Buchvorstellung
Der Schein trügt. Was im Gewand eines Abenteuerbuches für junge Männer der 60er Jahre daherkommt, ist viel mehr als nur eine Geschichte von der Jagd auf ein großes Raubtier der Hochsee. Der Titel Das Buch vom Meer wurde dem Eishaiangeln bewusst vorangestellt, denn der norwegische Autor Morten A. Strøksnes verfasste ein literarisches Sachbuch über das Meer, seine Geschichte und seine Bewohner. Mit Macho-Geschichten über große weiße Jäger weist es wenig Ähnlichkeit auf.
Natürlich ist es trotzdem eine Männergeschichte. Schwer vorstellbar, dass sich zwei Frauen ein Jahr lang mit dem ebenso idiotischen wie mörderischen Projekt beschäftigen, die knappen Güter Zeit und Geld dafür zu opfern, einen potentiell lebensgefährlichen Raubfisch zu fangen. Noch dazu ein Tier, dessen Fleisch nicht nur entgiftet werden muss und so stark nach Urin stinkt, dass es sentimentaler kulinarischer Traditionen wie der isländischen braucht, um es als Lebensmittel wahrzunehmen (Rezept siehe Anmerkungen!). Und als ob dies nicht irrsinnig genug wäre, ist der Ort der Handlung ein als Schiffsfriedhof und Witwenmacher berüchtigter Fjord nördlich des Atlantiks. Fahren die Freunde in ihrem Bötchen gegen die Wellen, schlagen diese so hart gegen den Rumpf, dass sie sich fühlen, als ob ihnen das Fleisch von den Knochen fallen würde. Unter den Wellen lauern Felsen, aus deren Namen man bereits einiges ablesen kann: »Hundeschnauze, Wolfsriff, Gemeine Schäre, Felsenkliff, Galgenholm, Prellbänke und so weiter. Nur wenn Sturm ist und das tosende Meer über die Holme und Schären peitscht, kommen einige der sonst unsichtbaren Felsen zum Vorschein – das sind die tückischsten.«
Eine weitere Gefahrenquelle des Vestfjordes ist der Mahlstrom oder Moskenstraumen. Ein ungeheurer Gezeitenstrom, der durch Jules Vernes Roman 20.000 Meilen unter dem Meer und Edgar Allan Poes Kurzgeschichte Hinab in den Maelstroem berühmt-berüchtigt wurde. »Nicht einmal Kapitän Nemos U-Boot, das technische Wunderwerk Nautilus, war dem gefährlichsten Ort der Weltmeere gewachsen, wo der wirbelnde Strudel Schiffe, Wale und Eisbären in den sicheren Tod riss.«
Und irgendwo dort unten, in Kälte und Dunkelheit, jagt das Tier, welches sie an die Angel bekommen wollen.
»Der Eishai ist ein Urzeitwesen, das am Grund tiefer norwegischer Fjorde bis hinauf zum Nordpool schwimmt. Tiefseehaie sind normalerweise viel kleiner als Haie in flacheren Gewässern. Der Eishai bildet eine Ausnahme. Er kann größer werden als der Weiße Hai und ist der der größte fleischfressendeHai der Welt (Riesenhai und Walhai werden größer ernähren sich aber von Plankton). Meeresbiologen haben vor Kurze festgestellt, dass ein Eishai zweihundert Jahre alt werden kann. Theoretisch könnte der Eishai, den wir fangen wollen, also während der Napoleonischen Kriege geboren worden sein.
Anders als der Heringshai steht der Eishai nicht unter Naturschutz und darf gejagt werden, nur interessiert sich keiner für das Fleisch des massigen Haikörpers.
An jenem Abend vor zwei Jahren fiel die Entscheidung: Koste es, was es wolle,wir würden ein solches gefräßiges Monster fangen, das viele Hundert Millionen Jahre Evolution auf dem Buckel hat, potenziell tödliche Giftstoffe im Blut, Parasiten in den Augen und Zähne wie ein überdimensioniertes Fangeisen, nur wesentlich mehr.«
Parasiten in den Augen? »„Eine Theorie besagt ja, dass Eishaie ihre Beute mit den Augen hypnotisieren, die im Dunkeln grün leuchten. Die meisten Eishaie haben nämlich einen Parasiten, der die Hornhaut angreift und die Tiere halbblind macht. Auf einigen Abbildungen sieht es aus, würden dem Eishai kleine Würmer aus den Augen hängen. Vielleicht lässt dieser Parasit die Augen grün leuchgten. Aber das ist noch nicht umfassend erforscht.“«
Neben dem Triumvirat von Schwert-, Grind- und Pottwal, welches die Spitze der Nahrungspyramide im Nordmeer beherrscht, ist der Eishai der mysteriöseste und unheimlichste Gewaltherrscher. Letztendlich ist jedoch das lebende Gesamtbild seines Königreiches viel wichtiger und aufregender als dieser noch so faszinierenden Fisch.
Auf der Oberfläche des Nordmeeres wechseln die Licht- und Windverhältnisse so unentwegt, dass dies Kunstmaler, wie Christian Krohg, in den Wahnsinn getrieben hat. Die Membran, zwischen den Elementen Luft und Wasser, sind die Wellen. In deren wechselnden Formen und Bewegungen können erfahrene Seeleute Muster erkennen, wie Fährtenleser Spuren an Land. Unter den Wellen strömen unterschiedlich temperierte Wasserschichten, teils sogar gegeneinander. Diese Strömungen bieten einer unüberschaubaren Anzahl von Pflanzen und Tieren Nahrung und Heimat, wobei faszinierenderweise die kleinsten, Krill und Plankton, die Nahrung für die größten, die Bartenwale, darstellt. Ganz unten und kaum erforscht, der Meeresgrund. Eine kalte und lichtlose Landschaft, von der wir weniger wissen, als von der Oberfläche des Mondes. Noch vor kurzem hielt sie die Wissenschaft für unbesiedelt, doch mittlerweile konnte bewiesen werden, dass auch unter diesen unwirtlichen und nährstoffarmen Bedingungen das Leben blüht. Und alles beherrschend, in Unordnung bringend und doch immer selbst in Gefahr das eigene Leben zu verlieren, die Menschen mit ihren Booten und Häfen. Wenn die Seeleute untergehen und etrinken, so erscheint es dem Autor, »als wäre der Mensch vom Meeresgrund gekommen und müsste auch wieder zurück. Als gehörte er eigentlich dorthin und hätte es die ganze Zeit gewusst.«
Was dieses Buch von anderen Büchern über die See unterscheidet ist, dass das Haiangeln den Autor dazu inspirierte, sein literarisches Werk als ein komplexes schriftliches Abbild des Ozeanes aufzubauen. So folgt der Leser dem Autor durch die Seiten seines Buches, wie der Angler dem Eishai durch das Meer nachspürt.Morten A. Strøksnes schreibt mit sprachlicher Eleganz über Familiengeschichten und die Rolle, welche die See in ihr spielt. Er stellt uns echte Tiere und Märchengestalten vor. Die Enstehung der Arten, in den sich über die Erdzeitalter verändernden Meeren, wird ebenso erklärt, wie feierliche alkoholische Exzesse der Seeleute. Es gibt Seiten über die verschiedenen Farben des Meeres, Probleme der Umweltverschmutzung oder welche künstlerischen Empfindungen das Meer in uns Menschen auslöst (beispielhafte Leseprobe siehe unten in den Anmerkungen).
Aufgrund seiner eigenen Entwicklungsgeschichte als Beutegreifer ist der Mensch nur durch das Jagen, Sammeln und Angeln fähig, sich nicht nur völlig auf die Beute und ihr Biotop einzulassen, sondern sie wissenschaftlich und gleichzeitig poetisch von allen Perspektiven aus zu erfassen.
Wer diese Annahme bezweifelt mache die Probe und besuche zweimal einen Wald in seiner Nähe. Das erste Mal flaniere er durch den Wald mit den Augen eines aufmerksamen Bildungsbürgers. Er wird seine Umgebung betrachten und sich seine Gedanken dazu machen. Das zweite Mal pirsche er mit einer imaginären Jagdwaffe auf die Pirsch und versuche sich, zumindest auf Bogenschussweite, an ein Beutetier heranzupirschen. Ganz unwillkürlich verschieben sich seine Wahrnehmungen. Viel aufmerksamer als zuvor trachtet der Jäger danach, optische und akustische Muster in seiner Umgebung zu bemerken und verstehen. Wo ist das Leben? Wo ist die Spur? Wo bewegt sich die Beute? Wie komme ich an sie heran? Dabei wird er sich unwillkürlich gegen den Wind bewegen und versuchen selbst lautlos mit dem Biotop zu verschmelzen. Selbst das Unsichtbar machen ist wichtig, denn es ist in verschiedensten wissenschaftlichen Experimenten erwiesen, dass alleine das Vorhandensein eines unbeteiligten Beobachters Situationen verändert. Dies alles erfolgt hochkonzentriert und trotzdem seltsam entspannt, als sei man ganz bei sich, wie in dem Flow genannten künstlerischen Schaffungsprozess. Es fördert das Verstehen und durchströmt einen mit Poesie und Musik. Es ist unser Glück und war das Lebensgefühl der Urmenschen. Und es schuf die Grundlagen für die Menschwerdung.
Bitte unbedingt die unten eingefügten Leseproben beachten.
***
Anmerkungen
Von KRAUTJUNKER existiert eine Gruppe bei Facebook.
Titel: Das Buch vom Meer oder wie zwei Freunde im Schlauchboot ausziehen, um im Nordmeer einen Eishai zu fangen, und dafür ein ganzes Jahr brauchen
Autor: Morten A. Strøksnes
Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt; Auflage: 2 (29. August 2016)
ISBN: 978-3421047397
Leseprobe des Verlages: http://rhspecials.randomhouse.de/microsites/lp/dva-meer/assets/download/meer-buch-leseprobe.pdf
KRAUTJUNKER über den Eishai als „Delikatesse“: https://krautjunker.com/2016/09/23/islaendischer-verrotteter-hai-kaestur-hakarl/
KRAUTJUNKER-Leseprobe: https://krautjunker.com/2016/11/24/anleitung-zum-seemannstod-im-nordmeer/