von Nico Böer
Man kann kaum behaupten, die Algarve sei die Heimat raffinierter Küche – im Gegensatz zum benachbarten Andalusien, wo das Angebot an Tapas die die Vielfalt aufwendiger regionaler Gerichte nur erahnen lässt. Der Rio Guadiana ist somit nicht nur territorialer Grenzfluss, sondern stellt auch die Scheidelinie grundverschiedener Prinzipien der Kochkunst dar.
Während in Spanien manche Rezepte mit der raffinierten Konservierung der Zutaten Monate zuvor beginnen und generell eher aufwendig sind, fragt sich der Portugiese: „Soße zum Fisch? Wieso, ist der Fisch etwa schlecht?“ Bezeichnenderweise heißt denn auch die einzige Soße, die zu (gegrilltem) Fisch serviert wird – und dies auch nur auf Anfrage – Molho espanhol und besteht aus Olivenöl, in dem Paprika, Knoblauch und Petersilie erhitzt wurden. Was auf den ersten Blick einfallslos erscheint, stellt sich jedoch bei genauerer Betrachtung als rigoroses Prinzip heraus, das so übel nicht ist: zusammenstellen, was passt, und möglichst wenig an den hervorragenden Rohstoffen und Zutaten verändern.

Außer Petersilie, grünem Koriander, Oregano, Lorbeer und Pfefferminze finden Kräuter in der traditionellen Algarve-Küche kaum Verwendung, obwohl Thymian, Rosmarin, Fenchel, Bohnenkraut, Pimpinelle und viele andere teils flächendeckend wild wachsen und Basilikum als Fensterschmuck allgegenwärtig ist.
Kennzeichen dieser Küche sind großzügiger Umgang mit Knoblauch, Olivenöl und gutem Weinessig und eine tiefe Abneigung gegen alle den Eigengeschmack der Speisen verändernden Zutaten und Verarbeitungsweisen. Häufig verwendet wird auch Piri-piri aus Capsicum in unterschiedlichen Zubereitungen, das in keinem Haushalt fehlt und vermutlich wie Hühner-Curry (Caril de galinha) und vermutlich ein Überbleibsel glorreicher Kolonialzeiten ist.
So erklärt sich, dass es keine Algarve-typische Spezialität gibt – außer der wirklich vorzüglichen Caldeirada, ein Fischtopf einfachster Herstellung. Man kann ihn mit der bekannteren Bouillabaisse nicht vergleichen, wohl aber vorziehen. Die in den Reiseführern unermüdlich empfohlenen Carapaus alimados mögen zwar typisch für die Region sein, aber eingesalzene Stöcker, hernach gekocht, gehäutet, mit Zwiebelscheiben belegt und mit viel Essig übergossen sind nicht unbedingt überraschend. Ebenfalls als kulinarisches must gilt die Cataplana, eine spektakuläre Doppelpfanne aus Kupfer oder Aluminium, gefüllt mit Wurst- und Schinkenstückchen, Muscheln und Krustentieren, wobei vor allem letztere die Küche meist besser schon gestern durch die Hintertüre verlassen hätten.
Die guten Beispiele dieser an sich einfachen und schmackhaften Küche sucht man in Restaurants vergeblich – besser, man verkriecht sich in eine der vielen Tascas in der näheren Umgebung. Das sind Tante-Emma-Läden mit angeschlossener Kneipe und einem schattigen Plätzchen hinterm Haus, wo man auf Vorbestellung gut und preiswert essen kann.

In Küstennähe – wir reden von maximal 500 Metern Distanz zum oberen Flutsaum – isst man gegrillten Fisch, dazu Salat und frisches Weißbrot.

Der kommt dann direkt vom Boot und sollte nicht jünger als drei Stunden sein, sonst fischelt er, weil er zu frisch ist. Auch Austern und andere Muschelarten kommen hier just ausgebuddelt auf den Tisch. Dazu passt ein eisgekühlter Vinho verde aus dem Minho im Norden, der tagsüber auch bei heißem Wetter gut verträglich ist. Mutigere Naturen wagen sich an den Vinho caseiro, den hausgemachten Wein der Wirtsleute.

Ist die Küste in ihrem Angebot durch die Fischerei geprägt, kann man das hügelige Hinterland, die Serra, als Domäne der Jäger und Kleinbauern betrachten.

Hier ist die Heimat der Ensopados und Açordas. Das sind kräftige Eintöpfe mit viel Soße oder Brühe, die auf frischem oder geröstetem Brot serviert werden. Empfehlenswert sind Ensopado de cabrito von der jungen Ziege und die Açorda die galinha, eine Hühnersuppe, in der Kichererbsen gegart werden, vor dem Servieren mit Eigelb legiert und mit grünem Koriander gewürzt. Eigentlich ein uraltes Bauerngericht, war die Açorda lange in Vergessenheit geraten. Auf seltsame Weise erlebt sie seit drei Jahren eine Renaissance. Die Wiederentdeckung geht dem Vernehmen nach auf ein Ereignis am Ende eines Jagdausflugs zurück.
Dazu muss man wissen, dass die eigentliche Motivation der ganzen Jägerei eher in den abschließenden Gelagen besteht, zu denen man sich am frühen Nachmittag zusammenfindet.

An bestimmten Tagen des Jahres sind Stare zum Abschuss freigegeben und werden für gewöhnlich zahlreich zur Strecke gebracht. Eine beliebte Art der Zubereitung ist Açorda de tordos, Starensuppe, ein Gericht, dessen Seltenheit allein Grund für seine Beliebtheit sein mag. Natürlich schwört jede Gruppe von Jägern auf die Kochkünste einer anderen Wirtsfrau im Hinterland. In deren Tasca fallen sie nach dem Halali mit ihrer Beute ein und überlassen ihr das Rupfen und Ausnehmen mehrerer Dutzend Piepmätze, auf deren Verzehr jeder vernünftige Mensch aus Gründen der Arbeitsersparnis verzichtet.

Inzwischen testen die Hubertusjünger fachkundig die Qualität des vinho caseiro, der für die Auswahl der Tasca eine mindestens ebenso große Rolle spielt wie die kulinarische Qualität des Lokals.
An jenem denkwürdigen Tage der Wiederentdeckung des Suppenhuhns hatte das Glück die Starenjäger komplett verlassen und die Aussicht auf die langersehnte Spezialität zunichte gemacht. Da aber nun einmal der Erfolg eines Jagdausflugs auf gutem Essen und Trinken beruht und man zumindest diesbezüglich nicht unverrichteter Dinge nach Hause fährt, kam ein pfiffiges Mitglied der Gesellschaft die Idee, die fehlenden Stare durch einen Vogel zu ersetzen, der es zumindest in puncto Zähigkeit mit ihnen aufnehmen kann. Die Wahl fiel auf die älteste Legehenne der Wirtsleute, denn „Galinha velha faz bom caldo“ – alte Henne gibt gute Brühe; eine nicht von der Hand zu weisende Tatsache, deren rustikale Doppeldeutigkeit ihr zum Status des Sprichworts verholfen hat.
Das Ergebnis also hieß Açorda de galinha und war dermaßen überzeugend, dass sich in der Folge aufgrund von Versorgungsengpässen die Preise für alte Legehennen mehrmals verdoppelten und das Ganze zu einem regelrechten Kultgericht wurde. Die Gruppe oberster Richter, Staatsanwälte und leitender Ministerialbeamter, die jedes Jahr am Rosenmontag 600 Kilometer von Lissabon bis in die Algarve und zurück fahren, nur um dort in meiner Stamm-Tasca am Meer zu essen: was hatten sie dieses Jahr statt der üblichen Meeresfrüchte bestellt? Açorda de galinha!

Portugiesische Gourmets betrachten eben selbst ein Armeleutegericht als kulinarisches Ereignis.
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Nico Böer
Hans-Nico Böer (* 2 November 1951; † 22 August 2011) lebte seit 1977 in einem portugiesischen Naturschutzgebiet. Seine Nachbarn waren Muschelzüchter, er selbst vertrieb naturbelassenes und öko-zertifiziertes Meersalz von der Atlantikküste der Ost-Algarve unter dem Label Marisol. Es mag eine Fügung des Schicksals sein, dass der charismatische Unternehmer in seiner Küche verstarb, dem Ort, an dem er sich am liebsten aufhielt, und es sollte uns trösten, dass sein Ableben seinem ganzen Leben ähnelt: schnell, intensiv, aber ohne Leiden.

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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es nicht nur eine Facebook-Gruppe, sondern jetzt auch Outdoor-Becher aus Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: Häuptling Eigener Herd Heft 8
Herausgeber: Wiglaf Droste und Vincent Klink
Verlag: © Edition Vincent Klink, 2001
ISBN: 3-927350-06-0
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Die Veröffentlichung erfolgte mit freundlicher Genehmigung von Vincent Klink, Küchengott im Restaurant Wielandshöhe in Stuttgart. Ich empfehle den Besuch seines Gourmet-Tempels.

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