von Michael Rudolf
Hat eigentlich mal jemand präzis reflektiert, wieso es in Kenner- wie Laienkreisen immer heißt: Wir gehen Pilze suchen? – Wir gehen Pilze finden, sagt ja niemand.
Warum ist das so? Ganz einfach. Es ist der Jagdinstinkt, der sich uns erhalten hat. Ein untrügliches wiewohl auch trügerisches Relikt unseres früheren Daseins als Sammler und Jäger. Sicher, es heißt bisweilen auch: Wir gehen Pilze sammeln. Aber die Kardinalpunkte einer Jagd sind überzeugend genug erfüllt. Vom Zum Teil unchristlich frühen Aufstehen, dem Anlegen waid- und waldgerechter Kleidung (feste Jacken und Hosen, Stetson und Stiefel), der Bewaffnung (Automobil und Taschenmesser), dem konspirativen Ausschwärmen in Topografien, die angeblich nur einem Sammler geläufig sind, dem überfallartig einsetzenden Sammel-, besser: Jagdrausch oder –fieber und der obligatorischen, allerdings selten angemessen objektiven Manöverkritik, welche das erfahrene Erhabene bald ins tosend Profane hinabzieht.
Trotzdem muß relativierend angemerkt werden, daß das Suchen, die Jagd als Handlung, sämtliche verfügbaren Reize ausschöpft. Im Fieberstadium „denkt“ seltenst einer daran, wer und wie es verarbeitet werden soll. Sein Gefühl für Menge und Verhältnismäßigkeit, Raum und Zeit ist außer Kraft gesetzt. Das Bild, das man sich heute vom Sammler zu machen hat, gleicht nicht einem Passanten oder Wanderer, es gleicht vielmehr einem Krieger, dessen Handeln höchste Einfachheit und Sparsamkeit beherrschen und dessen kleinste Bewegung sich mi instinktiver Sicherheit vollzieht. Glauben wir nicht, daß wie nach dem Töten eines bösen Feindes, wenn wir ihm das noch wabbelnde Herz aus dem Thorax schälen und vernaschen, seine Kraft und sein Mut auf uns übergehen, glauben wir nicht auch, daß es mit den Pilzen genauso ist? Wenn sie nicht unsere Feinde sind, so doch Mitarbeiter einer fremden Macht, die vielköpfige Entsorgungsfirma eines globalen Superkonzerns namens Natur, bei dem wir zu gern mitmischen würden. Dabeisein ist alles.
Es ist daher sehr verwunderlich, wenn unverhältnismäßig viele Pilzfreunde vom Zubereiten ihrer Lieblingsopfer keinen blassen Schimmer haben. Schon das Wort Putzen weht ihnen die entsetzlichsten Grimassen aufs Antlitz. Da möchten sie flugs davonlaufen. Auch das Essen, das Genießen des Erjagten führt bei vielen sehr bald zu erstarrender Routine und postkoitaler Apathie. Bei gefülltem Bauch ist schnell verdrängt, daß man vor kurzem noch leuchtenden Blicks die Fruchtkörpertrophäen wie Monstranzen angehoben und dreimal um den Fundort getragen hat. Hinterher bleibt nur die Scham.
Der Reiz des Suchens ist nicht das Finden, sondern das Suchen selber. Der Weg ist das Ziel. Leider kann man kaum auf hinreichende Sicherheiten bauen. Zwar kennt jeder Laie einige botanische Standardsituationen für eine halbwegs erfolgreiche Triebabfuhr, aber dies sind Menschen, die außer Heidrotkappe (Leccinum versipelle), Steinpilz (Boletus edulis), Anisegerling (Agaricus arvensis) und Pfifferling (Cantharellus cibarius) kaum je Artendiversifikation betrieben haben.
Laien wie Profis ist zweierlei gemeinsam. War das Jagdergebnis unbefriedigend, gibt es eine endlose Reihe Gründe. Der glücklose Jäger ist immer Opfer der Umstände.
War die Pilzjagd hingegen erfolgreich, dann erstrahlt die Jägerpersönlichkeit im gleißenden Blattgoldrahmen der Selbstüberschätzung.
Wie schön, daß es Ausnahmen gibt. Sehr leicht macht es uns der Mairitterling, einer der ersten Boten für die Eröffnung der hochoffiziellen Pilzsaison. Wohlwollende Mykologen umschreiben seine Präsenz mit etwa Ende April bis Ende Mai. Mairitterling-Spezialisten hingegen wissen, daß der Pilz exakt zum Georgstag (23.April; daher auch Georgsritterling) erscheint. Außer El Niño oder irgendeine andere Klimakatastrophe machen einen Strich durch diese Rechnung. Man hört da in letzter Zeit einiges.
Am nur wenig besonnenen Waldrand, möglichst unter großzügiger Hainbuchenbeschirmung kann man sich mit ganzen Hexenringen dieser knuddeligen und fleischigfesten Ritterlinge verabreden. Gedrungen bis knollig hat sich der cremeweiße Stiel durchs Blattgold ins Morgenlicht gebohrt und sofort einen buckligen Hut aufgesetzt. Die Insekten halten auf Abstand. Pilze von Anstand, und das sind die Mairitterlinge, halten dafür auf Pünktlichkeit und folgen uns bereitwillig ins Sammelbehältnis. Wer sie einmal in der Hand gehabt hat, verwechselt sie auch nimmermehr mit dem giftigen Mairißpilz (Inocybe patouilliardii). Dessen Muscarindosis ist zwanzigmal höher als beim Fliegenpilz (Amanita muscaria). Das bedeutet: starker Speichelfluß und Schweißausbruch, Schüttelfrost, Gesichtsrötung, Schwindel, Übelkeit, Leibkrämpfe, Durchfall, Sprech- und Sehstörungen bei vollem Bewußtsein. Herzlähmung erst nach acht bis neun Stunden.
Mairitterlinge geht man nicht suchen, man geht sie finden. Keine Spur von der schwitzenden Gier des Pilzjägers. Nur ein leichtes, fast beunruhigendes Gefühl der Befriedigung macht sich breit. Prahlen hat kaum Sinn. Sollte uns doch mal ein Passant auf den Korbinhalt ansprechen, wir ihn die Form abschrecken. Und unsere Auskunft, diese Blätterpilze nachher mit Senf-Meerrettich-Sauce genießen zu wollen, schminkt seine Gesichtszüge mit allen Signalen der Verstörung und, sicher, auch Verständnislosigkeit nach.
Anmerkungen
Dieser Text ist ein Kapitel des großartigen, aber leider vergriffenen Buches „Hexenei und Krötenstuhl – Ein wunderbarer Pilzführer“ von Michael Rudolf, erschienen bei Reclam Verlag Leipzig im Jahr des Herrn 2001. Der Klappentext macht keine leeren Versprechungen, sondern untertreibt: „Eine Entdeckungsreise ins Wunderland der Pilze mit wirklich sehr schönen Gastbeiträgen von Wiglaf Droste, Vincent Klink, Eva Rudolf und Horst Tomayer.“
Sollten beim Verlag mehrere tausend Vorbestellungen für eine Neuauflage eingehen, werden vielleicht neue Ausgaben gedruckt, die Bücherschränke der Pilzsucher dieses Landes ein bisschen schöner und ich von der Geschäftsführung zum Essen mit Nachtisch und Freibier eingeladen.
Ich bedanke mich bei dem Verlag für die Genehmigung zur Veröffentlichung auf meinem Weblog und empfehle einen geneigten Blick in das aktuelle Verlagsprogramm.
Titel: Hexenei und Krötenstuhl – Ein wunderbarer Pilzführer
Verlag: Reclam Leipzig, 2001
Autor: Michael Rudolf (ein ganz Großer, leider schon verstorben)
ISBN: 3-379-01736-1
Link zum aktuellen Verlagsprogramm: https://www.reclam.de/programm
***
Für die Bereitstellung des wunderschönen Fotos bedanke ich mich bei Roland Letscher.
copyright ©Roland Letscher
Wir sind uns bei dem Foto jedoch nicht hundertprozentig sicher, ob es sich um Mairitterlinge handelt.
9 Kommentare Gib deinen ab