»Kleine rote Fische, die rückwärtsgehen« – Eine Kulturgeschichte der Krebse

Buchvorstellung

Mit ihren starren Panzern, vier Beinpaaren und den zupackenden Scheren sind Krebse faszinierende Tiere. Aufgrund ihres oft delikaten und gesunden Fleisches wurde auf dem KRAUTJUNKER bisher nur ihr Fang und ihre Zubereitung in der Küche oder im Dutch Oven gezeigt.

»Kleine rote Fische, die rückwärtsgehen« – Eine Kulturgeschichte der Krebse ist aus der Perspektive eines Naturforschers geschrieben. Erfährt man auch viel biologisches Wissen, geht es hier nicht vorrangig um den Bau und die Lebensweise dieser Schalentiere, sondern um ihre Natur- und Kulturgeschichte. Um all jenes also, was uns als Menschen mit den Krebsen verbindet.

Sobald sich Heinz-Dieter Franke als Krebsforscher vorstellt, muss er im selben Atemzug erklären, kein Onkologe zu sein, der gegen Krebserkrankungen kämpft. Und anders als ein Krebsmediziner erschließt sich vielen Mitmenschen nicht gleich der Sinn seiner Tätigkeit.

Der Titel »Kleine rote Fische, die rückwärtsgehen« bezieht sich auf eine amüsante Anekdote über den württembergisch-französischen Naturforscher Georges Cuvier (* 1769; † 1832).
»Eine Kommission der französischen Akademie der Wissenschaften hatte für die Herausgabe eines neuen Wörterbuchs die Krabbe als „einen kleinen roten Fisch, der rückwärtsgeht“, definiert. „Großartig, meine  Herren!“ lobte Cuvier. „Aber mit Ihrer Erlaubnis möchte ich als Naturforscher eine kleine Bemerkung dazu machen: Eine Krabbe ist kein Fisch, sie ist nicht rot und geht auch nicht rückwärts. Davon abgesehen ist Ihre Definition absolut korrekt!“«

Da kaum eine andere Tiergruppe existiert, die über so viele unterschiedliche Bau- und Lebensformtypen verfügt, ist es schwer, sie in wenigen Worten zu definieren. Handelt es sich bei Krebsen um »Fische, die rückwärtsgehen«, »Muscheln mit Füßen« oder »Insekten ohne Flügel«? Diese Schwierigkeiten führten zu irreführenden Namen, denn sowohl Seepocken als auch Kellerasseln und Entenmuscheln sind Krebse.

Von den Entenmuscheln erfährt man in dem Buch eine skurrile Verwandlungsgeschichte, die vom 11. bis ins 18. Jahrhundert einen Baum, einen Krebs und einen Vogel verband. So war die Fortpflanzung der Ringelgans, welche als Wintergast vom Herbst bis in das Frühjahr an den Küsten Nordwesteuropas auftaucht, über Jahrhunderte ein Rätsel, da niemand sie jemals Eier legen und brüten sah.


Abb.: Entenmuscheln; Bildquelle: Wikipedia

Da zur Zeit des Eintreffens der Ringelgänse Entenmuscheln auf Treibholz an die Küsten angespült wurde und die zarten Rankenfüße der „Muscheln“ dem feuchten Federflaum von Entenküken gleichen, reimte man sich zusammen, dass die jungen Gänseküken in den Schalen heranwuchsen. Selbst der schottische Universalgelehrte Sir Robert Moray (* 1608 oder 1609; † 4. Juli 1673), Gründungsmitglied und Präsident der Royal Society, behauptete Küken in den „Muschelschalen“ an einem morschen Treibholzstamm auf den Hebriden erkannt zu haben. Carl von Linné hat 1758 diesen Mythos im wissenschaftlichen Artnamen der in Norwesteuropa häufigsten Entenmuschel (Lepas anatifera) verewigt: anatifera bedeutet Gänsebringer. „Follow the science war immer schon nur der aktuelle Stand unseres Halbwissens. Ist heute bei einer Falschmeldung der Medien von einer Ente die Rede, tritt dieser Mythos wieder hervor, da man in der Fastenzeit angeblich aus Muscheln schlüpfende Enten essen durfte.

Den meisten von uns sind Krebse vor allem als zumeist hochpreisige Delikatessen wie Hummer Thermidor auf unseren Tellern wie bekannt. So faszinierte mich besonders das Kapitel Zwischen Armeleuteessen und Luxusspeise. Über Geschmack lässt sich schlecht streiten, da er sich einer rationalen Betrachtung entzieht.

Abb.: „Der Krebsfang“ (Kräftfångst) von Carl Larsson um 1895; Bildquelle: Wikipedia

»Aber abgesehen von persönlichen Vorlieben und Abneigungen hat sich die Wertschätzung bestimmter Speisen über Zeit und Raum hinweg immer wieder grundlegend gewandelt. Speisen, die in manchen Regionen oder zu manchen Zeiten nur in allergrößter Not gegen den Hunger verzehrt wurden oder den armen Bevölkerungsschichten zur möglichst billigen Sättigung dienten, waren andernorts oder zu anderen Zeiten Volksnahrung oder sogar eine nur den Wohlbetuchten vorbehaltene Luxusspeise. Eindrucksvoll illustriert wird dies durch  die unterschiedlich und wechselnde Einstellung zum kulinarischen Wert des Hummers.«

Kurz gefasst war ein gekochter Hummer, zumindest seit dem Barock, in Europa die gefeierte Zierde an der Tafel der feinen Welt.

Abb.: Alexander Coosemans Stilleben mit Früchteschale, Hummer, Pokal und Kanne um 1660; Bildquelle: Wikipedia

An der Ostküste Kanadas sowie der späteren Neuengland-Staaten hingegen führte ihr Überangebot sowie ihre enorme Größe dazu, dass sie man sie für die Schweinemast und zur Düngung des ausgelaugten Bodens verwendete. Noch jahrhundertelang wurden sie als Speise nur Waisen, Witwen, Gefangenen und Dienstboten zugemutet.
»Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte man in manchen Gegenden der kanadischen Seeprovinzen die soziale Zugehörigkeit von Schulkindern am Belag ihrer Schulbrote erkennen: Die Brote der Kinder ärmerer Eltern waren mit Hummerfleisch belegt, die der Kinder aus besser situierten Familien mit teurer Erdnussbutter bestrichen.«
»Kaum jemand ist gegen die Selbstsuggestion gefeit, die ihn glauben lässt, dass etwas, das er teuer erstanden hat, auch ein herausragendes Geschmackserlebnis vermittelt oder andere erhoffte Nebenwirkungen zeitigt. Ob eine Speise oder ein Wein – ein besonderer Wohlgeschmack stellt sich oft erst ein, wenn der Tester über deren hohen Preis informiert ist.
Lebenskluge und praktische Menschen haben diesen Zusammenhang schon immer erkannt. So verspottete etwa der römische Satiriker Juvenal (ca. 60-130 n.Chr.) jene Gourmetes, denen immer das am besten schmeckte, was gerade am teuersten ist.«

Entgegen den Objekten unserer kulinarischen Begierden sind die meisten Krebstiere nur zentimeter- oder auch nur millimetergroß, wobei man den winzigen Rankenfüßern zugestehen muss, dass sie, relativ zu ihrer Körperlänge, über die größten Begattungsorgane des Tierreichs verfügen. Der größte auf Land lebende Krebs ist der auf pazifischen Inseln lebende Palmendieb (Birgus latra) mit bis zu fünf Kilogramm Gewicht und vierzig Zentimetern Körperlänge. Seine Beißkraft ist mit 3.300 Newton doppelt so stark wie die eines Löwen.

Abb.: Palmendieb; Bildquelle: Wikipedia

Aufgrund ihres Außenskeletts mit seiner fremdartigen Form und ihren bedrohlichen Scheren empfanden die Menschen in unterschiedlichen Kulturen seit Urzeiten Krebse als Symbole von Unverwundbarkeit und Kampfbereitschaft.

Abb.: Krebs auf den Galapagos-Inseln; Bildquelle: Mackenzie Cruz auf Unsplash

So ist es nicht verwunderlich, dass das gepanzerte und bewaffnete Tier die Wappen von Städten oder jene von Patrizier- und Adelsgeschlechtern zieren.

Abb.: Wappen der Familie Melem; mächtige Patrizier aus Frankfurt am Main; Bildquelle: Wikipedia

Der katalanische Künstler Salvador Dali (* 1904; † 1989) sah in Krebsen Symbole seiner paranoiden Ängste vor weiblichem Kannibalismus und Kastration. Der französische Philosophen Jean-Paul Sartre (* 1905; †1980) litt über viele Jahre an Alpträumen, in denen ihn Krabben und Langusten peinigten.

Da mich die japanische Kultur besonders fasziniert und beeindruckt gefällt mir vor allem die Geschichte Heikegani, die man auch Samurai-Krabben nennt. Die Samurai-Krieger des Heike-Clans, welche im Jahr 1185 eine wichtige Seeschlacht verloren, sprangen von ihren Kriegsschiffen in den Ozean, um der Schmach der Niederlage zu entgehen. Einer alten Legende nach schlüpften die Seelen der toten Samurai am Grunde des Meeres in den Körper von Krabben, welche seitdem für ihre Aggressivität gefürchtet werden.

Abb.: Samurai-Krabben, bzw. Heikegani (Heikeopsis japonica) mit menschenähnlichem Gesicht um 1840 in japanischer Kunst; Bildquelle: Wikipedia

Der Rückenpanzer einer Samurai-Krabben erinnert seitdem an die drohend-grimmigen Gesichtszüge der Masken, welche Teil der Samurai-Rüstungen waren.
»Als „Krabben mit menschlichem Antlitz“ spielen sie eine wichtige Rolle in der japanischen Folklore und sind im heutigen Japan ein beliebtes Tattoo-Motiv.«

Der von Heinz-Dieter Franke erwähnte Horrorfilm Attack of the Crab Monsters von 1957 kenne ich leider nicht…

Beim Lesen von »Kleine rote Fische, die rückwärtsgehen« erinnerte ich mich an den beängstigenden Monsterkrebs aus der grandiosen Comic-Reihe über John Difool.

Abb.: Eine der besten mir bekannten Comic-Reihen

Die von Heinz Dieter Franke geschaffene Verbindung von Naturwissenschaften und Kulturgeschichte empfinde ich als gleichermaßen informativ und unterhaltsam. Zugegeben, Nature Writing ist es nicht, da man kaum persönliches vom Autor erfährt. Im Gegensatz zu einigen anderen aktuellen Neuerscheinungen verzichtet der Professor jedoch größtenteils auf sperriges Gendern und erhobene Zeigefinger, was meinen Lesegenuss sehr zugute kommt. Ich habe das Buch in recht kurzer Zeit mit großem Genuss gelesen und wünsche ich mir jetzt zu Weihnachten Salvador Dalis Hummertelefon!

Abb.: Lobster Telephone; Bildquelle: Wikipedia

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Pressestimmen

[Die] Vielfalt und Farbenpracht [der Krebse] werden dagegen noch viel zu wenig wertgeschätzt, findet Heinz-Dieter Franke. Dessen Buch deshalb nicht nur Kulturgeschichte, sondern fast schon eine Art Liebeserklärung an die Krebse ist.
―NDR Kultur

Ein wunderbares und vielfältiges Buch über Krebse.
―Spektrum.de

Kleine rote Fische, die rückwärts gehen von Heinz Dieter Franke offenbart, was Menschen mit Krebsen verbindet.
―ZEIT Wissen

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Heinz-Dieter Franke

Heinz-Dieter Franke, geboren 1950, leitete bis zum Eintritt in den Ruhestand eine Arbeitsgruppe an der Biologischen Anstalt Helgoland/Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) und lehrte als apl. Professor für Zoologie an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte bildeten die Fortpflanzungsbiologie und Ökologie wirbelloser Meerestiere, insbesondere der Krebse.


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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Porzellantassen. Weitere Informationen hier.

Titel: »Kleine rote Fische, die rückwärtsgehen« – Eine Kulturgeschichte der Krebse

Autor: Heinz-Dieter Franke

Verlag: Mare Verlag

Verlagslink: https://www.mare.de/buecher/kleine-rote-fische-die-ruckwartsgehen-713

ISBN: 978-3-86648-713-0

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