Verschleierungen und den seine Kritiker in die Irre führenden Täuschungen handelt diese sorgfältig recherchierte Biografie.“
ND Der Tag, Harald Loch

„Das ist anregend, erhellend, auch zum Widerspruch einladend.“
Der Standard, Alexander Kluy

„Volker Reinhardts Biografie … zeigt den Menschen Montaigne in seiner Zeit und kann dazu verführen, ihn wieder zu lesen oder seine Essays ganz neu zu entdecken.“
SWR 2 Lesenswert Magazin, Holger Heimann

„Beeindruckend … rekonstruiert aus vielerlei Quellen und fundierter Kenntnis die tatsächliche Biografie Montaignes“
Tagesspiegel, Erhard Schütz

„Wie in seiner vor einem Jahr erschienenen Voltaire-Biografie verzichtet Reinhardt auf die Diskussion der Sekundärliteratur, leserfreundlich lässt er sich in seiner Lebenserzählung einzig durch Verweise auf Montaignes Meisterwerk leiten.“
DIE WELT, Wolf Lepenies

„Volker Reinhardt schildert Montaignes Leben konsequent vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund und rückt das Bild des einsamen adligen Gelehrten Montaigne zurecht.“
Neue Zürcher Zeitung, Thomas Ribi
Sachbuch-Bestenliste von WELT, NZZ, RBB Kultur und ORF im März 2023

„Zeigt Michel de Montaigne als einen faszinierenden Menschen, der uns noch heute allerhand über Sitten lehrt.“
„Damit räumt Volker Reinhardts so gründliche wie lesbare Biografie endlich auf: Der Historiker beleuchtet den ‚fremden‘ Montaigne des 16. Jahrhunderts.“
Philosophie Magazin, Jutta Person

„Wer sich mit Michel de Montaigne erst anfreunden will oder längst angefreundet hat, ist gut beraten, zu Volker Reinhardts neuer Biographie zu greifen.“
Wiener Zeitung, Michael vom Hove

„Reinhardt gelingt es sehr gut, die bis heute anhaltende Faszination der Essais auf eine solide historische Grundlage zu stellen.“
Badische Neueste Nachrichten, Georg Patzer

„Würdigt Montaigne einfühlsam als Weisen seiner Zeit.“
Falter, Thomas Leitner

Volker Reinhardt ist Professor für Geschichte an der Universität Fribourg. Für sein Lebenswerk wurde er 2020 mit dem Preis der Kythera-Kulturstiftung ausgezeichnet.

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Christoph Stumpf

Prof. Dr. Dr. Christoph Stumpf ist Jurist und Theologe. Ursprünglich aus Franken stammend, ist er inzwischen mit seiner Familie, Hunden und Pferden nördlich der Elbe ansässig geworden. Beruflich ist er als Anwalt tätig, in seiner Freizeit befasst er sich mit Kirche, Küche und Kindern.

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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Emaille und Porzellan. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: Montaigne. Philosophie in Zeiten des Krieges

Autor: Volker Reinhardt

Verlag: C.H.Beck

Verlagslink: https://www.chbeck.de/reinhardt-montaigne/product/34312704

ISBN: 978-3406797415


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