von Manfred Mixner
Mitte der fünfziger Jahre, in meiner Grundschulzeit, verbrachte ich die Sommerferien bei Verwandten am Ossiachersee in Kärnten. Einen Onkel gab es dort, groß und kräftig, freundlich und temperamentvoll, der hat mir in jener Zeit das Angeln beigebracht. Er ruderte jede Woche einmal nachts mit einem Nachbarn auf den See hinaus, um Hechte zu fangen. Ich durfte nicht mit, ich war nur für die Beschaffung der Köderfischchen verantwortlich, kleine Rotfedern waren das, die ich in einem Eimer für ihn sammelte. Mein Onkel, an den ich keine physiognomische Erinnerung bewahrt habe, sogar seinen Namen habe ich vergessen, hatte mir die Angel gebastelt: eine Haselrute, vorne in einer Kerbe war eine etwa vier Meter lange Schnur befestigt, als Pose diente ein Weinkorken, und vor dem Haken waren zwei oder drei Bleikügelchen auf die Schnur geklemmt.
So saß ich jeden Nachmittag, müde vom Schwimmen, Tauchen und Herumtoben, mit von der Sonne aufgeheizter Haut am schattigen Außensteg des kleinen Bootshauses, zog die Würmer, die ich auf dem Misthaufen des benachbarten Bauern ausgegraben hatte, auf den Haken, warf die Angel aus und stellte mir vor, wie die kleinen Fische sich um den Wurm stritten, wie sie vorsichtig den Köder abzupften. Der Triumph, wenn einer zu gierig war und am Haken hängenblieb, der Korken wegtauchte! Wie es allen angelnden Kindern ergeht, so geschah es auch mir: Dieses Zucken der Schnur, das Zappeln, die Angst, der Fisch könnte sich losreißen, die Aufregung, wenn das silbern glänzende Tier aus dem Wasser gezogen wurde, plötzlich ganz schwer war und in der Luft hin- und herschnellte bis man es in Händen hielt, um den Haken aus dem Maul oder dem Hals zu hebeln, ganz vorsichtig, damit es unversehrt blieb, und dann den erbeuteten glitzernden Fischen im Eimer zusehen wie sie mit den Flossen fächelten, plötzlich losflitzten und gleich wieder resigniert stehenblieben, dieses Erleben wurde mir zu einem Inbegriff des Glücks. Und ich wurde jedesmal gelobt vom Onkel, den ich so sehr bewunderte, wenn er abends mit seinem Motorrad, an dem ein Beiwagen montiert war, vor dem Ferienhaus vorfuhr, bremste, daß eine Staubwolke aufstieg. Er war ganz in Leder gekleidet, mit einer Lederhaube auf dem Kopf und seltsamen Schutzbrillen vor den Augen, und er warf mich zur Begrüßung hoch in die Luft, daß mir schwindelte. Als erstes kontrollierte er immer meine Köderfischchen.
Ich sah aufgeregt zu, wie er an seinem Ruderboot eine große Rolle mit 200 Meter starker Schnur festschraubte, die riesigen Drillinghaken mit dem Stahlvorfach bereitlegte, Handschuhe, Taschenlampen, Messer, eine Zange. Von meinem Schlafzimmerfenster aus beobachtete ich die Männer, wie sie auf den See hinausruderten, in die Dämmerung, ins Mondlicht. Am nächsten Morgen, noch vor dem Frühstück, lief ich in den kühlen Keller, und da hingen sie, ein oder zwei, manchmal auch drei riesige Hechte, aufgeschlitzt, ohne Schuppen. Ich sah den Raubfischen ins Maul, tastete die Zahnreihen ab, bekam eine Ahnung von der abenteuerlichen Lust, die es bedeutet, einen solchen Fisch an den Haken zu bekommen, mit ihm zu kämpfen, bis er endlich im Boot liegt. Einmal hing anstelle der Hechte ein schmutzigschwarzer Riesenfisch im Keller, mit einem Maul, so groß, daß mein Kopf hineinzupassen schien, mit langen Barteln, sein Schwanz streifte den Boden, er war länger als ich: ein Wels. Entsetzen packte mich, daß ich bis zu diesem Tage so arglos nackt im See geschwommen bin, wo doch dort unten, tief unten, solche Ungeheuer lauern. Dunkel erinnere ich mich, daß mein Onkel an jenem Tag erst gegen Mittag aus seinem Zimmer gekommen ist, daß er getanzt und siegestrunken herumgebrüllt hat, er habe den Fisch seines Lebens gefangen, er habe den Waller besiegt, von dem die Fischer am See seit Jahren reden, den aber bislang keiner herausgeholt hat, nur ihm sei es gelungen, und wieder hat er mich in die Luft geworfen.
Nach den Ferien am See, an einem Spätherbstnachmittag in der Stadtwohnung meiner Großmutter: Mir ist langweilig, ich liege am schön gemusterten Rand des großen Teppichs, zwischen den Stuhlen, die um den Eßtisch stehen, habe einen Stab in der Hand, an den ich einen Bindfaden knüpfe. Ich werfe die Angel aus, träume mich weit weg, der Teppich wird zur Insel, der Parkettboden ist das Wasser, ich sehe die Fische, Karpfen, Barsche, Hechte, ich warte auf den großen Fisch, erlebe Abenteuer, bin längst eingeschlafen. Ich durfte als Kind kaum aus dem Haus, mußte mich an den Nachmittagen nach der Schule in der Wohnung aufhalten, und wenn ich nichts zu lesen hatte, phantasierte ich mir eine Welt zurecht, in der ich mich frei bewegen konnte, in der ich der Held war. Am liebsten waren mir die Angelerlebnisse. Mein Onkel ist übrigens mit seinem Motorrad tödlich verunglückt, da war ich neun Jahre alt. Danach bin ich nie wieder an den Ossiacher See gefahren.
Erst viel später wurde mir, der ich ein Lesender geblieben bin durch all die Jahre und das Vermitteln von Literatur zu meinem Beruf gemacht habe, klar, daß es einen elementaren Zusammenhang zwischen dem Dichten und dem Angeln gibt. Der Angler muß sich aus seiner Wirklichkeitserfahrung heraus eine Welt unter der Wasseroberfläche vorstellen, er muß sich in das nur ausnahmsweise mal sichtbar werdende Verhalten der Fische hineindenken und sein eigenes Handeln dann danach ausrichten, er muß entsprechendes Gerät zur Hand haben, die Fische anlocken, sie dazu bringen, daß sie sich für seinen Köder interessieren, sie schließlich an den Haken bekommen und aus dem Wasser holen. Wenn sein Bild von der Welt im Trüben richtig ist, dann hat der Angler Erfolg. Und wie der Angler muß auch der Dichter aus seiner Wirklichkeitserfahrung heraus sich eine Welt vorstellen, er muß in seinem Kopf Sprachkonstellationen bauen, er muß versuchen, sich über seine eigene und über die Bewußtseinswirklichkeit anderer Menschen die richtige Vorstellung zu machen, er muß immer wieder Zugang finden zur Welt des Unbewußten. Und wenn er die richtigen Bilder gefunden und die richtigen Zeichen gesetzt hat, wird ihm sein Werk gelingen. Nicht ohne Grund haben die Psychoanalytiker für das Unbewußte des Menschen das Bild des Sees gewählt, unter dessen Oberfläche das Verdrängte, das Vergessene, das Unbeachtete, die verlorene Erinnerung schlummert.
In den Jugendjahren hatte ich keine Gelegenheit mehr zu angeln. Einmal noch nahm mich der Vater eines Schulfreundes mit zum Fliegenfischen, aber ich stellte mich so ungeschickt an, daß es bei diesem einem Mal blieb. Und an einem Bach in der Nähe des Ferienhauses meiner Eltern versuchte ich, Forellen mit der Hand zu fangen, aber das gelang mir nie. Die Berichte von Nachbarn dort, die damit prahlten, daß sie früher, als die kleinen Gewässer noch klar und nicht »reguliert« waren, unzählige Forellen einfach so aus dem Wasser, aus Kuhlen unter überhängenden Böschungen oder aus den freigeschwemmten Wurzeln der Weiden herausgegriffen hätten, mißtraute ich so lange, bis mir ein alter Knecht zeigte, wie man das macht. Ich versuchte es auch, immer wieder, hatte aber kein Glück.
In meinem Inneren, tief verborgen in der Grauzone zwischen dem Unbewußten und dem in den hinteren Winkeln des Gedächtnisses Bewahrten, blieb die Sehnsucht nach einer Wiederholung der glückhaften Kindheitsträume vom Fischen lebendig. Immer wenn ich Bilder von Anglern sah, die ihre Beute präsentierten, kribbelte es mir in den Fingern, und ich meinte den stolzen Gesichtsausdruck der Abgebildeten zu kennen und zu verstehen. Immer wenn in Filmen oder im Fernsehen Angelszenen zu sehen waren, wurde meine Aufmerksamkeit geweckt, als handle es sich um ein Wissen, das für mich besonders wichtig sei, und ich lebte mit. Ich freute mich seinerzeit mit Tick, Trick und Track, wenn sie den neunmalklugen Donald Duck beim Eisfischen übertrafen, und ich lachte über die wunderbare Erfindung Daniel Düsentriebs, mit spezielIen automatischen Würmern zu angeln, die auf die größten und schlauesten Fische eine unwiderstehliche Anziehungskraft hatten, und die, wenn einmal ein Fisch angebissen hat, eine Kette bildeten und den Fisch schnell und sicher an Land zogen. In »Brehms Tierleben« waren mir die Abschnitte über die Fische die liebsten, und in Jugendbüchern, in Romanen und Erzählungen waren neben Erotischem die erregendsten Stellen die, in denen von Fischen und Fischern die Rede war. Ich blieb an Parkteichen stehen und beobachtete die Goldfische, von Brücken schaute ich in Bäche und Flüsse, ob es denn hier Forellen gäbe, und an Seeufern oder auf Molen interessierten mich weniger die schönen Aussichten, unwillkürlich senkte sich der Blick aufs Wasser, versuchte die Spiegelungen und die Eintrübungen zu durchdringen. Wenn jemand sagt, er wolle den Dingen auf den Grund gehen, dann habe ich häufig solche Bilder vor mir: die Vorstellung von einer »Welt im Trüben«, die es zu durchdringen, zu erkennen, zu erhellen gilt durch (poetische) Imagination.
In alten Angelbüchern studierte ich eingehend die Beschreibung der gebräuchlichen Gerätschaften, ich wußte bald alles über Ruten und Rollen, Spulen, Schnüre, Haken, Posen und Blei, über Maden, Tauwürmer, Regenwürmer, Fliegen und Heuschrecken und andere Insekten, über Kaulquappen und Frösche und was es sonst noch an natürlichen Ködern gibt, ich empfand die Hakenmontageanleitung« für Köderfischchen grausam, ich wunderte mich über die sonderbaren Rezepturen für Teigköder, die den Fischen besonders gut schmecken sollen, ich lernte zwischen der Schwimmangel, der Spinnangel, der Grundangel, der Tippangel, der Flugangel und der Schleppangel zu unterscheiden, wußte, wie man Nachtschnüre auslegt, ich studierte die Fischarten und ihre Namen, las alles über die Standorte und die Zugrichtungen der verschiedenen Fischarten, über den Einfluß der Witterung auf das Verhalten der Fische, ärgerte mich über den Normierungsgeist in den gesetzlichen Bestimmungen und über die Vereinsmeierei im Angelwesen, kurz: Ich konnte mich an allen Gesprächen über das Angeln beteiligen und Angelgeschichten erzählen, ohne daß es auffiel, daß ich keine Erfahrung hatte. Aber Angeln kann man nicht aus Büchern lernen.
Vor etwa sechs Jahren war es dann soweit: Ich begnügte mich nicht mehr, hin und wieder an der Istrianischen Küste die Angel aus- zuwerfen und kleine Fischchen aus der algentrüben Adria zu holen, ich wollte mehr ich wollte »richtig« angeln. Mit meiner Familie machte ich Urlaub an einem finnischen See, im darauffolgenden Jahr in Schweden, ebenfalls an einem See, und wieder ein Jahr später kauften wir uns ein kleines Ferienhaus an einem smålandischen Waldsee. Ich lernte angeln, mit einer Ausdauer und mit einer Leidenschaft, die ich mir nicht zugetraut hätte. Jede Fahrt mit dem Boot hinaus auf den See ist eine Erkundung, eine Entdeckungsreise, eine Geschichte, die sich vollzieht; natürlich ließ ich mir von erfahrenen Anglern etwas sagen, beobachtete die einheimischen Angler, die alten Bauern, die hinter den Wäldern, die den See umgeben, ihre Höfe haben.
Fast jeder Angler hat eine sehr eigene Vorstellung von »seinem« Fischwasser, und je länger er das Revier kennt, desto ausgeprägter sind die Gewißheiten, die Fische verhielten sich so oder so. Und fast jeder Angler hat bei der Wahl der Köder und der Angelmethoden seine ganz eigenen Rezepte und Tricks und Vorlieben. Ich habe mich dabei beobachtet, das ich jedesmal, wenn ich auf den See hinausfahre, eine neue Kombination von Blinkern und Twistern wähle und mir ganz sicher bin, daß heute gerade dafür der richtige Tag ist. Jede neue Erfahrung trägt zur Verfeinerung der Vorstellungswelt bei, wobei es unerheblich scheint, wie wirklichkeitsnah das Bild vom Ganzen ist. Der Angler, der sich seiner Einschätzung der wahren Verhältnisse in der Welt im Trüben gewiß ist, verliert, wenn er den Köder auswirft, nichts von der Spannung: Ist es so, wie ich es mir gedacht habe, oder ist es nicht so. Diese Anspannung hat etwas von lustvoller Angst, die sich im Erschrecken beim Biß des Fisches in Triumph auflöst oder sich in der Enttäuschung, diesmal nichts gefangen zu haben, verliert. Angeln als Abenteuer: ein unbekanntes Revier kennenlernen, neue Angelmethoden, neue Fische. Gibt es auch beim Fischen die Sehnsucht nach »Vollständigkeit« der Erfahrung?
Eigenartig ist das Raumerleben beim Angeln. Gehe ich mit Pose und Wurm auf Friedfische, die Karausche, die Plötze, den Blei, so konzentriere ich mich auf einen kleinen Raum, den Winkel am Schilfrand, die kleine freie Fläche im Kraut; die Begrenztheit des Reviers Iäßt einen alles rundherum »ausblenden« – man lebt in der kleinen Welt. Das Aufschrecken aus dieser Geborgenheit, wenn in der Nähe Wildenten auffliegen oder über einem die Wildgänse schreien. Hingegen die Bewegung im großen Raum beim Schleppen, den See überquerend, um die Inseln herum und den Schilf- und Krauträndern entlang und in die Buchten fahrend. Die Weite verleitet zu Tagträumen, aus denen einen der Biß des Hechtes oder auch nur ein »Hänger« am Grund oder in Pflanzen unsanft weckt. Zwischen dem kleinen Revier beim Wurmangeln und dem großen beim Schleppen: das Rayon, das beim Spinnangeln durchzogen, durchkämmt wird. Hier sind die Gedanken fast immer nur auf das Angeln, auf die Bewegungen, die man den Blinker oder Twister machen läßt, konzentriert – hier müßte doch ein »großer« Fisch liegen, an dieser Bunenkante, an jenem Schilfrand. Und immer wieder der Schrecken, wenn »wirklich« ein Fisch anbeißt und man in diesem Augenblick aus der allgemeinen Wirklichkeit in die besondere Sphäre des »Kampfes« tritt.
Die Stunden auf dem See sind jedesmal ein Eintauchen in eine Art vorzivilisatorischen Bewusstseinszustand. Ich vergesse alles um mich herum, ich spüre, wie sich die Unterschiede zwischen Gut und Böse verwischen, wie das soziale Ethos sich verliert zugunsten der Regeln der Jagd: Der Stärkere, der Schnellere, der Listigere wird gewinnen. Dieses Jagdverhalten wird ausgelöst zum Beispiel, wenn ich sehe, daß kleine Fische springen, weil sie gejagt werden, und wenn ich dabei das ganz charakteristische Nachschnappgeräusch des Barsches oder des Hechtes höre. Beim Auswerfen der Angel empfinde ich in solcher Situation eine sonderbar konzentrierte Erregung. Und hat einmal ein großer Barsch, ein großer Hecht gebissen, dann beginnt der Kampf, bei dem der Angler nur gewinnen kann, wenn er keinen Fehler gemacht hat und macht: wenn er beim Zubiß den Haken richtig fest setzt, wenn er sein Gerät richtig vorbereitet hat, also das richtige Vorfach, die richtige Hakengröße, die richtige Rute, die richtige Schnur und die richtige Bremseinstellung an der Spule gewählt hat, wenn er den Zug richtig dosiert, wenn er den Fisch richtig lenkt und müde macht, wenn er ihm keine Gelegenheit läßt, den Haken herauszureißen, unter dem Boot oder über eine Kante abzuhauen, und wenn er ihn schließlich im entscheidenden Augenblick mit Kescher oder Gaff aus dem Wasser holt. Wenn ich den Fisch töte, weiß ich bei jedem Schlag: Der wird mir schmecken, der wird mir gut schmecken, der wird mir außerordentlich gut schmecken. Und wie erwachend betrachte ich dann die Beute, langsam nehme ich meine Umgebung wieder wahr, hole mich zurück in meinen »Normalzustand«. Dieser grausame Akt hat, so vermute ich, eine Art reinigende, eine kathartische Wirkung, und er hat etwas Ekstatisches. Vielleicht liegt darin die alte Symbolkraft der Figur des Fischers begründet, dessen Funktion in vielen Mythen, Märchen und Sagen an Priesterliches erinnert. Die Zubereitung des Fisches, vom Entschuppen und Ausnehmen bis zum Würzen und Braten oder Kochen oder Räuchern, gehört mit zum Ritual. Das heißt für mich auch, daß ich nie mehr Fische fange, als ich selbst und meine Familie und Freunde verzehren können, die Möglichkeit der Zwischenlagerung im Tiefkühlschrank natürlich mitgerechnet.
Der beschriebene Eintritt in den vorzivilisatorischen Bewußtseinszustand wird nicht immer nur durch den Jagdinstinkt ausgelöst, und er wird auch nicht immer befördert durch die unbändige Sehnsucht nach dem großen Fisch, es ist oft eine Form der Kontemplation, der Erbauung, der Geborgenheit im Naturerleben, was nichts mit einer Naturverklärung zu tun hat, im Gegenteil. Die Sittengesetze, die unser Verhalten im Alltag bestimmen, verlieren sich in der Eigengesetzlichkeit unseres Zurücktretens in das Naturschöne. Zwei der vielen Erlebnisse an »meinem« manchmal sehr unheimlichen See will ich beschreiben.
In den Monaten Mai bis August gibt es bei schönem Wetter ein erstaunliches Phänomen: Nachdem die Sonne untergegangen ist, die Dämmerung schon fortschreitet, leuchtet die Landschaft für eine Viertelstunde noch einmal auf, bevor sie in der Dunkelheit versinkt, was um diese Jahreszeit gut eine Stunde dauert. Solches sagt man auch von einem tödlichen Krankheitsverlauf: daß gegen Ende des Lebensprozesses noch einmal so ein »Aufleuchten« einsetzt. Und vom Einschlafen kennt man das: Man ist schon in den Träumen, und dann ringt die Wirklichkeit noch einmal hell in unser Bewußtsein, wir nehmen sie »noch einmal« war. Zur Zeit dieses »Aufleuchtens« ist am Ende eines heißen Tages die Beißlust der Fische am größten. -Was sich am 4. September 1996 ereignet hat, habe ich in meinem Tagebuch festgehalten: »Bin früh aufgewacht, draußen war es kalt und ihr neblig – ich bin bis halb acht im Bett geblieben. Die Sonne kam baId durch den Nebel durch und wärmte die Luft rasch auf, mittags hatte es bereits 20 Grad im Schatten. Ein schöner, sonniger Frühherbsttag. Am späten Vormittag fahre ich noch einmal auf den See hinaus, angle ein wenig, aber ganz ohne Ehrgeiz, ich genieße die Stille, die klare Luft. Plötzlich höre ich ein sehr fernes, sich nur langsam näherndes Geschrei: Ein riesiger Kranichschwarm fliegt von Nordosten her über den See, sehr hoch. Das Geschrei wurde zu Musik. Und dann kam ein zweiter Schwarm. Die beiden Kraniche, die im April wie jedes Jahr an unseren See gekommen waren, flogen mit ihren zwei Jungen aus ihrer Bucht, in der sie genistet hatten, in weiten Kreisen hoch. Der Vogelschwarm blieb stehen, begann in sich zu kreisen, die aufsteigenden Kraniche stimmten mit langgezogenen Rufen in den Gesang des großen Schwarmes ein, dann flogen die großen grauschwarzen Vögel »in Formation« weiter nach Süden. Und noch ein dritter Schwarm überflog innerhalb dieser zwei Stunden den See. Ich war tief berührt, zum Haus zurückrudernd hatte ich Tränen in den Augen.«
Die hier in diesem Buch versammelten »Angelszenen« (den Freunden danke ich für ergänzende Hinweise!) enthalten jede auf ihre Weise etwas von der vielfältig faszinierenden Erfahmngswelt de Fischens. Sie thematisieren das Angeln als Kindheitsmuster, als Abenteuer, als Naturerlebnis, als Jagd nach dem groißen Fisch, als Leidenschaft, als Mythos, als poetische Projektion, als literarisches Kuriosum. Und darüber hinaus dokumentieren die Texte, wie gesagt, auch meine der Lust am Lesen wie der Lust am Angeln entsprungene Überzeugung, daß die Imaginationskraft des Schriftstellers zumindest in einem VerwandtschaftsverhäItnis zur Fähigkeit des guten Anglers steht, sich in die Lebenswelt der Fische hineinzuversetzen.
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Anmerkungen
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Dieser Text ist die Einleitung des 1997 erschienen Buches „Die Welt im Trüben – Vom Fischen und Dichten“. Es ist jetzt fast 20 Jahre her, seitdem ich es zum ersten Mal gelesen habe. Vor allem die zauberhafte Einleitung Manfred Mixners vergaß ich nie, so sehr berührten mich diese Zeilen. Viele weitere Geschichten von Autoren wie Hermann Hesse, Ernest Hemingway, Herman Melville, Anton Tschechow, Jack London, Siegrid Lenz oder Tania Blixen ziehen mich immer wieder in ihren Bann.
Verfasst wurde der Text von dem österreichischen, zuletzt in Südschweden lebendem, Schriftsteller und ehemaligen Kulturredakteur Manfred Mixner. Mittlerweile ist er leider verstorben (Nachträgliche Notiz vom 7. Februar 2017: Wie ich heute vom Sohn des Autors erfahren habe, lebt Manfred Mixner immer noch in Südschweden und ist auch weiterhin schriftstellerisch – und wie ich vermute als Angler – tätig). Ich hoffe, dieser Beitrag macht Appetit, sich mit seinen Büchern zu befassen.
Ich bedanke mich bei Mathias Gatza für die Genehmigung zur Veröffentlichung. Seinerzeit war er Autor und Verleger anspruchsvoller Gegenwartsliteratur. In seinem 2008 erschienen Debüt-Roman „Der Schatten der Tiere“ verarbeitete er seinen Bruch im Berufsleben, als er vom Verleger zum Autor wurde. Der Roman wurde von der Kritik begeistert aufgenommen und 2009 mit dem Förderpreis des Literaturpreises der Stadt Bremen ausgezeichnet. 2012 erschien sein Künstlerroman „Der Augentäuscher“. Laut dem Feuilleton der FAZ „Briefroman, Thriller und Wissenschaftsfarce. Und ein großer Spaß.“ Ende 2013 gehörte er zu den Gründern des internationalen Literatur-Projektes „Fiktion“.
Da es keine Word-Datei des Textes mehr gab, mussten die Buchseiten von mir eingescannt, von meiner künstlerischen Leiterin im Slot Halemejse digitalisiert und von mir noch einmal lektoriert werden. Herzlichen Dank, liebe Melissa. Alle Fehler gehen auf meine Kappe.
Last but not least: Die großartigen Farbfotos vom Hechtangeln stellte mir freundlicherweise der Rechtsanwalt und Publizist Joachim Nikolaus Steinhöfel zur Verfügung. In den Medien ist er einer der präsentesten Juristen. Als Blogger ist er kein Freund der bundesdeutschen Konsenskultur oder durchschnittlicher Meinungen. Am glücklichsten sieht er aus, wenn er einen großen Fisch an der Angel hat.
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