Rezeptvorstellung des Goswin von Mallinckrodt
Es gehört zu den Mysterien der postmodernistischen Gesellschaften des Westens, dass viele Supermärkte schon im September Schokonikoläuse und Lebkuchen in ihre Regale stellen. Spätestens zum Ersten Advent, ausgerechnet in der hektischen Vorweihnachtszeit, wird dann von uns erwartet, gefälligst sowas wie „Besinnung“ aufkommen zu lassen oder zumindest zu derselben zu kommen. Zum Beispiel auf einem der überfüllten Weihnachtsmärkte. Und natürlich ohne einen einzigen freien Werktag. Sogar der ewig nostalgische Nikolaustag wird uns in dieser „besinnlichen Zeit“ als Feiertag vorenthalten! Doch dann, >zack!<, kaum sind die beiden Weihnachtsfeiertage rum, sind alle Weihnachtsmärkte abgebaut, viele Tannenbäume entsorgt und die meiste Deko wieder eingepackt. Dabei beginnt doch gerade jetzt, sofern die Feiertage nicht alle ausgerechnet ins Wochenende fallen, eine wundersame Zeit kollektiven Nichtstuns. Der geschäftliche Mail- und Telefonverkehr kommt weitgehend zum Erliegen und bis Neujahr oder Dreikönig verlieren die meisten Mitmenschen jegliches Zeitgefühl. Manche wachen sogar erst Mitte Januar wieder aus ihrem Winterschlaf auf.
Dabei zeigt ein Blick ins traditionelle Kirchenjahr, dass die Weihnachtszeit eigentlich noch bis zum 2. Februar, dem Fest der Darstellung des Herrn, alias Mariæ Lichtmess, dauert (obwohl das Zweite Vatikanische Konzil den Weihnachtsfestkreis in einer seiner spaßbremsenden Maßnahmen offiziell schon mit dem Sonntag nach Dreikönig, dem Fest der Taufe des Herrn, enden lässt). Sogar der Heilige Petrus höchstselbst scheint, nur um uns belehren zu wollen, den Winter in den letzten Jahren immer später einbrechen zu lassen. Denn wo sind Lebkuchen, Krippen und Weihnachtsmärkte, wenn es wirklich mal schneit?
Wie gut haben es da die Armenier! Spätere Klimaverschiebungen womöglich schon vorausahnend feiert das älteste christliche Volk der Welt Weihnachten schon seit jeher erst am 6. Januar, also an Epiphanias, unserem Dreikönigsfest, ihrem „Surb Znund“ („Heilige Geburt“). In der Diaspora profitieren sie vorher freilich noch von der allgemeinen, zwölftägigen Weihnachtsverzückung, um dann in aller Ruhe ihr eigenes Hauptfest zu feiern. Ein Fest im Besten der zwei Welten.
Dabei können sie außerdem auf eine kulinarische Allzweckwaffe zurückgreifen: Imrig Helva oder einfach nur: Helva. Sein Genuss ist durchaus nicht auf die Weihnachtszeit beschränkt, vielmehr dienen eigentlich fast alle Feier- und Gedenktage, ja sogar Beerdigungen, als Vorwand dazu, diesen köstlichen Nachtisch zuzubereiten und im Kreis der Familie zu verzehren. Für westliche Gaumen hat Imrig Helva aber trotzdem einen sehr „weihnachtlichen Geschmack“. Vor allem bei den heute in der Diaspora lebenden Westarmeniern, deren Familien während des türkischen Völkermords im Ersten Weltkrieg aus ihrer angestammten Heimat in der heutigen Ost-Türkei fliehen mussten, erfreut sich Imrig Helva größter Beliebtheit. Trotz eines meist unbedingten Willens zur Integration, der teilweise bis zur Selbstverleugnung gehen kann, stellt es in der armenischen Diaspora eine tröstliche Verbindung zur verlorenen Heimat her. Dabei ist Helva oder Halva als Süßspeise durchaus keine armenische Erfindung, sondern in mehreren Variationen von Indien bis in den Balkan bekannt und beliebt – und, jawohl, auch in der Türkei. Das hier nach Großmutters Rezept beschriebene Imrig Helva wird auf Basis von Gries („Imrig“) hergestellt und ist deutlich milder und leichter als die trockeneren und festeren Varianten auf Sesam-Basis.

Die Zutaten:
60 g Butter
Pinienkerne
Zimt
1 Tasse Grieß
1 Tasse Milch
1 Tasse Wasser
1 Tasse Zucker (oh ja, richtig gelesen!).
Die Zubereitung:
Zunächst nehme man zwei Töpfe. In den einen wird das Wasser, der Zucker und die Milch gegossen, verrührt und solange erhitzt, bis es leicht zu köcheln anfängt.
Dann nehme man den zweiten Topf, lasse darin die Butter schmelzen und gebe dann den Grieß und einen Schuss Pinienkerne dazu. Dies rührt man bei mittlerer Hitze solange um, bis die Masse eine leicht goldbraune Farbe erhält.
Jetzt, Achtung, nimmt man den ersten Topf und gießt diesen, weiterhin bei mittlerer Hitze, langsam in den zweiten und rührt und rührt und rührt.
Schließlich erhält man eine immer festere, teigartige Masse, die sich von der Topfwand vollständig gelöst hat. Voilà!
Beim Servieren, schön warm oder auch eiskalt, zerfällt sie meist in kleinere und größere Klumpen.
Zum Schluss kann man, je nach Geschmack, noch ein bisschen Zimt darüber streuen und somit auch noch Anfang Februar in Weihnachtsstimmung bleiben.
In diesem Sinne: Gesegnete Weihnachtszeit oder Քրիստոս ծնաւ ու յայտնեցաւ (Christos dznav yev haydnetsav).
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Über Goswin von Mallinckrodt, Autor dieses Blogbeitrages

Goswin von Mallinckrodt (geb. im Dezember 1980) ist eine Mischung aus westfälischem und armenischem Uradel. Die Familien mütterlicherseits flüchteten vor den Türken nach Frankreich, weshalb er eine eingefleischte Pariserin als Mutter hat. Geboren ist er allerdings in Würzburg und lebt heute als Kulturtouristiker, Illustrator und (Kunst-)historiker auf der Gamburg in Tauberfranken (www.burg-gamburg.de).
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Anmerkungen
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Trinken in Armenien mit Wladimir Kaminer:
https://krautjunker.com/2017/05/11/kueche-totalitaer-armenien/