von Wladimir Kaminer
Armenien ist ein Land von der Größe Niedersachsen, dafür aber von großer Schönheit. Das armenische Volk ist berühmt für seine überschäumende Gastfreundschaft, seine dreitausend Jahre alte Kultur und seine traditionsreiche Küche. Nicht umsonst stieg Noah nach der Flut auf dem Berg Ararat aus der Arche und erkor so Armenien zur Wiege der Menschheit. Trotz dieser Qualitäten oder gerade deswegen wurde das Land seit Anbeginn der Zeit von Eroberern aller Couleur überfallen. Römer und Perser, Türken und Araber überzogen Armenien mit Gewalt, vertrieben und terrorisierten die Bevölkerung. Heute leben in Amerika und Westeuropa mehr Armenier als in Armenien selbst. Die vielen dunklen Tage konnten dem armenischen Volk jedoch seine Lebensfreude nicht austreiben. Die armenische Gastfreundschaft gegenüber Fremden hat keinen Schaden erlitten, jeder ist in Armenien herzlich willkommen, abgesehen von den Bürgern der unmittelbaren Nachbarländer.
Im zwanzigsten Jahrhundert wurde Armenien mehrmals unabhängig. Nach der Niederlage der deutschen Armee im ersten Weltkrieg 1918 zogen sich die Türken aus dem Kaukasus zurück, der Bürgerkrieg brach aus, die Engländer besetzten Baku und erschossen dort die legendären sechsundzwanzig Kommissare Bakus, unter denen auch einige Armenier waren, bevor sie wieder verschwanden. Danach wurde die unabhängige bürgerliche Republik Armenien gegründet.
Zwei Jahre später wurde das Land noch einmal unabhängig – als sowjetische sozialistische Republik. Die armenische Küche, eine der ältesten der Welt, bekam einen Ehrenplatz im Kochbuch des sozialistischen Imperiums. Besondere Merkmale dieser Küche sind Salate, Gras und Gewürze, die in der restlichen Welt als nicht essbar gelten, die originell zubereiteten Fleischgerichte, die zarten Süßigkeiten und das Nationalgetränk, der Kognak Ararat.
Dieses Getränk sorgte für die ersten Erfahrungen, die ich mit Alkohol gemacht habe – auf dem Balkon im sechzehnten Stock eines Neubaus, während ich meinen Schulkameraden Arthur besuchte, um angeblich mit ihm zusammen Hausaufgaben zu erledigen. Seine Mutter arbeitete als Kellnerin in einem armenischen Restaurant in Moskau. In der Sowjetunion war es Sitte, nach Feierabend Kleinigkeiten von der Arbeit mit nach Hause zu nehmen, zum Andenken an einen gelungenen Arbeitstag. Arthurs Mutter brachte täglich fünfjährigen Kognak der Marke Ararat nach Hause. Sie hatte sich mit diesem Getränk bereits für den Rest ihres Lebens eingedeckt und längst den Überblick über ihre Vorräte verloren. Auf Einladung von Arthur tranken wir zu zweit, beide damals noch minderjährig, auf dem Balkon seiner Wohnung eine Flasche aus.
Der Ararat schmeckte so süßlich, dass wir Kinder ihn nicht als giftigen Alkohol identifizierten und, ohne es zu merken, schnell betrunken wurden. Arthur fing an, mit Topfpflanzen zu jonglieren, bis auch die letzte heruntergefallen war. Ich fühlte mich wie ein Fallschirmspringer, der zufällig auf einem falschen Balkon gelandet war. Alles drehte sich, der Boden löste sich unter meinen Füßen auf, ich musste mich übergeben. Abschließend wurden wir noch von Arthurs Mutter kräftig verdroschen. Es war jedoch eine wichtige Erfahrung. Seitdem trinke ich nie wieder armenischen Kognak auf einem Balkon im sechzehnten Stock.
***
Anmerkungen
Von KRAUTJUNKER existiert eine Facebook-Gruppe
Titel: Küche totalitär – Das Kochbuch des Sozialismus
Autor: Wladimir und Olga Kaminer
Verlag: Manhattan
ISBN: 978-3442546107
Verlagslink: https://www.randomhouse.de/ebook/Kueche-totalitaer/Wladimir-Kaminer/Manhattan-Hardcover/e430937.rhd
Zeichnungen: Vitali Konstantinov
Weblink Illustrator: http://www.pittore.de/
Ein Kommentar Gib deinen ab