Fett als Überlebensstrategie: Die unterschätzte Intelligenz der Neandertaler

Ernährung formte die menschliche Evolution. Entsprechend zählt das Verständnis früher Ernährungs- und Lebensstrategien zu den Kernaufgaben der Paläoanthropologie.

Die Bedeutung der einzelnen Nahrungsbestandteile, Eiweiß, Kohlehydrate oder Fett sind dabei unter verschiedenen Randbedingungen für bestimmte menschliche Gemeinschaften von unterschiedlicher Bedeutung. Fette bilden eine wichtige Ressource für Jäger und Sammler, insbesondere für solche, deren Ernährung hauptsächlich auf tierischen Nahrungsmitteln – wie für die Neandertaler – basiert. Aber auch für uns moderne Zivilisationsmenschen macht „Fett erst den Geschmack“*, möglicherweise ist es Teil unseres „Neandertalererbes“, (die Gene von Europäern und Asiaten gehen zu etwa zwei Prozent auf Neandertaler zurück), dass viele von uns durchwachsenes Fleisch bevorzugen. Jäger und Sammler haben immer erhebliche Energiemengen aufgewendet, um die Ressource Fett zu gewinnen. Die zeitaufwändige Herstellung von Knochenfett ist eine Methode, die bis vor kurzem nur für Populationen des Jungpaläolithikums dokumentiert ist. Der bislang früheste klare Beleg für ein solches Vorgehen stammt vom Homo sapiens im heutigen Portugal und ist 28.000 Jahre alt – zu dieser Zeit waren die Neandertaler längst ausgestorben.

Die Neandertaler haben schon offenbar weit davor sichtlich ausgeklügelte Praktiken entwickelt, um ihr Überleben zu sichern. Die jahrzehntelange wissenschaftliche Analyse von Ausgrabungen im rund 30 Hektar großen Fundgebiet Neumark-Nord legt nahe, dass sie in der letzten Warmzeit wiederholt in der Seenlandschaft der Region jagten. Wann immer sie mehr Tiere erlegten, als sie sofort verzehren konnten, lagerten sie insbesondere die fetthaltigen Knochen von Großsäugern wie Hirschen, Pferden und Auerochsen in Vorratsdepots. Solche Vorratslager (Caching) sind ein zentrales Element der Lebensweise von Jägern und Sammlern: Ethnographische Beobachtungen zeigen, dass sie in mittleren und nördlichen Breiten essenziell waren, da ohne gelagerte Nahrung eine ganzjährige stabile Versorgung nicht möglich gewesen wäre.

Innerhalb relativ kurzer Intervalle wurden diese Depots wieder aufgesucht, und die zwischengelagerten Körperteile zu geeigneten Uferplätzen gebracht, um dort Mark und Fett aus den Knochen zu gewinnen.

Abb.: Eine KI-generierte Darstellung der Aktivitäten an der »Fettfabrik«-Fundstelle. Das Bild wurde mithilfe von OpenAI/ChatGPT (Version 4o, 2025) auf Basis von Textanweisungen zur Illustration erstellt und anschließend bearbeitet und retuschiert. Quelle: © F. Scherjon, LEIZA-Monrepos

Die Gewinnung von Knochenfett ist sehr arbeitsaufwendig und lohnt sich nur, wenn genügend Material vorhanden ist. Das setzt ein gewisses Maß an Fertigkeiten und an strategischem Denken voraus, das Forscher in diesem frühen Stadium der Entwicklung bisher nicht vermutet hatten. „Die Neandertaler gingen äußerst planvoll vor – von der Jagd über den Transport der Kadaver bis hin zur Fettgewinnung an einem speziell dafür genutzten Ort“, erklärte der leitende Archäologe Lutz Kindler. „Sie wussten um den hohen Nährwert von Fett und verstanden, wie man es effizient zugänglich macht.“

Warum Fett überlebenswichtig war

Abb.: Neanderthaler auf der Jagd; Bildquelle: Neanderthal Museum

Bei einer überwiegend tierischen Ernährung stößt der menschliche Körper schnell an Grenzen: Die Leber kann nur eine begrenzte Menge Eiweiß verarbeiten – maximal etwa 5 g pro Kilogramm Körpergewicht. Eine reine Proteindiät liefert nicht genug Energie und kann lebensgefährlich sein – ein Zustand, den frühe Forscher als Kaninchenhunger** bezeichneten. John Lewis-Stempel beschrieb dies in seinem Buch Mein Jahr als Jäger und Sammler: Was es wirklich heißt, von der Natur zu leben.
Für einen Jäger mit 70 kg Körpergewicht wären das höchstens rund 300 g Eiweiß pro Tag – etwa 1.200 Kilokalorien. Der Energiebedarf eines Neandertalers in kaltem Klima lag jedoch bei bis zu 3.000 Kilokalorien täglich. Der Rest musste aus Fett oder Kohlenhydraten stammen – letzteres war in eiszeitlichen Landschaften oft Mangelware. Fett war also keine Delikatesse und schon gar nicht ein Gesundheitsrisiko, sondern überlebensnotwendig.
»Fett ist für unsere Gesundheit genauso notwendig wie fürs Kochen. Jede Zelle unseres Körpers benötigt Fett, wir brauchen Fett für unser Gehirn und unsere Hormonproduktion. Fett unterstützt unser Immunsystem, bekämpft Kranknheiten und schützte unsere Leber. Fett verhilft zu schöner Haut und gesundem Haar, reguliert unsere Verdauung und sorgt für ein Gefühl der Sättigung“, schreibt Jennifer McLagan in Fett – Loblied auf eine verrufene Ingredienz.

Auf der Suche nach Fett: harte Arbeit mit hoher Ausbeute

Die meisten Muskelfleischstücke von Huftieren – insbesondere die Steaks und Braten aus Keule und Schulter – enthalten, unabhängig von Jahreszeit, Alter, Geschlecht oder Fortpflanzungsstatus des Tieres, nur sehr wenig Fett. Jäger und Sammler in mittleren und nördlichen Breiten nutzten diese Fleischstücke daher häufig nicht für den eigenen Verzehr, sondern verfütterten sie an ihre Hunde oder ließen sie am erlegten Tier zurück. Wertvoller sind Fettdepots im Gehirn, in der Zunge, im Brust- und Bauchraum sowie im Knochenmark und spongiösen Knochengewebe.

Das Knochenmark lässt sich leicht gewinnen, die Herstellung von Knochenfett ist jedoch aufwendiger: Knochen werden mit Steinhämmern zerschlagen, in Wasser mehrere Stunden gekocht, das aufsteigende Fett abgeschöpft und in Gefäßen gelagert. Dank seines hohen Anteils gesättigter Fettsäuren ist dieses Fett bei kühler Lagerung lange haltbar.***

Solche Methoden sind ethnografisch und experimentell auch bei nordamerikanischen Ureinwohnern und anderen Jäger- und Sammlerkulturen belegt – bisher jedoch nur aus deutlich jüngeren Zeiträumen. Die Entdeckung in Neumark-Nord verschiebt die Nutzung dieser Technik nun um fast 100.000 Jahre zurück.

Abb.: Neandertaler bei der Wildverarbeitung; Bildquelle: Neanderthal Museum

Archäologische Spurensuche in Neumark-Nord

Das Fundgebiet Neumark-Nord liefert einen einzigartigen Einblick in die Lebensweise der Neandertaler während der letzten Warmzeit. Auf nur etwa 50 Quadratmetern fanden Forscher über 120.000 kleine Knochenfragmente, mehr als 16.000 Feuersteinwerkzeuge und zahlreiche weitere Artefakte – alles Hinweise auf eine intensive, konzentrierte Verarbeitung von Tierkörpern.

Abb.: Ausgrabungen von vorzeitlichen Fettküchen in der Fundstelle Neumark-Nord bei Halle; Bildquelle: Universität Leiden

„Die Produktion von Knochenfett ist die einzige plausible Erklärung“, so Kindler. Zwar fehlt der direkte Nachweis des Auskochens – archäologisch kaum zu erbringen –, doch die Funde sprechen eine deutliche Sprache.

Abb.: 120.000 Knochensplitter als Beleg für die Fettküche
 Foto: Lutz Kindler / LEIZA-Monrepos

Das Besondere an Neumark-Nord ist die außergewöhnliche Erhaltung einer ganzen Landschaft – nicht nur einzelner Fundpunkte“, erklärt Prof. Wil Roebroeks von der Universität Leiden. „Wir können beobachten, wie Neandertaler in einem Teil des Gebietes Hirsche jagen und nur grob zerlegen, in einem anderen hingegen Elefanten intensiv verarbeiten und – wie die aktuelle Studie zeigt – in einem zentralen Areal Fett aus Hunderten von Säugetierknochen gewinnen. Hinzu kommen sogar Hinweise auf die Nutzung von Pflanzen, die sich archäologisch nur selten erhalten. Diese Vielfalt an Verhaltensweisen innerhalb derselben Landschaft ermöglicht uns ein wesentlich umfassenderes Bild ihrer Kultur und ihres Alltags.

Abb.: Elefantenjagd; Bildquelle: Neanderthal Museum

Ein neues Bild der Neandertaler

Die Auswertung der Funde aus Neumark-Nord zeigt, dass Neandertaler nicht nur geschickte Jäger, sondern auch clevere Ressourcenmanager waren. Sie planten vorausschauend, nutzten komplexe Techniken und passten sich flexibel an klimatische Herausforderungen an. Ihre „Fettfabriken“ an den Ufern prähistorischer Seen zeugen von durchdachter Ernährungsstrategie.

Abb.: Neanderthaler; Bildquelle: © Neanderthal Museum

Wir verdanken der archäologischen Forschung ein völlig neues Bild der Neandertaler. Statt als reine Opportunisten erscheinen sie als strategisch denkende Menschen, die ihre Ressourcen klug einteilten, komplexe Verarbeitungstechniken beherrschten und ihre Umwelt gezielt nutzten. Ihre Überlebensstrategien waren offenbar weit durchdachter und anpassungsfähiger, als lange angenommen wurde.

Bildquelle: Perscheid

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Anmerkungen:
* Warum Fett den Geschmack verstärkt: Viele Aromastoffe sind fettlöslich und werden dadurch intensiver wahrgenommen. Zudem verleiht Fett Speisen eine cremigere Konsistenz – je seltener man Fett isst, desto intensiver wird sein Geschmack erlebt.
** Kaninchenhunger: Entsteht, wenn über längere Zeit nur mageres Fleisch verzehrt wird; Symptome: Müdigkeit, Kopfschmerzen, niedriger Blutdruck, starkes Hungergefühl.
*** Haltbarkeit von Fett: Reines Tierfett enthält kaum Wasser und ist bei kühler, dunkler Lagerung weitgehend vor mikrobiellem Verderb geschützt.

Hauptquelle: Kindler, L. et al. (2024): Large-scale processing of within-bone nutrients by Neanderthals, 125,000 years ago. Science Advances, DOI: 10.1126/sciadv.adv1257

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Anmerkungen

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