von Wolfgang Bivour
So ganz genau weiß ich nicht, wie es eigentlich richtig ist: Die einen behaupten, über Geschmack lässt sich nicht streiten, weil ja die Geschmäcker – zum Glück – so verschieden sind, dass ein Streit völlig sinnlos wäre und zu keinem befriedigenden Ende zu bringen sei. Die anderen meinen, gerade wegen der Verschiedenartigkeit ließe sich über Geschmack trefflich streiten, einfach der Unterhaltung wegen, auch wenn von vornherein eine Schlichtung nahezu aussichtslos scheint. Mir ist es auch ziemlich gleichgültig, ob man nun so oder anders sagen müsste. Von solchen Streitigkeiten, die nichts bewirken als dass man sich vielleicht über die Sturheit seines Widerparts schwarzärgert und sich die gute Laune vermiesen lässt, halte ich ohnehin nicht viel. Über den Geschmack von Pilzen oder Pilzgerichten streite ich grundsätzlich nicht, jedenfalls nicht ernsthaft. Da sage ich meine Meinung und fertig. Ernte ich Zustimmung, habe ich nichts dagegen, wenn nicht, bereitet mir dies keine schlaflosen Nächte. Soll sich der Streithammel doch an seinem Riesen-Porling gütlich tun! Solange er mit dem Verzehr dieses Muffpilzes beschäftigt ist, lässt er wenigstens die Steinpilze in Ruhe. Wenn mir neunundneunzig von einhundert Pilzessern beipflichten, kann ich wohl nicht so daneben liegen und muss wegen der hohen Zustimmung kein schlechtes Gewissen haben. Da war das mit dem Neunundneunzigkommairgendwas-Prozent-Ergebnis bei den Wahlen zur Volkskammer der DDR schon etwas anderes.
Ich denke, dass sich die Redensart, um die es hier geht, auch und vor allem auf allgemeine Befindlichkeiten, wie den Zeitgeschmack, die Mode oder ähnliches bezieht. Vielleicht bescheinigt man mir guten Geschmack, wenn ich einen Pferdeschwanz oder Zopf wie Karl Lagerfeld oder eine Mähne wie Che Guevara trage oder mit einer Glatze wie Telly Savalas herumlaufe, wenn ich mein Zimmer mit teuren Stilmöbeln oder solchen mit Obstkistendesign á la IKEA ausstatte. – Alles eine Frage der Sichtweise des Betrachters. Habe ich mir eine hübsche Blondine geangelt, möglichst jung und knackig, nach der sich alle Welt umdreht, wird mir guter Geschmack bescheinigt. Oder man ist entsetzt, dass sich die junge Schönheit mit so einem alten Zausel abgibt, der zudem nicht mal Millionär ist und keine Hochseeyacht besitzt, ja, nicht mal ein Ruderboot sein Eigen nennt. Reiße ich einen Zotenwitz zu unpassender Gelegenheit, bin ich vielleicht geschmacklos, oder der Witz ist es, oder man sagt einfach, dass dies eine Geschmacklosigkeit sei.
Hier ließe sich sicher noch ein Weilchen philosophieren. Nur beherrsche ich diese Kunst höchst unzureichend und will deshalb lieber davon Abstand nehmen, den Geschmack weiter zu beleuchten.
Wenden wir uns lieber wieder den Pilzen zu! Jede Art besitzt einen ihr typischen Geschmack, oder, besser gesagt, charakteristische Geschmackseigenschaften, die wir Pilzverzehrer mit dem uns eigenen Geschmack oder den Geschmacksnerven schmecken. Jawohl! Einig sind sich Kenner über die treffliche Qualität des Steinpilzes, der besonders getrocknet sein hervorragendes Aroma entfaltet, über die fein-würzige Note des Champignons und den angenehm leicht pfeffrigen Geschmack der begehrten Pfifferlinge, von den Trüffeln ganz zu schweigen – obwohl ich hier nicht gar zu kraftvoll in das Horn der Trüffelliebhaber blasen würde. Nun ja, Trüffel ist nicht gleich Trüffel und ganz jungfräulich hinsichtlich der Verkostung bin ich nicht. Man will ja mal probiert haben und mitreden können. Dann fängt man am besten mit der Sommer-Trüffel an, die man sich als Normalverdiener schon mal leisten kann – es werden ja nur ein paar Gramm benötigt, um sie gerieben aufs Toastbrot oder über die Spaghetti fein zu verteilen. Aber der exorbitante Preis für die Weiße Trüffel schlägt bereits bei kleinster Menge heftig ins Kontor. Da übe ich mich lieber in Askese.
Ähnliche Preise erzielt in Japan der Matsutake, der bei uns unter dem Namen Krokodil-Ritterling bekannt ist. Matsutake heißt nichts anderes als Kiefernpilz, weil er als Symbiont gern unter Kiefern wächst, aber sich wohl auch mit einigen Laubbäumen verträgt. Die Japaner haben eine ganz besondere Beziehung zu diesem Pilz entwickelt, der einen wahren Kultstatus genießt. Der Beginn der Verehrung dieses Pilzes liegt schon mehr als tausend Jahre zurück. Zunächst den Adligen vorbehalten und als besonderes Geschenk dargeboten, kamen später auch begüterte Kaufleute auf den Geschmack. Noch heute gilt der Matsutake als teures Geschenk für besondere Wertschätzung. Und nebenbei lässt sich damit so manche Tür in die gehobene Gesellschaft, in die Wirtschaft oder Politik öffnen. Durch massiven Eingriff und damit verbundene Veränderungen der Waldstrukturen wurde die geschätzte Köstlichkeit jedoch in Japan bald zur Rarität, was den Preis mächtig in die Höhe trieb. Es blieb nicht lange verborgen, dass der Pilz auch anderswo zu finden ist, in China, Korea oder Nordamerika. Es bildeten sich Sammelcamps und Lieferkettenstrukturen, über die die begehrte Fracht nach Japan gelangt. Die Artbezeichnung der ausländischen Matsutake ist bis heute noch ziemlich diffus und unübersichtlich. Jedenfalls erzielt die importierte Ware meist nur einen Bruchteil des Erlöses aus einheimischen Pilzen. Auch wenn der Pilz in Europa vorkommt – machen Sie sich keine Hoffnung auf ein florierendes Geschäft! In Deutschland ist der Krokodil-Ritterling eine große Rarität und bisher nur im Süden belegt. Er hat aber offenbar eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Halsband-Ritterling, der ebenfalls bei Kiefern wächst. Dieser ist zwar in den Pilzbüchern als selten verzeichnet, wurde aber in den letzten Jahren häufiger gefunden. Vergreifen Sie sich nicht an ihm, er ist giftig!
Sollten Sie mir in einer schwachen Stunde einmal besonders zugeneigt sein, dann wäre ich für eine Portion Matsutake dankbar!
Noch viele andere Pilzarten werden von den verschiedenen Pilzbuchautoren einmütig als ausgezeichnet oder besonders empfehlenswert gepriesen.
Doch auch in der Küchenmykologie gilt die alte Weisheit „Probieren geht über Studieren“. Womit ich nicht sagen will, man sollte sich wahllos durchs Pilzreich hindurch fressen. Das wäre sicher eine fatale Empfehlung, deren Befolgung einen längeren Krankenhausaufenthalt oder Schlimmeres nach sich ziehen könnte. Selbstverständlich kommen fürs Probieren nur eindeutig als nicht giftig identifizierte Arten in Betracht. Für die persönliche Kategorisierung der Pilze nach kulinarischen Gesichtspunkten ist nun mal der eigene Gaumen der beste Prüfstand. Denn was uns im Pilzbuch da so alles als essbar offeriert wird, muss noch lange nicht jedem gefallen. Schließlich ist ein Pilzbuchschreiber auch nur ein Mensch. Und er verlässt sich auf sein eigenes Geschmacksempfinden. Vielleicht hat er auch all die Pilze, die er uns schmackhaft machen will, gar nicht gekostet! Vielleicht hat er einfach hier und da ein bisschen abgeschrieben, wie wir weiter oben bereits gelesen haben. Wer will das schon beweisen? Während bei den wohlbekannten und viel verzehrten Arten allgemeine Einmütigkeit herrscht – sonst würden ihnen nicht alljährlich Hunderttausende Pilzjäger nachstellen – reicht die Bewertungsskala bei weniger bekannten und nicht so edlen Pilzen für ein und dieselbe Art von schmackhaft oder schlicht essbar bis ungenießbar. Manchmal ist man sich nicht einmal einig, ob man den einen oder anderen Pilz nicht besser als giftig einstufen sollte!
Die Nebelkappe ist dafür ein Beispiel. Ausprobiert habe ich sie vor vielen Jahren. Sie macht ihrem Namen alle Ehre. Zum Ersten ist ihr Hut grau in grau gefärbt, mal heller wie milchig-weißer Bodennebel, mal dunkler wie ein trüber Nebeltag, und zum Zweiten wächst sie eben gerade dann, wenn die Oktober- und Novembernebel übers Land wabern. Dann schickt sich der Pilz an, besonders dort, wo zu anderer Zeit kaum etwas zu holen ist, in Scharen oder Hexenringen den Waldboden zu bevölkern. Mit seinem am Stielgrunde üppig wuchernden Myzel umspinnt er Nadeln und Blätter und hält sie krampfhaft fest, wenn man ihn hochnimmt. Zur richtigen Zeit könnte man mit ihm im Handumdrehen einen Riesenkorb füllen. Aber kaum jemand will ihn. Dabei sieht er nicht einmal unappetitlich aus. In alten Pilzbüchern wird er als wohlschmeckender und ergiebiger Speisepilz gelobt. Die neueren Autoren begnügen sich damit, ihm mäßige Geschmacksqualitäten zu bescheinigen, und vergessen dabei nicht, darauf hinzuweisen, dass er nicht jedem gleichermaßen wohl bekommt. Um diese Feststellung zu treffen, sollte man ihn zuvor wenigstens einmal verspeist oder zumindest den Versuch unternommen haben.
Als Pilzberater wird man oft nach dem Geschmack der Pilze gefragt. Gemeint ist damit meistens, ob das Pilzessen eine wahre Gaumenfreude verspricht oder ob man die ganze Prozedur der Zubereitung lieber gleich vergessen sollte. Da ist die eigene Erfahrung mehr wert als die Meinung der Pilzbuchautoren, die ja ohnehin jeder nachlesen kann. Mit dem Vermerk „essbar“ weiß ich, sofern das Buch nicht bereits an Altersschwäche leidet und noch neueren Datums ist, zwar mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit, dass ich die Pilzmahlzeit überleben werde, mehr aber nicht. Interessant ist doch eher, ob sich die Mühen des Sammelns und Zubereitens überhaupt lohnen oder ich die Pilze lieber gleich stehen lassen und meinen Rücken schonen sollte.
Einmal ging ich daran, ein Stück jungen Riesen-Porlings zu einer feinen Pilzbrühe auskochen zu wollen, wie es in einem Pilzbuch empfohlen wurde. Das aufdringlich muffige Arbeitsergebnis wanderte wegen Ungenießbarkeit anschließend in den Orkus. Andererseits kenne ich inzwischen ein paar ganz Hartgesottene, die den Pilz aus freien Stücken und ganz ohne Zwang in ihr Nahrungsspektrum aufgenommen haben. Respekt! Aber da sind wahrscheinlich die Geschmacksknospen etwas unterentwickelt.
Der riesige Pilz – ich habe ihn weiter oben schon erwähnt -, den man mit seinen fächerartigen, beige-braunen Lappen, die oft rosettenförmig angeordnet sind, vorzugsweise am Grunde alter oder abgestorbener Buchenstämme und deren Stubben entdecken kann, ist nahezu unverwechselbar. Selbst ganz junge Exemplare lassen sich kaum in einen normalen Sammelkorb zwängen. Und ein ausgewachsenes Stück kann schon mal locker um die fünfzig Kilogramm auf die Waage bringen. Da braucht man für den Transport mindestens einen Handwagen oder eine Sackkarre! Obwohl er in manchen Büchern als jung essbar geführt wird, ein einziges Exemplar eine ganze Fußballmannschaft verköstigen könnte, stirbt er in meiner Umgebung, wo er wahrlich nicht selten ist, regelmäßig an Alterschwäche und nicht durch Messerattacken gieriger Pilzsammler. Warum wohl?
Wenn ich bei einer Beratung einen Pilz guten Gewissens in die Kategorie „schmackhaft“, „wohlschmeckend“ oder „lecker“ einsortiert habe, wollen die Leute oft partout wissen, wonach der Pilz schmeckt. Erklären Sie mal jemandem, wonach ein Steinpilz schmeckt! Na? Geben Sie sich keine Mühe! Ein Steinpilz schmeckt eben nach Steinpilz und Krause Glucke nach Krauser Glucke, so einfach ist das! Aber es gibt natürlich auch Pilze, deren Geschmacksnoten sich ziemlich eindeutig solchen aus der Küche zuordnen lassen. Der bereits erwähnte Knoblauch-Schwindling wird seinem Namen gerecht, wie wir unschwer feststellen. Der Mairitterling, dem ein starker Mehlgeruch entströmt, wird diesen auch bei der Zubereitung nicht richtig los. Und der Winterrübling überrascht uns in der Pfanne mit einer leichten Fischnote! Der Geschmack des Schwefel-Porlings, der im Englischen als chicken of the wood oder chicken mushroom bekannt ist, soll dem von Hühnerfleisch nahe kommen. Ich will mich da nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen, weil ja die Geschmäcker verschieden sind. Mit einem richtigen Huhn oder Hähnchen auf dem Teller kann es der Schwefel-Porling dann doch nicht aufnehmen! Das sehen Vegetarier natürlich anders, obwohl sie hinsichtlich des Hähnchen-Geschmacks eigentlich gar nicht mitreden könnten.
Die Pilzesser sind bei der Beschreibung oder Anpreisung ihres Lieblingsgerichtes meist nicht so einfallsreich wie Weinkenner oder zumindest diejenigen, die den Wein verkaufen wollen. Die verstehen sich darauf, die mehr oder weniger hervorragenden Eigenschaften der Weine mit verquasten Beschreibungen ihren Kunden schmackhaft zu machen, auch wenn sich der edle Tropfen für den unzivilisierten Weinmuffel als ein schlimmes Gesöff entpuppen sollte. Da erstrahlt der Wein im Glas in einem kräftigen Rubinrot und zeigt eine herrliche Vielfalt feiner Würzaromen von Vanille und vorzügliche Noten reifer Kirschen und Zwetschgen oder dunkler Waldbeeren. Dem unwiderstehlichen Bouquet entsteigen ganze Phalanxen köstlicher Röstnoten, die den aufmerksamen Trinker nicht nur an Zedernholz und Bitterschokolade, sondern wegen der langen Verweildauer im Fass auch an Tabak, Kakao und Leder, vielleicht gepaart mit einem Hauch von Zimt, erinnern können, wenn seine Sinne hinreichend geschärft sind. Und saftige Tannine lassen den Gaumen harmonisch und ausgewogen in einem langen Finale erbeben. Bei Whisky ist es ähnlich. Aber bevor man da die vielen Geschmacksnoten wirklich verinnerlicht hat, kann man deren Namen gar nicht mehr verständlich artikulieren.
Kennen Sie Hallimasch? Er wächst so von September bis November an lebendem wie totem Holz, oft in großen Büscheln an Baumstubben, und – wenn er sich über Wurzeln im Erdreich hermacht – scheinbar auch aus dem Erdboden und dann meist einzeln in mehr oder weniger großen Trupps. Der Forstmann sieht ihn gar nicht gern, weil er eben nicht nur totes Holz verzehrt, sondern sich auch an lebenden Bäumen gütlich tut und diesen allmählich einen nicht aufzuhaltenden Abgang verschafft. Beim Hallimasch kann man ein paar Arten unterscheiden. Für den Pilzesser ist das aber kaum von Bedeutung. Nur muss man ihn lange genug garen, damit die in ihm enthaltenen Giftstoffe zerstört werden. In den meisten Büchern wird auch nicht vergessen zu empfehlen, dass man das Kochwasser besser wegschütten sollte. Ich halte davon nicht allzu viel, verliert das Pilzgericht damit ja einen Teil der Geschmacksstoffe. Obwohl er als ein guter Speisepilz gilt, gibt es auch Personen, die ihn gar nicht gut vertragen. Wenn Sie ihn bisher noch nicht gegessen haben, sollten Sie sich ihm hinsichtlich der Portionsgröße mit etwas Zurückhaltung nähern!
Wie soll ich Ihnen den Hallimasch schmackhaft machen? Vielleicht so: In der Pfanne besticht er mit einem blassen Grauumberbraun und zeigt im Bouquet mit Düften verrottender Baumwurzeln und feuchter, moosduftgeschwängerter Waldluft, aber auch feinen Aromen wie Maikäferengerling, Hirschkäfersekret und Regenwurmkacke eine erstaunliche Vielfalt. Die lange Verweildauer in der Pfanne beschert ihm eine feine Röstnote angebrannter Zwiebel, geräucherten Wildschweinspecks und im Biss eine angenehme Knorpelkonsistenz. Fermentierte Bestandteile von Lignin und Hemizellulose erzeugen im Abgang ein prickelndes Kratzen im Hals. Bei unsachgemäßer Zubereitung kann der Endabgang etwas heftig ausfallen!
Geht das? Ich glaube eher nicht!
Fragen Sie mich also lieber nicht, wonach ein Pilz schmeckt. Am besten ist es, wenn man fragt, wie der Pilz schmeckt. Da kann ich wenigstens gut oder mittelprächtig oder ekelhaft sagen, oder auch hervorragend.
Das Verspeisen einer Nebelkappe ist leichter gesagt als getan – für mich jedenfalls. Ich hab’s probiert! Ich finde den Geruch des frischen Pilzes schon nicht besonders aufregend. Riecht doch gut, bekomme ich oft bei einer Pilzlehrwanderung zu hören, wenn ich den Pilz den Teilnehmern unter ihr Riechorgan halte. Obwohl mich der süßlich-parfümierte Geruch der Nebelkappe lange Zeit von einer Verkostung abhielt, hatte ich vor vielen Jahren eines Tages doch ein paar ausgewählte Stücke mit nach Hause genommen.
Na ja, als ich sie in der Pfanne hatte, hoffte ich noch auf eine allmähliche Verbesserung der olfaktorischen Bewertung. Fehlanzeige! Auch Frau und Kinder, die sich bei derlei Experimenten alle naselang in der Küche blicken ließen, verkrümelten sich und verspürten offenbar keine Lust, die Prozedur an meiner Stelle fortzusetzen. Denn die Gerüche, die der Pfanne entfleuchten, ließen auch bei ihnen nicht so rechten Appetit aufkommen. Es war gewiss ein Fehler, auch noch ein Pilzstückchen in diesem halbfertigen Zustand zu kosten. Das ging gar nicht! Jedenfalls war ich ziemlich angewidert und konnte den für mich sehr unangenehmen Geschmack ewig nicht loswerden. Bei einer Zwangsverspeisung hätten die Pilze sicher unverzüglich wieder das Licht der Welt erblickt. Vielleicht hätte ich es mit vorherigem Abkochen versuchen sollen. Aber dabei kann man den üblichen Gerüchen ja auch nicht entfliehen. Für mich ist die Nebelkappe ein für alle Mal erledigt, so leid es mir auch tut, dass ich sie bei spätherbstlicher Pilzpirsch stehen lassen muss. Hätte mich der Liebe Gott mit bayerischen Geschmacksnerven ausgestattet, wäre ich möglicherweise fein raus. Das Bergvolk im Süden Deutschlands soll nämlich die Herbstblattln, wie die Pilze dort genannt werden, sehr schätzen. In München gehörten sie früher offensichtlich zu den beliebtesten Marktpilzen. In Berlin habe ich sie noch auf keinem Markt gesehen. Trotzdem kenne ich ein paar Leute, die die Nebelkappe hin und wieder, meistens im Mischgericht verzehren. Auch getrocknet soll sie einigermaßen genießbar sein. Vielleicht versuchen Sie es mal!
Aber bitte klein anfangen und nicht gleich den ganzen Wald plündern! Und ich will nicht vergessen, darauf hinzuweisen, dass manche Pilzbuchschreiber die Nebelkappe neuerdings auch für giftig halten, da es hin und wieder zu mehr oder weniger heftigen Darmbeschwerden gekommen sein soll! Auch hier ist eine ausreichend lange Garzeit angeraten! Am besten ist es jedoch, Sie vergessen die kulinarische Verwertung! Einer seiner Inhaltsstoffe soll nämlich Genveränderungen verursachen können. Andererseits werden ihm aber auch cholesterinsenkende Fähigkeiten zugesprochen. Alles Gute ist eben nie beisammen!
Ein weiteres Beispiel für sehr zweifelhaften Pilzgenuss ist der Sparrige Schüppling. Er gehört zu den büschelig wachsenden Stubbenpilzen, die allesamt gern verwechselt werden. Die größte Ähnlichkeit hat der Sparrige Schüppling mit dem Hallimasch und wird, da letzterer oder zumindest sein Name einen recht hohen Bekanntheitsgrad besitzt, auch vielfach für diesen gehalten. Meistens wird der Sparrige Schüppling als ungenießbar gehandelt. Aber es gibt verschiedene Autoren, die ihn gern verspeist wissen wollen und ihn als essbar führen. Als Parasit im Wurzel- und unteren Stammbereich erscheint er am Fuße alter Bäume oft in großen Büscheln, gern auch in Alleen und zum Verdruss des Kleingärtners an alten Obstbäumen, die er – ähnlich wie der Hallimasch -allmählich zu Fall bringt. Auch wenn er allgemein verbreitet ist, zeigt er sich dennoch ungleich weniger allgegenwärtig als der Hallimasch und gelangt wohl deshalb deutlich seltener in den Sammelkorb. Begegnet war er mir zwar schon oft, aber wegen seines nicht gerade empfehlenden Leumunds hatte ich ihn immer verschmäht.
Vor vielen, vielleicht fünfunddreißig Jahren brachte mir eines Tages ein Pfarrer aus seinem Garten einen ganzen Korb voll dieser schönen Schüpplinge, die ihren Namen den an Hut und Stiel befindlichen kräftigen, sparrig abstehenden Schuppen verdanken, zur Begutachtung. Er hielt sie im Übrigen ziemlich sicher für Hallimasche und wollte nur meine Bestätigung einholen. Die musste ich ihm jedoch verwehren. Nachdem ich ihn über den zweifelhaften Wert seines Fundes aufgeklärt hatte, gab er mir gern eine Probierportion davon ab. Ich wollte endlich wissen, was ich von diesem Pilz zu halten hatte. Wir vereinbarten, uns über unsere Erfahrungen zu unterrichten.
Ich bereitete die jungen und frischen Pilze, wie üblich, in einfacher Weise zu, um den Geschmack pur zu erleben: Putzen, feinblättrig aufschneiden, kurz waschen, mit etwas Zwiebel in heißer Butter braten und mit Salz und Pfeffer würzen. Als das Gericht fertig war, offenbarte sich die Relativität aller Bewertungen. Keine Frage, die Pilze waren essbar, gewiss, eine Vergiftung stand auch nicht zu befürchten. Als Kind wurde mir manchmal Lebertran eingeflößt, den ich nur widerwillig schluckte und dessen scheußlicher Geschmack auf ewig in meiner Erinnerung festgebrannt ist. Heute denke ich, es musste vielleicht sein, Medizin schmeckt nun mal nicht immer nach Sahnebonbon oder Himbeerbrause. Dass Sparrige Schüpplinge eine besonders gesundheitsfördernde Wirkung besitzen, ist nicht bekannt. Und deshalb können sie mir auch gestohlen bleiben. Einmal probiert und als Speise für untauglich befunden! Der Herr Pfarrer kam übrigens zum selben Schluss. Ich muss allerdings gestehen, dass ich das meistens empfohlene Abbrühen – die Pilze werden kurz gekocht, das Kochwasser wird weggegossen – nicht praktiziert hatte. Aber ich halte es für ausgeschlossen, dass sich die Pilze dadurch zu einer Delikatesse gemausert hätten. Ich halte es ohnehin für unsinnig, viertklassige Pilze noch einer aufwändigen Prozedur zu unterziehen, nur um den Würgereiz beim Essen zu mildern. Pilze zu essen ist ja für uns keine Überlebensstrategie.
Apropos Delikatesse, kann sich ein halbwegs normaler Mensch vorstellen, dass die Stinkmorchel eine Delikatesse sein soll, vielleicht beim nächsten Bankett gar als I-Tüpfelchen das kalte Buffet krönt? Ich hielte es eher für wahrscheinlich, dass die erlauchte Gesellschaft den Stänker als Ihhh-Tupfer klassifizierte und die Buffetschlacht boykottieren würde.
Schon als Kind hörte ich davon, dass die Chinesen faule Eier essen. Dass konnte ich mir partout nicht vorstellen. Auf dem Lande aufgewachsen, bekommt man irgendwann zwangsläufig Kontakt mit einem faulen Ei. Auf dem Dorf, wie man so schön sagt – richtiger wäre ja im Dorf – waren Hühner und Enten noch glücklich und konnten sich den ganzen Tag auf dem Hof oder im Gelände herumtreiben, zumindest war es in meinen Kindheitszeiten so. Da passierte es schon mal, dass sie, die gefiederten Zweibeiner, wenn plötzlich ein Ei den Drang hatte gelegt zu werden, das ihnen zugewiesene Nest nicht mehr erreichten und sich ein Ei in eine abgelegene Ecke verirrte und ewig nicht gefunden wurde. Oder sich eine kluge Henne – des permanenten Eientzuges durch den Menschen überdrüssig – vielleicht abseits im Strohschober selbst ein Nest fabrizierte und eine eigene Eiersammlung anlegte, aber zum heimlichen Ausbrüten nicht geneigt war oder das nächtliche Einsperren im Hühnerstall eine dauerhafte Gelegenheit vereitelte. Oder andere widrige Umstände dies verhinderten, vielleicht weil mal eben eine Hühnersuppe auf den Tisch kommen sollte oder Reinecke dazwischen kam … Wie auch immer, irgendwann wurden solcherart vernachlässigte Eier gefunden. Und wir Kinder hatten schon ein Auge dafür, ob sie noch zum Rühren, Spiegeln oder Hartkochen taugten. Die Schale des Eies verliert allmählich ihren matten Glanz. Wenn dann noch Zweifel bestehen, einmal kurz geschüttelt – und der Fall war klar. Hier ist was faul! Dann gab es einen Heidenspaß, die Eier an eine Wand zu werfen und platzen zu lassen. Der Gestank, wenn ein Ei genügend Zeit hatte, um richtig schön faul zu werden, beschert ein Geruchserlebnis, das man so schnell nicht vergisst. Deswegen war die Vorstellung, faule Eier zu verzehren ein Horrorszenario. Inzwischen weiß ich natürlich, dass es sich hierbei nicht um wirklich faule, sondern um in einem Gemisch aus verschiedenen Zutaten und Materialien eingelegte Eier handelt. Ein dreimonatiger Fermentationsprozess konserviert die Eier. Sie sollen dann noch nach drei Jahren genießbar sein! Da sich aber Farbe und Konsistenz ganz erheblich verändern, hält sich die Esslust angesichts eines so behandelten aufgeschnittenen angerichteten Eies bei uns Mitteleuropäern sicher in Grenzen. Ekel-Ei muss nicht sein! Für die Chinesen sind derart geringschätzige Bezeichnungen aber eher ein Beweis für die kulinarische Beschränktheit unseres Kulturkreises.
Die Nordeuropäer, allen voran die Schweden im Norden des Landes und die Isländer, haben aber auch ihre Ekel-Spezialitäten, den Stinkefisch, einen in Salzlake vergorenen Hering, und den verfaulten Hai. Hierbei handelt es sich um den Grönland- oder Eishai, dessen Fleisch, für ein paar Wochen eingegraben, bei der Verrottung eine Fermentierung erfährt und anschließend zum Abtrocknen aufgehängt wird, damit das bei dem Fermentationsprozess entstehende Ammoniak noch vor dem Verzehr entweichen kann. Da er frisch und unbehandelt wegen des enthaltenen Harnstoffes giftig wirkt, wird er so überhaupt erst genießbar. Not oder Hunger oder der Mangel an Bananen machen erfinderisch!
Während einer unserer Islandtouren, es war Anfang August, kamen wir gerade recht zur isländischen Pilzsaison. Ja, Sie haben richtig gelesen! Island hat nicht nur Gletscher, Lavafelder, Geröllwüsten und heiße Quellen! Island hat auch saftige Weiden, Heidelandschaften und sogar Wälder! Letztere nehmen sich zwar hinsichtlich ihrer Ausdehnung von vielleicht zwei bis drei Prozent der Landesfläche und der Baumhöhe im Vergleich zu unseren Forsten eher bescheiden aus, aber immerhin finden sich hier Lärchen, Fichten und auch Kiefern, die von vielen Pilzarten als Symbiosepartner begehrt werden. Am häufigsten jedoch sind Birken anzutreffen, die sich als Pionierbaumart überall dort ansiedeln, wo es Boden und Klima zulassen. Unter ihnen gedeihen natürlich Birkenpilze, oft in großer Anzahl! Aber was heißt unter ihnen? Ja, unter den Moorbirken vielleicht, die schon mal ein paar Meter in die Höhe wachsen können und durch die man sich wie durch ein Gebüsch hindurchzwängen muss. Die Zwergbirken aber stehen mit ihren pilzlichen Begleitern im Größenwettstreit, den Letztere oft für sich entscheiden. Die Augen des Pilzsuchers schweifen über die auf dem Boden kriechenden Zwergbirken, über die sich die Hüte der Birkenpilze wie die Hoxha-Bunker über die albanische Landschaft erheben. Hier ist das Einsammeln leicht. Der Birkenpilz ist wohl der häufigste unter den Speisepilzen, die mit dem isländischen Klima gut zurechtkommen. Aber auch viele andere Arten lassen den einsamen Touristen nicht hungern. Jeder kleine Lärchenhain beherbergt oft eine Menge Goldgelber Lärchen-Röhrlinge – man muss nur zur rechten Zeit kommen! Auch wer Büschel-Raslinge kennt – ihrem Namen verpflichtet büschelig wachsend, von knorpliger Konsistenz und recht schmackhaft – ist in Island genau richtig.
Wenn ich hier und da über Island berichte und die reichlichen Pilzvorkommen erwähne, blicke ich immer in erstaunte Gesichter. Die meisten Leute verbinden Island mit Kälte, Eis und Mistwetter – das Islandtief lässt grüßen! Natürlich gibt es dort Gletscher und mit dem Vatnajökull den größten in Europa. Aber es ist erschreckend, wie die Eisflächen von Jahr zu Jahr kleiner werden. Und Mistwetter? Völlig verregnete Tage sind selten. Im Sommer lässt man auch schon mal die Hüllen fallen.
Auf unseren Wanderungen fanden wir Pilze im Überfluss – Birkenpilze, Raslinge, Lärchen-Röhrlinge, Champignons, sogar Reizker, Pfifferlinge und Steinpilze! Natürlich nur dort, wo entsprechende Vegetation möglich ist. Schließlich hat Island nicht nur den größten Gletscher, sondern auch die größte Wüste Europas. Viele Pilze sind ja bekanntlich nicht auf Bäume, und seien sie noch so klein, angewiesen. Sie begnügen sich mit Grasland oder zumindest einem Substrat mit organischer Substanz, von dem das Myzel zehren kann. Das Museumsdorf Glaumbær im Norden Islands ist von einer Mauer aus Torfsoden umfriedet. Eine Seite grenzt an einen Friedhof. Ausgerechnet hier war die Mauer mit den schönsten Champignons verziert. Da kann man nicht widerstehen! Im Nu war das flugs herbeigeholte Gefäß gefüllt. – Wir legten einen Pilzvorrat im Gefrierfach des Kühlschranks in unserem Camper an – für ein paar Tage geht das schon mal: Putzen Blanchieren, Einfrieren. Die Methode ist natürlich nicht für eine längere Lagerung geeignet. Dafür braucht es einen Tiefkühlschrank!
Eines Tages erwischten wir eine stattliche Kolonie Stockschwämmchen. Jetzt sollte es nicht die übliche Pilzpfanne, sondern mal eine schöne Suppe sein, wofür sich Stockschwämmchen hervorragend eignen. Nun ist man auf einem solchen Urlaubstrip nicht besonders anspruchsvoll und mit einfacher Zubereitung meist mehr als zufrieden. Allzu viel wird für eine Pilzsuppe nicht benötigt. Für mich ist Mehl absolut überflüssig. Und eine pürierte Cremesuppe kommt auch nicht infrage. Ich möchte die Pilze noch sehen und die Stückchen einzeln genüsslich zerkauen können. An den Grundzutaten mangelte es in unseren Vorräten nicht. Nur Speck fehlte! Ich finde, er gehört – vorher schön gebraten – unbedingt in die Stockschwämmchensuppe.
Wenn man sich nicht gerade im Großraum Reykjavik aufhält, kann es mit dem Einkauf schon etwas beschwerlich werden. Ist man im Hochland unterwegs, hat man gar keine Chance. Aber auch entlang der Ringstraße sind die Möglichkeiten sehr beschränkt. Jeden Morgen frische Brötchen kann man vergessen – ein alter Brotkanten tut’s auch!
Irgendwo im Süden schließlich die Erlösung, ein Supermarkt! Gut, Supermarkt ohne Super, aber immerhin … Ich durchforstete die in sehr überschaubarer Anzahl vorhandenen Regale, die mich ob ihrer Warendichte just, als ich dies schreibe, an das Corona-Virus erinnern. Salami in Scheiben – nicht zu gebrauchen. Schinken oder Speck, wie wir es kennen, auch nicht zu finden. Dann etwas, in Plastik eingeschweißt, das an Speckwürfel erinnerte. Die Aufschrift auf dem Etikett konnte ich nicht übersetzen. Isländisch zu erlernen erscheint mir – obwohl zur germanischen Sprachfamilie gehörend – unendlich schwierig zu sein, weshalb ich es nach ein paar Wörtern, die man zur Begrüßung und aus Höflichkeit gebrauchen kann, damit der Isländer sich freut, schnell aufgegeben habe. In Island beherrschen ohnehin die meisten, besonders die jüngeren Menschen das Englische. Die Frau an der Kasse war bereits älteren Semesters und gehörte offenbar nicht dazu. So konnte die Frage, was sich denn hinter dem auserwählten Produkt verbirgt, leider auch nicht zur Zufriedenheit geklärt werden. Egal, ich kaufte die Portion, konnte jedoch den Eindruck nicht loswerden, als würde sich die gute Frau ein wenig amüsieren …
Die Stunde der Wahrheit nahte, die Zubereitung der Stockschwämmchensuppe nahm seinen Anfang. Mal sehen, was ich da gekauft hatte. Die Konsistenz der erstandenen Ware ließ – durch die Verpackung befühlt – noch mehr Zweifel aufkommen, da sie mit den im Gehirn verankerten Vorstellungen von Speck einfach nicht korrespondieren wollte. Dann die Verpackung mit einem Schnitt geöffnet – eine gewaltige Duftwolke erfasste explosionsartig unser kleines Camper-Küchenstudio, Millionen Stänkermoleküle attackierten die Geruchsknospen, Magen und Speiseröhre gingen in Habachtstellung! Jetzt aber erstmal Google konsultiert: Hákarl – fermentierter Hai, super! Was nun? Lebensmittel wirft man nicht weg! Ist Hákarl überhaupt ein Lebensmittel? Wenigstens ein Überlebensmittel? Ich glaube, selbst die Isländer haben keinen Spaß mehr an dem Stänkerhai und legen nur ein paar Packungen ins Marktregal, um die Touristen zu verarschen. Wer weiß? Also schön, wenn wir in Island sind und diese nostalgische Speise schon mal auf dem Tisch haben, wenigstens ein paar Stückchen … So kann man wenigstens mitreden! Konzentration und Würgereiz im Keim ersticken, zart Besaitete zusätzlich Nase zuhalten und hinterher noch einen Brennivín – dann wird es schon gelingen! Die Stockschwämmchensuppe musste ohne Speck auskommen.
Andere Länder, andere Sitten. Und Geschmäcker sowieso.
Aber zurück zur Stinkmorchel. Ich weiß nicht, ob der Gaumen bei einer erwachsenen Stinkmorchel einen großen Unterschied zu den genannten Ekel-Speisen feststellen könnte. Der Gestank einer Stinkmorchel nimmt sich für mich jedoch im Vergleich zu gut abgelagerten faulen Eiern eher bescheiden aus, ohne ihn deswegen gleich in die Klasse der Wohlgerüche stellen zu wollen. Stinkmorcheln sind, denke ich, fast so bekannt wie Fliegenpilze. Während diese durch ihren roten Hut mit den weißen Tupfen weithin leuchten, sind jene allein schon mit der Nase auszumachen. Ihr aasartiger Geruch ist selbst aus respektabler Entfernung nicht zu überriechen. Dieser geht von der dunkelolivgrünen Fruchtmasse aus, die die Kappe der Stinkmorchel überzieht und die Sporen für die Reproduktion der Art enthält. Der Gestank lockt scharenweise Fliegen an, die sich an dem schleimigen Zeug laben, die unverdaulichen Sporen irgendwo wieder auskacken und so für die Verbreitung des Pilzes sorgen. Niemand würde wohl auf die Idee kommen, die Pilze in diesem Zustand zu verzehren. Aber im Jugendstadium, wenn der ganze Pilz noch von einer weißen Hülle umgeben ist und wie ein Eierbovist aussieht, kann man es versuchen. Diese Stinkmorchelembryos heißen seit alters her Hexen- oder Teufelseier, Bezeichnungen, die darauf hindeuten, dass die Metamorphose des Pilzes unseren Vorfahren nicht geheuer gewesen sein muss. Aber auch heilende und stimulierende Wirkungen wurden dem Pilz früher zugeschrieben. Edmund Michael schrieb in seinem zweiten Band Führer für Pilzfreunde von 1901: „In den alten Kräuterbüchern spielt er eine ganz besonders hervorragende Rolle. So wurde er laut der in diesen Büchern befindlichen Berichte von den Zauberweibern zur Bereitung von Liebestränken und dergleichen Pulvern verwendet, von Wunderdoktoren und weisen Heilweibern für mancherlei Gebreste und Krankheiten gebraucht, vor allem aber bei Gichtleiden als Universalmittel gerühmt.“ Der Autor vermerkt außerdem, dass er im September 1886 in Chemnitz in der dortigen Markthalle Stinkmorchel-Hexeneier als Morcheltrüffeln zum Verkauf vorfand.
Im Handbuch für Pilzfreunde, das auf Michaels Pilzführer zurückgeht und heute zu den Standardwerken der Pilzkunde zählt, wird empfohlen, die Hexeneier ohne Haut zu kochen und, in Scheiben geschnitten, wie Bratkartoffeln zuzubereiten. Der italienische Autor Cetto bezeichnet die Stinkmorchel schlicht als ungenießbar, ohne auf ihr Alter Rücksicht zu nehmen, während Frau Bickerich-Stoll in ihrem Büchlein Pilze sicher bestimmt behauptet, die Hexeneier seien gebraten eine Delikatesse, wie ich gleichwohl in einem älteren Buche gelesen hatte, dass sie in Frankreich gebacken als Leckerbissen auf jede feine Tafel kommen.
Ich befand ich mich vor Urzeiten mit meiner Familie zu einem Ferienaufenthalt in Neuglobsow am Stechlinsee, der, unweit von Rheinsberg gelegen, mich immer wieder wegen seines glasklaren Wassers und der ihn umgebenden pilzreichen Wälder magisch anzieht. Schon Theodor Fontane hat ihn auf und in seinen Wanderungen durch die Mark nicht ausgelassen.
Damals sorgte strahlender Sonnenschein tagelang für das herrlichste Badewetter. Da war mit Pilzen nicht zu rechnen – wie so oft mitten im Hochsommer. Auf einer ausgedehnten Wanderung führten uns unsere Nasen in einem schattigen Buchenbestand nahe dem See aber zu einer kleinen Kolonie von Stinkmorcheln. Einige hatten den Zenit ihres Daseins bereits erreicht oder überschritten, sonst hätten wir sie sicher nicht aufgespürt. Einige Kappen noch mit der grünlichen Stänkermasse bedeckt und von schillernden Schmeißfliegen heiß begehrt, andere bereits abgeweidet. Aber auch die kahlen Kappen, die nun ihre wabenartige Struktur zeigen, sind immer noch emsig mit Stinken beschäftigt und laden nicht zum Verzehr ein. Daneben aber entdeckte ich noch eine Reihe jungfräulicher Hexeneier. Weil mit edleren Waldgewächsen nicht mehr zu rechnen war, wollte ich bei dieser Gelegenheit einmal ausprobieren, wie man als Franzose schlemmt. Man will schließlich mitreden können, wie ich schon mehrfach betont habe! Meine zwei Söhne, dem ABC-Schützenalter gerade entrückt, tobten vor Begeisterung in Erwartung der exotischen Mahlzeit, während meine Frau die Nase rümpfte und meinte, sie würde freiwillig auf den für sie vorgesehenen Anteil verzichten.
Im Urlaubsquartier ging es zu Sache. Ich hatte fünf kräftige Exemplare ausgewählt, die ich zunächst von der äußeren Hülle und, so gut es ging, von der darunter befindlichen glibbrigen Gallertschicht befreite. Alsdann wurde das so vorbereitete Innenleben der Hexeneier kurz gekocht. Es roch nach gedämpften Kartoffeln, wie ich es aus meiner Kindheit kannte, wenn im Stall in einem großen, elektrisch betriebenen Topf, dem Kartoffeldämpfer, die Schweinekartoffeln gegart wurden. Der Geruch machte zunächst wenig Lust auf eine Stinkmorchelmahlzeit. Aber ich befand mich ja noch in der ersten Phase der Zubereitung. Zu Beginn der zweiten Etappe, die die Familie nach anfänglicher Enttäuschung mit Ungeduld erwartete, schnitt ich die gekochten Hexeneier, die in ihrer inneren Struktur bereits die Gestalt der entwickelten Fruchtkörper erahnen ließen, in Scheiben und legte diese in eine Pfanne, in der schon heiße Butter brutzelte. Hin und wieder wenden, etwas Salz und Pfeffer – fertig!

Täterätääh! Tusch und Fanfare zum großen Stinkmorchelschmaus! Familie angetreten zum Häppchen-Empfang! Unser jüngerer Sohn fand die Sache furchtbar aufregend und verzehrte seine Ration mit indianischer Tapferkeit und lobte, wohl um mir zu imponieren oder vielleicht um meine Zuneigung nicht aufs Spiel zu setzen, meine Kochkünste, während der ältere ziemlich respektlos etwas wie Hundefraß murmelte, was meine Frau mit einem strafenden Blick ahndete, obwohl sie ihrerseits nun tatsächlich zu meinen Gunsten auf ihren Anteil zu verzichten bereit war. Ich erklärte ihr, dass dies ja wirklich nicht nötig sei. Sie bestand aber hartnäckig darauf, und so durfte ich mich gleich an zwei Portionen laben. Das ungewöhnliche Pilzgericht schmeckte kartoffelähnlich, so wie ein Mittelding aus Pell- und Bratkartoffeln, nur eben von anderer Konsistenz. Ich bestätige hiermit die Essbarkeit von Stinkmorchelhexeneiern. Doch sie als Delikatesse zu bezeichnen, halte ich für reichlich übertrieben. Vielleicht mangelte es mir an der wahren Zubereitungskunst oder an den notwendigen Gewürzen oder einfach an ausreichend sensiblen Geschmacksnerven. Vielleicht ist es aber wie mit Austern: von manchen trotz des zweifelhaften Genusses gelobt – man möchte schließlich zur feinen Gesellschaft gehören -, während andere sich um nichts in der Welt zum Schlürfen überreden lassen!

Wie dem auch sei, auf jeden Fall beschloss ich – und da befand ich mich in seltener Eintracht mit dem Rest der Familie – mich in Zukunft lieber gleich an Kartoffeln zu halten und auch in pilzarmer Sommerzeit auf Stinkmorcheln zu verzichten.

Dieser Beschluss hat inzwischen jedoch Risse bekommen. Im digitalen Zeitalter kann man sich kaum des allgegenwärtigen Einflusses von Internet, Facebook und Instagramm erwehren. Sofern man nicht zu gutgläubig ist und alles für bare Münze nimmt, lässt sich der eigene Horizont sogar erweitern – wenn das überhaupt noch geht! In Foren las ich Berichte von Enthusiasten, die sich lobpreisend über den Stinkmorchelverzehr ausließen. Ich glaube aber, dass da oft auch eine Portion Selbstdarstellung mitschwingt, etwas zu posten, dass anderen die Kinnladen herunterklappen lässt – vielleicht ein bisschen übertrieben ausgedrückt. Davon inspiriert, habe ich zunächst das Innenleben eines Hexeneis, das ich zufällig fand, roh probiert.

Siehe da, es lässt sich essen, etwas an Radieschen erinnernd, nur nicht ganz so knackig. Man kann die Möglichkeit im Hinterkopf behalten, wenn man sich mal im Wald für längere Zeit verirrt. Oder als Gag für die nächste Gartenparty. Es war aber nur ein einziges Ei zu finden, sonst wäre ich gern noch der Empfehlung gefolgt, dünne Hexeneierscheiben knusprig in der Pfanne zu braten. Leider hat das Jahr mir keine weiteren Funde beschert. Im nächsten Jahr vielleicht. Oder Sie probieren es selbst aus!

Dass man auch Pilze essen kann, die in jedem Pilzbuch als ungenießbar eingestuft werden, will ich gleich noch erzählen. Als ungenießbar gilt im Pilzreich alles, was einerseits nicht giftig ist, aber andererseits auch allgemein nicht zum Verzehr geeignet scheint. Am Zunderschwamm zum Beispiel, der fast so hart ist wie das Holz, an dem er wächst, würde man sich glatt die Zähne ausbeißen. Manche solcher harten Vertreter werden – natürlich entsprechend aufbereitet – vor allem in der ostasiatischen Heilkunde verwendet, weil ihnen alle möglichen Heilkräfte oder die Potenz steigernde Wirkungen zugeschrieben werden. Solche Mittelchen sind inzwischen als Pillen, Tinkturen und Salben auch in unseren Breiten allgegenwärtig und zu einem heiß umkämpften Markt avanciert. Aber für die Pfanne taugen sie nicht. Vor dem eher seltenen Tintenfischpilz, der zwar herrlich anzusehen ist, aber im Wettbewerb um den größten pilzlichen Stinker sogar die erwähnte Stinkmorchel übertrifft, wird man freiwillig die Flucht ergreifen. Der sehr strenge Gestank trägt allerdings nicht so weit wie der der Stinkmorchel. Da muss man schon etwas näher herangehen, um die volle Duftnote zu erleben.
Nicht so einfach zu urteilen ist über scharfe oder auch bittere Sachen. Sehr viele Täublinge und Milchlinge, unter denen sich hervorragende Speisepilze tummeln, sind sauscharf. Während diese ungeachtet ihrer Schärfe in Osteuropa haufenweise siliert oder eingesalzen bevorratet werden, wissen wir Mitteleuropäer mit ihnen kaum etwas anzufangen. Dabei sind die meisten nach Meinung der Experten bei entsprechender Vorbehandlung leicht zu entschärfen. Der Paprikapilz oder Rotbraune Milchling beispielsweise ist so einer, den man über Nacht wässern muss, wenn er verwendet werden soll. Aber dann ist er gut zum Einlegen und für Salate brauchbar – vorheriges Kochen natürlich nicht vergessen! Bei einem dieser scharfen Dinger kann man sich jedoch jegliche Vorbehandlung getrost sparen. Der Wollige Milchling, auch Erdschieber genannt, gilt allgemein als ungenießbar, auch wenn vereinzelt schon mal darauf hingewiesen wird, dass er doch nicht so ein Schlimmer sein soll. Auch ich finde, dass er zumindest nicht die allerschlechteste Note verdient.
Die markante Erscheinung des Erdschiebers ist sehr auffällig und fasziniert mich schon ewig. Er steht da, starr und steif und knüppelhart, der kurze Stiel oft zur Hälfte in den Boden eingesenkt, der Hut mal kreisrund und trichterförmig vertieft, im Alter oftmals an einer Seite hochgereckt, als wollte er in den Himmel greifen. Bei ausgewachsenen Exemplaren glaubt man von Ferne, eine Schar weißgefiederter Hühner hätte sich im Wald verirrt. Da ihm Trockenheit nicht gleichermaßen zu schaffen macht wie den meisten anderen Pilzen, steht er manchmal mit seinen Artgenossen ziemlich allein im Wald. Immer ärgerte es mich, dass diese schönen dicken Burschen zu nichts nütze sein sollten, vom Standpunkt des Pilzverzehrers aus betrachtet, versteht sich. Zumal ein einziger leicht für eine ganze Pfanne reicht. Roh hatte ich sie schon öfter gekostet. Der weiße Milchsaft, der bei jungen Pilzen reichlich fließt, schmeckt etwas bitter, kratzt im Halse und macht überdies die Zähne stumpf, wie man es beim Verzehr von Rhabarber gewohnt ist. Das Fleisch aber ist scharf wie Peperoni, dass selbst die Maden keine Freude daran haben. Bis ich bei Michael/Hennig/Kreisel einmal las, dass Wollige Milchlinge, kräftig gebraten, durchaus genießbar seien.
Bei passender Gelegenheit wählte ich ein schönes Stück aus, schälte es, denn in der filzigen Huthaut findet sich allerhand Dreck, der mächtig festsitzt und jeglichen Waschversuchen trotzt – sein Name Erdschieber macht ihm oft alle Ehre -, schnitt es in dünne Scheiben und briet diese in heißer Butter leicht knusprig braun. Und siehe da, gewürzt mit Salz und Pfeffer hatte sich mein ungenießbarer Erdschieber zu einem respektablen Pilzgericht gemausert. Nun will ich keinesfalls behaupten, dass nichts über gebratenen Wolligen Milchling geht, und gebe gerne zu, dass er nur in Pilznotzeiten auf den Tisch kommt. Oder einfach mal zur Abwechslung. Wer will schon immerzu Steinpilze oder Pfifferlinge einschieben? Das wird irgendwann langweilig! Der Erdschieber hat ein völlig anderes Aroma. Fragen Sie mich aber bloß nicht, wonach er schmeckt! Sie wissen doch, nach Erdschieber natürlich! Obwohl – in diesem Fall schießt einem die typische Milchlingsnote ins Geschmacksgedächtnis, die man von Edelreizkern kennt.
Ob Ihnen der Erdschieber aber nun gefällt oder Sie ihn weiterhin unbeachtet lassen, die Erfahrung müssen Sie schon selbst machen!
Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Oder?
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KRAUTJUNKER-Kommentar: Dieses Kapitel ist eine Leseprobe aus dem Buch Eine Portion Stinkmorcheln bitte!
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Wolfgang Bivour

Wolfgang Bivour, geb. 1949 am Harzrand. Neben der Penne Gärtner gelernt (das war zeitweilig in der DDR so). Im Anschluss Studium der Meteorologie. Seit 1976 wohnhaft in Potsdam, seit 1997 in Satzkorn, einem Dorf nahe Potsdam (inzwischen eingemeindet). Pilzberater ist er seit mehr als 45 Jahren und mittlerweile Vorsitzender im Brandenburgischen Landesverband der Pilzsachverständigen
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Anmerkungen

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Titel: Ein Portion Stinkmorcheln bitte! Pilzebrater und Pilzeberater
Autor: Wolfgang Bivour
Verlag: Heimatbuchverlag Brandenburg UG
Verlagslink: http://www.heimatbuchverlag-brandenburg.de/regionalbuecher.htm
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