Die erstaunlichen Sinne der Tiere: Erkundungen einer unermesslichen Welt

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Buchvorstellung von Bertram Graf v. Quadt

Ich weiß nicht, ob es mein Lieblingsbuch ist. Dazu muss es noch reifen. Aber mit einiger Sicherheit ist es das Lieblingsbuch der Rehe und Wildschweine in meinem kleinen Schwarzwaldrevier. Es hat einer ganzen Reihe von ihnen das Leben verlängert, weil ich, völlig in die Seiten vertieft, deren Anwesenheit nicht mitbekommen habe.

Wie so oft beschreibt der deutsche Titel des Buchs nur unzulänglich, worum es darin geht: Die erstaunlichen Sinne der Tiere. Das klingt nach Kinder- oder Jugendbuch. Aber was der amerikanisch-britische Wissenschaftsjournalist Ed Yong in dem Buch mit dem Originaltitel An Immense World beschreibt, ist so viel mehr: die unermesslich große Welt, die weit über unser Begriffsvermögen hinausreicht, die sich den Tieren und ihren Sinnen erschließt.

„An immense World“ – Ed Yong, (Sunday Times Besteller), Vermillion 2022, Englisch, ISBN 978-1-5291-1211-5

Yong zitiert ziemlich am Anfang des Werks den US-amerikanischen Philosophen Thomas Nagel und dessen Essay: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? Nagel schrieb darin 1974: „Ich will wissen, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein. Aber wenn ich versuche, mir das vorzustellen, bin ich auf die Möglichkeiten meines Gehirns angewiesen, und diese Möglichkeiten reichen für diese Aufgabe bei weitem nicht aus.“ Denn wie soll ein Mensch fühlen können, dass eine Fledermaus bestimmte Haarzellen auf den Flügeln hat, die als mechanische Strömungssensoren fungieren und nur anschlagen, wenn der Luftstrom nicht von der vorderen Flügelkante nach hinten, sondern genau umgekehrt fließt, mithin also ein Strömungsabriss droht?

Wie soll der Mensch fühlen, warum eine Schlange züngelt? Dabei rotiert sie mit den Enden ihrer gespaltenen Zunge 10-20 mal in der Sekunde und sorgt so für einen invertierte Wirbelschleppe, die Duftstoffe direkt auf die Zungenspitzen leitet. Die schmecken aber nicht, die riechen, und durch diesen Wirbelkanal erzeugt die Schlange ein dreidimensionales Geruchsbild ihrer Umgebung.

Wie soll der Mensch fühlen können, warum eine Robbe einen Hering auf fast 200 Meter orten kann? Ihre „Schnurrhaare“, die Vibrissen, können kleinste Änderungen in der Wasserströmung auf große Distanz orten und sind dabei so geformt, dass sie selbst keinerlei Strömungsverwirbelungen erzeugen.

Yong beschreibt in Zusammenarbeit mit einer Vielzahl von Wissenschaftlern beispielsweise die ungeahnten Klangwelten, die „treehopper“ – Buckelzirpen – durch Vibrationen auf Pflanzenteilen erzeugen und die teilweise wie Musik klingen. Er erzählt, dass Elefanten mit den Zehen hören, Welse mit dem gesamten Körper schmecken, die Raupe des Maskierten  Birken-Sichelflüglers Drepana arcuata ihren Anus am Blatt reibt, um andere Artgenossen herbeizulocken oder die Embryonen des Rotaugenlaubfrosches ab den Alter von vier Tagen vorzeitig zu Kaulquappen werden können, sobald sie spüren, dass eine Schlange sie als Froschlaich fressen will.

Er berichtet, dass bestimmte Schlupfwespenarten mit ihrem Legestachel tasten, riechen und schmecken können, um so bestimmte Neuronencluster im Hirn ihres Wirtstieres zu treffen. Er erzählt, wie der Knuttstrandläufer mit drucksensorischen Zellen seiner Schnabelspitze Muscheln aufspüren kann, die tiefer im Sand vergraben sind als der Schnabel reicht und dass die Honigbiene Raupen von Nektarpflanzen vertreibt, in dem sie sich benimmt wie ein Raubinsekt.

Das alles erzählt Ed Yong in einer so spannenden und eingängigen Sprache, dass ich als Leser auf dem Hochstand sitze und nicht aufhören kann zu lesen – und dabei merke ich, welch grobschlächtiger Fremdkörper ich in dieser immensen, ungeahnten, kaum ahnbaren Welt bin, die sich die Tiere mit ihren unglaublichen Sinnen erschließen. Er macht mir klar, dass ich als sogenannte Krone der Schöpfung nur ein winziger Teil dessen bin, was mir angeblich untertan ist. Und dann weiß ich, dass mir nichts untertan, sondern allenfalls etwas anvertraut ist. Mich dem auch nur im Ansatz würdig zu erweisen, das ist eine Lebensaufgabe. Und jetzt sage mir: kann es eine bessere Hochstandlektüre für einen Jäger geben?

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Ed Yong

© Urszula Soltys

Ed Yong, geb. 1981, ist Wissenschaftsjournalist und schreibt für The Atlantic. Seine Berichterstattung über das Coronavirus wurde mit dem Pulitzerpreis und dem George Polk Award geehrt. Er veröffentlichte Artikel und Reportagen u.a. auch in National Geographic, New Yorker, Wired, Nature und der New York Times. Zuletzt erschien Winzige Gefährten (2018), ein New-York-Times-Bestseller. Er lebt in Washington DC.

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Bertram Graf v. Quadt

Man kann sich gegen schwere erbliche Belastungen nicht wirklich zur Wehr setzen. Damit war die Jagd unausweichlich. Beim Blick in die Generationen gibt es auf weite Sicht keinen männlichen Vorfahr – und nur wenige weibliche – die nicht gejagt hätten. Vater, Mutter, beide Großväter und so weiter und so fort – alles Jäger, und zum Teil hochprofilierte Jäger: der Vater meiner Mutter, Herzog Albrecht v. Bayern, hat die bedeutendste Monographie des 20. Jahrhunderts über Rehwild verfasst („Über Rehe in einem steirischen Gebirsgrevier“) und darin mit viel Unsinn über diese Wildart aufgeräumt. Meine Mutter war an den Forschungen dazu intensiv beteiligt, gemeinsam mit meinem Vater hat sie die Erkenntnisse im gemeinsamen Revier im Allgäu umgesetzt. Nun will und muss aber jeder junge Mensch rebellieren. Ich habe mir dafür aber nicht das jagdliche Erbe ausgesucht, sondern die Schullaufbahn, das nie begonnene Studium, das Ergreifen anrüchiger Berufe (Journalist, pfui!) und anderes mehr. Und ich kann im Rückblick sagen: das war die richtige Entscheidung.
https://wykradt.com/

 


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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Porzellantassen. Weitere Informationen hier.

Titel: Die erstaunlichen Sinne der Tiere: Erkundungen einer unermesslichen Welt

Autor: Ed Yong

Übersetzung: Sebastian Vogel

Verlag: Verlag Antje Kunstmann GmbH

Verlagslink: https://www.kunstmann.de/buch/ed_yong-die_erstaunlichen_sinne_der_tiere-9783956145148/t-0/

ISBN: 978-3-95614-514-8

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