von Michael Rudolf
In der Zeit, wo alles die deutsche Teilung feiert oder sich auf Frankfurter Buchmesse-Empfängen aushalten läßt, gewinnen die Lebensstrategien des Hallimasch an sichtbarer Gestalt. Wie eine gefrorene Explosion stemmen sich honig- bis bärenbraune Ständerpilze mit rosa Reflexen und fingernagelfarbenen Lamellen büschelweise aus Holzstümpfen und offenliegenden Wurzeln, als wenn es Medaillen dafür gäbe. Die spermatisch duftenden Hüte amtieren wie gebackene Blumenkohle, anfangs unten weiß verpuppt. Cremigfest, wie aus der Sahnespritze, schlängeln und winden sich die Stiele empor und achten darauf, daß ihre Hütchen einheitlich mit Schokosprenkeln beträufelt sind. Man könnte sie sonst nicht mit dem Sparrigen Schüppling (Pholiota sqaurrosa) verwechseln. Der Vollständigkeit halber hängt meist ein kleineres, über seiner Einsamkeit am Zweig braun gewordenes Blatt zum Trocknen am Hutrand.
Und noch was: Dem zwischen Baum und Borke erscheinenden weißen Pilzgeflecht wird nachgesagt, daß es in Dunkelheit zu phosphoreszieren beginne. Aber wer begibt sich schon gern in den umnachteten Wald, um diese Sache zu überprüfen?
Es kann höchstens passieren, daß Forstwissenschaftler, wie im Jahr 2000 in den USA, einem rätselhaften Baumsterben auf der Spur sind und als Verursacher einem Riesenhallimasch auf die Schliche kommen. Die Beweislast ist erdrückend. Auf neun Quadratkilometern östlich der Stadt Prairie City / Oregon herrscht nämlich nur einer. Und zwar ein Hallimasch, dessen Alter zunächst vorsichtig auf zweitausendvierhundert Jahre und dessen Lebendgewicht noch vorsichtiger auf sechshundert Tonnen geschätzt wird. Blauwal, Saurier, Amöbe und Elefant können da nur staunen.
Seine exorbitante Größe erklären die Forscher mit dem trockenen Klima in Oregon. Nur äußerst selten fruktifiziere der Super-Hallimasch und könne sich daher, von eigenen Nachkommen unbehelligt, immer weiter ausbreiten.
Wie viele im verborgenen Wirkenden macht er wenig Wesens aus sich. Wäre seine unbezähmbare Inklination für die Schmackhaftigkeit der Tannen und Douglasien nicht, die Menschen würden ihm nie auf die Spur gekommen sein. Alle Jubeljahre höchstens packt den Jubilaren der Übermut, dann schiebt er sein Triumphgemüse durch die Halsfasern ans Licht und formt Pilzrunen: Hallimasch was here.
Auf seinen Geschmack sind Forscher wie Sammler kaum scharf: Er sei keine Delikatesse, heißt es unisono. Das ist natürlich grober Unfug. Denn liebevoll gebraten und mit einem roten Küchenwein abgelöscht, ist er eben doch eine, und mit viel Pfeffer dran schmeckt er besonders scharf. Vielleicht liegt es daran, daß man Pilzen ausgeprägteren Eigengeschmack übelnimmt.
Übel nimmt man ihm auch seine Eigenschaft als Saprophyt. Seine brunierten Fühler mit der weißen Füllung katakombisieren das Erdreich und peilen wohlschmeckende Baumwurzeln an, balancieren an ihnen empor und testen den restlichen Baum auf seinen Speisewert. Meistens sind es Nadelbäume: Kiefern, Fichten, Tannen. Oder Obstbäume im Garten. Sie können in voller Blüte stehen oder tot sein – Hallimasche machen da keinen Unterschied. Forstwissenschaftler schon. Nutzholz wegknabbern, das mögen sie nämlich nicht. Als intelligente Waldmülltrenner (faules Totholz in sich entsorgen, überflüssigen Moder defigurieren) indirekt für die Verjüngung des Baumbestandes sorgen, das schon. Aber eben nur in Maßen. Aus diesem Grund tischen sie dem Koloß von Oregon jetzt Lärchen und Gelbkiefern auf, die er garantiert nicht mag. Überall müssen sie der Natur ins Handwerk pfuschen. Wenn sie die Zeit dazu hätten, sie würden ihm Kunststücke andressieren und Eintritt verlangen.
Dieser Bursche aus den Blue Mountains ist allerdings nur das jüngste Beispiel einer ganzen Reihe anderer Riesen-hallimasche, die bisher entdeckt wurden, jedoch nicht so stolze Daten aufzuweisen hatten. Am Ende stellt sich heraus, daß unsere blaue Kugel nicht von der Gravitation oder dem zivilisatorischen Grundgedanken, sondern vielleicht nur von Hallimasch-Rhizomorphen zusammenhalten wird.
Wer weiß, ob nicht der Pilz aus Oregon mit seinem Leuchtmycel heimlich Lichtsignale ins Universum blinkt. Ein Hilferuf: Holt mich bloß hier raus! Sie wollen mich auf Diät setzen!
Eines aber ist bombensicher: Er ist absolut der Größte – bis sie einen noch Größeren gefunden haben.
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Anmerkungen
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Dieser Text ist ein Kapitel des leider vergriffenen Buches „Hexenei und Krötenstuhl – Ein wunderbarer Pilzführer“ von Michael Rudolf, 2001 bei Reclam Verlag Leipzig erschienen. Der Klappentext macht keine leeren Versprechungen, sondern untertreibt: „Eine Entdeckungsreise ins Wunderland der Pilze mit wirklich sehr schönen Gastbeiträgen von Wiglaf Droste, Vincent Klink, Eva Rudolf und Horst Tomayer.“ Der leider verstorbene Autor war der einzige Texter, der parallel für das West-Satiremagazin TITANIC und das Ost-Satiremagazin EULENSPIEGEL geschrieben hat. Auf diesem Weblog sind bereits mehrere Beiträge des Autors zu finden, weitere werden folgen.
Ich bedanke mich bei dem Verlag für die Genehmigung zur Veröffentlichung auf meinem Weblog und empfehle einen geneigten Blick in das aktuelle Verlagsprogramm.
Titel: Hexenei und Krötenstuhl – Ein wunderbarer Pilzführer
Verlag: Reclam Leipzig, 2001
Autor: Michael Rudolf
ISBN: 3-379-01736-1
Link zum aktuellen Verlagsprogramm: https://www.reclam.de/programm
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Für die Bereitstellung der wunderschönen Fotos bedanke ich mich bei Roland Letscher.
copyright ©Roland Letscher
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