Stolz präsentiere ich hiermit zwei außergewöhnliche Texte: Zuerst die Beschreibung einer bizarren isländischen Delikatesse: der legendäre Gammelhai. Eigentlich nur verlockend für ausgehungerte Schlittenhunde oder bekiffte Kreuzberger Studenten. Geschrieben von einem der berühmtesten Köche Schwedens, der in seinem Restaurant Fäviken am nördlichen Ende Europas fast nur das auftischt, was in der unmittelbaren Umgebung geerntet, gejagt oder gefischt wurde. Dieser Text ist aus Nordic – Das Kochbuch, der neuesten und vor allem umfassendsten Bestandsaufnahme der skandinavischen Küche. Das Eishai-Rezept ist nur eines von tausenden, zugegeben eines der schrägsten.
Der Journalist und Schriftsteller Morten A. Strøksnes hat sich intensiv damit beschäftigt, mit einem befreundeten Künstler einen Eishai zu fangen. Ein Textauszug aus seinem Werk Das Buch vom Meer oder Wie zwei Freunde im Schlauchboot ausziehen, um im Nordmeer einen Eishai zu fangen, und dafür ein ganzes Jahr brauchen folgt darunter.
Die Titel sind außergewöhnlich interessant für Freunde der skandinavischen Jagd-, Angel- und Esskultur. Ausführliche Rezensionen und weitere Beiträge beider Bücher werden in den kommenden Tagen und Wochen folgen.
von Magnus Nilsson
Isländischer verrotteter Hai – Kæstur Hákarl
Die kühle Meeresbrise bläst mir eine Haarsträhne ins Gesicht. Schon mehrmals hat mich der Regisseur gebeten, die widerspenstige Strähne hinters Ohr zu stecken. Jedes Mal, wenn der Wind nachlässt und ich das Haar wieder nach hinten streiche, kehrt das seltsame Gefühl in meiner Nase zurück. Es ist nicht direkt ein Geruch, sondern eher das Gefühl, etwas einzuatmen, das mehr als nur reine Luft enthält, so als ob die Luft mich in die Nase stechen würde. So als ob man die Badewanne mit einem starken Reinigungsmittel säubern und dabei im falschen Moment einatmen würde. Ein Geruch ist allerdings auch vorhanden, jedoch wesentlich schwächer als erwartet – ein wenig fischig, ein wenig ranzig, ein wenig nach altem Käse und Fischöl und dunklem Hafenwasser, aber insgesamt nicht wirklich schlimm.
Auf einem Holztisch liegen auf einem Pappteller Würfel aus hautfarbenem, festem Fleisch, mit Zahnstochern versehen. Das Fleischstück, wovon sie abgeschnitten wurden, befindet sich zusammen mit einem Messer auf dem Schneidebrett daneben.
Neben mir sitzt ein Mann. Er wirkt sehr vergnügt, reißt Witze und scheint vor der Kamera, die aufzeichnet, wie ich diese uralte Delikatesse entdecke, einen Riesenspaß zu haben.
Nach jedem Bissen Hai grummelt mein Magen ein wenig mehr. Und nach jedem Bissen bittet mich der Regisseur um eine weitere Aufnahme, bei der ich wieder ein Stück zu mir nehmen muss.
Nach jedem Bissen schenkt mir der vergnügte Mann einen Schluck eines stark alkoholischen Getränks in einen Plastikbecher. Stolz und lautstark verkündet er, dass dies das Ergebnis uralter Traditionen und Handwerkskunst sei und perfekt zu hákarl, dem verrotteten Hai, passe. Die blassrote Farbe und der hervorragende Geschmack stammten von einer geheimen Beere, die hoch oben auf Islands Vulkanhängen gepflückt werde. Und dazu käme noch hervorragender, selbst gebrannter Alkohol. Ich bin mir absolut sicher, dass das mit dem Alkohol – vermutlich Schwarzgebrannter, von dem man blind wird – keine Lüge war. Die rote Farbe und der Geschmack sind aber hundertprozentig nicht auf eine geheime Beere zurückzuführen, sondern eher auf den zuckerfreien Fruchtsirup Fun Light, denn der Geschmack von Süßstoff und künstlicher Himbeere lässt sich selbst mit Alkohol, der gut und gerne 75 % hat, nur schwer überdecken.
Die seltsam körperliche Wirkung von Ammoniak verstärkt sich, sobald man die Haistücke isst. Es brennt in meinem Mund, wenn die alkalischen Chemikalien die empfindliche Schleimhaut angreifen – keine brennende Schärfe wie bei Chili, sondern eher mild und im Aroma gar nicht mit manch anderen fermentierten Produkten zu vergleichen. Nur dieses seltsame Brennen ist verantwortlich dafür, dass Uneingeweihte wie ich diese Haihäppchen als ausgesprochen unangenehm empfinden.
Grönlandhai und Riesenhai, aus denen dieses Gericht hergestellt wird, sind Raubtiere. Sie fressen im Laufe ihres ziemlich langen Lebens viel Fleisch und damit reichlich Eiweiß. Die meisten anderen Tiere pinkeln, um überschüssige Nitrate aus der Verdauung von Fleisch auszuscheiden. Diese Haie jedoch tun das nicht: Sie können über 200 Jahre alt werden und pinkeln in dieser Zeit kein einziges Mal. Stattdessen speichern sie das Nitrat im Muskelgewebe. Zum Ausgleich der nitratreichen Harnsäure enthalten die Muskeln des Hais auch ein Stoffwechselprodukt namens Trimethylaminoxid, wodurch das Fleisch für den menschlichen Verzehr extrem toxisch wird. Wer das Fleisch des Grönlandhais trotzdem isst, gerät vermutlich in einen Zustand extremer Trunkenheit, da der Stoff im menschlichen Körper umgewandelt wird. Die Trunkenheit wäre so stark, dass man womöglich selbst nach einer kleinen Fleischmenge sterben würde.
Um den Hai für Menschen genießbar zu machen, wird er am Strand vergraben beziehungsweise in großen Behältern zum Fermentieren gelagert. Nach einigen Monaten werden die Haistücke zum Trocknen aufgehängt, um den perfekten Verwesungszustand zu erreichen. Der Fermentationsprozess und der durch den Wind erreichte Trockeneffekt verwandeln den Großteil der
Nitrate in Ammoniak. Außerdem wird das Trimethylaminoxid zerstört, sodass die Gefahr beim Verspeisen des Fleisches sinkt.
Wem dieses Verfahren eingefallen ist und wer es perfektioniert hat, darüber lässt sich rätseln. Eine ganze Reihe von nicht nachprüfbaren Geschichten erzählt, wie das Ganze unter Umständen vor sich gegangen ist.
Morten A. Strøksnes schrieb in Das Buch vom Meer oder Wie zwei Freunde im Schlauchboot ausziehen, um im Nordmeer einen Eishai zu fangen, und dafür ein ganzes Jahr brauchen folgendes:
von Morten A. Strøksnes
Das Fleisch des Eishais ist giftig und stinkt nach Urin. Früher haben die Eskimos ihre Hunde damit gefüttert, wenn nichts anderes verfügbar war. Nach dem Verzehr verfielen die Hunde in einen Rausch oder waren tagelang gelähmt. Während des Ersten Weltkriegs gab es im Norden vielerorts wenig zu essen, sodass die Menschen nicht wählerisch sein konnten. Eishaifleisch hingegen war mehr als genug da. Wenn man jedoch frisches Fleisch aß oder es nicht richtig behandelte, konnte man einen „Haifischrausch“ bekommen, denn das Fleisch enthält das Nervengift Trimethylaminoxid.
Der Rausch soll an einen extrem starken Alkoholrausch erinnern. Menschen mit Haifischrausch reden unzusammenhängend, haben Halluzinationen, torkeln und führen sich ziemlich verrückt auf. Wenn sie endlich einschlafen, bekommt man sie so schnell nicht mehr wach. Will man solche Nebenwirkungen vermeiden, muss man schnellstmöglich die Hauptschlagader des Eishais durchtrennen, damit das Blut herausläuft. Anschließend kann das Fleisch getrocknet oder in Wasser gekocht werden, das man mehrmals austauscht. Auf Island gilt „hákarl“ als Delikatesse. Dort bereitet man es so zu, dass die Giftstoffe verschwinden, und zwar durch wiederholtes Kochen, durch Trocknen oder indem man das Fleisch vergräbt, damit es fermentiert.
Bitte noch die Anmerkungen lesen, insbesondere den Buchtrailer von Nordic und die Leseprobe von Das Buch vom Meer . Es lohnt sich wirklich. Wie angekündigt werden weitere Beiträge und Rezensionen folgen.
Anmerkungen
Von KRAUTJUNKER existiert eine Gruppe bei Facebook.
***
Titel: Nordic – Das Kochbuch
Autor: Magnus Nilsson
Verlag: Phaidon by Edel
Fotocredit für das Eishai-Foto: © Magnus Nilsson
ISBN: 978-3944297248
Verlagslink: http://www.edel.com/de/buch/release/magnus-nilsson/nordic/ & https://www.prego-shop.de/magnus-nilsson-nordic-kochbuch
Buchtrailer: https://www.youtube.com/watch?v=vQ9rsSv4B_A
Das Buch vom Meer oder Wie zwei Freunde im Schlauchboot ausziehen, um im Nordmeer einen Eishai zu fangen, und dafür ein ganzes Jahr brauchen
Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt; Auflage: 2 (29. August 2016)
ISBN: 978-3421047397
Leseprobe: http://rhspecials.randomhouse.de/microsites/lp/dva-meer/assets/download/meer-buch-leseprobe.pdf
7 Kommentare Gib deinen ab