Das Vorurteil, Angler seien ein bisschen verrückt, ist nicht ganz von der Hand zu weisen – doch es gibt viele Erscheinungsformen dieser Verrücktheit. Ein Angler ist nicht einfach ein Angler. Das merkt man schnell, wenn Hechtjäger über Karpfenfreaks spotten, die ihre Wasserschweine mit hochproteinhaltigen Boilies mästen. Oder wenn ein pragmatischer „Kochtopfangler“ auf einen Feingeist trifft, für den der tänzerische zurückgelegte Weg das eigentliche Ziel ist.
Unter all diesen Unterarten bildet der Spinnfischer heute eine der populärsten und modischsten Gruppen. Er fischt nicht nur an stillen Seen, sondern mitten in der Stadt: an Hamburgs Alsterarmen, Berlins Kanalufern oder Münchens Isarufern. Streetfishing und Urbane Fischerei lauten die Schlagworte. Der urbane Spinnfischer ist jung, sportlich, ständig in Bewegung. Kein Vergleich mit der alten Ikone im speckigen Parka, mit Zigarette und Bierdose auf dem Klappstuhl – jener etwas ungepflegten und einzelgängerischen Figur, die so lange das öffentliche Bild des Anglers prägte. Stattdessen Basecap, Funktionsjacke, Outdoortasche. Der Spinnfischer trägt eine Polarisationsbrille, durch die er nicht nur unter die Wasseroberfläche, sondern auch ein bisschen cooler aus der Welt hinausblickt – fast wie ein New Yorker Auftragskiller mit Wobbler statt Waffe.

Seine Art zu angeln ist so agressiv wie das Ziel seiner Begierde: Raubfische wie Hecht, Flussbarsch oder Zander. Der Spinnfischer reizt sie zur Attacke, indem er Kunstköder in Bewegung hält – ständig, rhythmisch, taktisch. Stillstand bedeutet Misserfolg. Wer also einen Angler sieht, der nach ein paar Würfen schon zur nächsten Stelle zieht, der erkennt ihn sofort.
Spinnfischen bedeutet Bewegung, Beobachtung, Taktik. Der Angler liest das Wasser im Wechsel von Uhr- und Jahreszeiten, denkt in Strömungen und Schatten, spürt über seine geflochtene Schnur jede Vibration seines kostbaren Kunstköders, der für ihn unsichtbar die Welt im Trüben durcheilt. Ein Ruck am Ende der Leine, der auf einen Ruck am anderen Ende wartet.

In den letzten zwanzig Jahren hat die Technik das Spinnfischen regelrecht revolutioniert. Angelruten aus hochmodularer Kohlefaser haben die alten Glasfaserstöcke ersetzt. Heute sind Ruten leichter, sensibler und schneller als je zuvor. Spinnrollen entwickelten sich zu filigranen Meisterwerke der Feinmechanik in High-End-Materialien, die man im Militärflugzeugbau findet.

Auch bei der Angelschnur hat sich vieles geändert: Geflochtene Schnüre verdrängen die monofilen . Sie sind dünner, tragfähiger und nahezu dehnungsfrei – perfekt für maximale Köderkontrolle. Dazu kommen Fluorocarbon-Vorfächer, unter Wasser unsichtbar, abriebfest und sinkend oder bissfeste Vorfächer aus Titan. Jede Komponente ist optimiert auf Kontakt, Kontrolle und Kraftübertragung.

In den Taschen eines Spinnfischers findet sich ein Arsenal moderner Fischerei: Kunstköder in allen Formen, Farben und Fantasien. Blinker, Spinner, Tailspins, Wobbler mit Rasselkugeln, 3D-Augen und Leuchtfarben, aromatisierte Gummifische mit realistischen Bewegungen. Schnell kosten sie 20, 50 oder gar 100 Euro. Wer schon sich schon immer nach einer Zwangsstörung beim Equipmentkauf gesehnt hat, weil er unter zuviel Geld und Nervenruhe leidet, findet hier perfekte Voraussetzungen, um sich ein kapitales Gear Acquisition Syndrome zuzulegen.

Jeder Köder ist ein Charakter. Der erfahrene Spinnfischer weiß genau, wann welcher am besten funktioniert – bei welchem Licht, in welcher Tiefe, zu welcher Jahreszeit. Nur Anfänger ziehen ihre Köder stumpf durchs Wasser. Köderführung ist eine Kunst, die man studieren kann – und viele tun es, mit Hilfe von Fachmagazinen, YouTube-Tutorials und endlosen Diskussionen in Anglerforen.

So perfekt das moderne Equipment auch ist – ein einziger Hänger kann alles zunichtemachen. Wenn ein Wobbler sich festsetzt, beginnt das Ritual: vorsichtiges Ziehen, Ruckeln, Fluchen. Manchmal siegt der Angler, manchmal das Hindernis. Dann ertönt ein leises pling – und zig Euro sinken Richtung Grund.

In stark befischten Gewässern liegen unzählige dieser bunten Wracks. Bei Niedrigwasser erinnern die freigegebenen Äste an kleine, glitzernde Christbäume. Vielleicht werden zukünftige Archäologen sie eines Tages als Opfergaben auf dem Altar eines Fischgottes deuten, der das Leben seiner Kultgemeinschaft beherrschte?


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