Buchvorstellung
Obwohl schon immer geschichtsinteressiert, empfand ich die Steinzeit lange als die langweiligste Epoche der Menschheit. Keine Personennamen oder Geschichten sind überliefert, in den entsprechenden Abteilungen der Museen liegen in Vitrinen die scheinbar immer gleiche Faustkeile oder Tonscherben aus.
Mein Interesse entwickelt sich bei der Erkenntnis, dass der überwältigende Teil der Menschheitsgeschichte Steinzeit ist. Evolutionspsychologen behaupten, dass sich viele unserer psychischen und sozialen Merkmale in den langen Phasen herausbildete, als wir mit Speeren und Faustkeilen bewaffnete Wildbeuter waren. Die Programmierung unserer Gehirne auf ein Leben als Stämme von Jägern und Sammlern erklärt unsere Ernährungsvorlieben, unsere Sozialverhalten sowie unsere Erfolge und Niederlagen. Das Leben in der Moderne schenkt uns unvergleichlichen Wohlstand und ein langes Leben, stresst uns jedoch oft, da es uns zuweilen wenig artgerecht erscheint.
Neandertaler wecken unser Interesse. Sie schafften nicht den Sprung aus der Steinzeit und sind lange ausgestorben. Als keulenschwingende und geistig unterbelichtete Muskelprotze mit Entertainment-Qualitäten springen sie jedoch noch durch die Populärkultur. In den letzten Jahren sammelte die Wissenschaft jedoch eine Vielzahl neuer Erkenntnisse, die ein weit faszinierendes Bild über unseren unterschätzten Bruder bieten.
Für ein breiteres Publikum geschriebene Werke wie Die Neandertaler: Genies der Eiszeit (Leseprobe siehe: https://krautjunker.com/2016/08/17/die-neandertaler-jaeger-mit-glueck-und-verstand/) von 2005 begeisterten mich. Mittlerweile sind wieder 15 Jahre vergangen und das Buch ist, aufgrund neuerer Forschungen und Fortschritte in der Gentechnik, überholt. Denken wie ein Neandertaler (siehe: https://krautjunker.com/2019/01/25/denken-wie-ein-neandertaler/) von 2013 beinhaltet viele geistreiche, aber auch waghalsige geistige Spielereien und ist teilweise auch schon nicht mehr aktuell. Als ich für das Magazin Jagdzeit ein Essay über die Jagdkultur der Neandertaler (siehe: https://krautjunker.com/2020/03/14/neanderthaler-jager-der-eiszeit/) verfasste, irritierten mich die Widersprüche in diesen beiden Bücher sowie den seitdem publizierten Zeitschriftenartikeln. Die Verwirrung fängt schon damit an, dass sie abwechselnd als Neanderthaler und Neandertaler bezeichnet werden…
So war es mir eine große Freude, dass mit dem Grand Prix du Livre D’archéologie ausgezeichnete Neuerscheinung Der Neandertaler, unser Bruder: 300.000 Jahre Geschichte des Menschen vom Französischen, welches ich nicht beherrsche, ins Deutsche übersetzt wurde. „Ich liebe französisch, nur mit der Sprache haperts“, ist im übrigen keine Ferkelei auf Steinzeit-Niveau, sondern eine Anspielung auf den französischen Schriftsteller und Politiker François-René de Chateaubriand (* 1768; † 1848) und dem nach ihm benannten Stück Rinderfilet.

Lehrreich und mit leichter Feder geschrieben stellt Der Neandertaler, unser Bruder die Lebenswelt der unter widrigsten Umweltbedingungen erfolgreichen steinzeitlichen Jäger und Sammler vor.
Dabei passiert der Leser auch 150 Jahre Forschungsgeschichte: archäologische Ausgrabungen, die Entwicklung von Theorien sowie Methoden, die Verluste vermeintlicher Gewissheiten, welche zu Erkenntnisgewinnen führten.
300.000 Jahre lang überlebten die Neandertaler mit minimaler Ausrüstung unter widrigsten Umweltbedingungen, welche vermutlich die allermeisten von uns, zurückgereist in einen Jägerclan, umbringen würden.
Für mich besonders schön: Die stimmungsvollen Illustrationen des Künstlers Benoît Clarys. Schön sind ihre kräftigen und gedrungen Körper dargestellt. Gleichzeitig erblickten wir in ihren Gesichtern Gefühle und Gedanken.
Das Themenspektrum umfasst Evolution, Anatomie, Klima- und Umweltgeschichte, Werkzeug- und Waffenkunde, Jagdtechniken und vieles mehr. Neandertaler verfügten über erheblich mehr Handwerk und Kunstsinn, als die Forschung lange annahm.

Anders hätten sie auch nicht in einer Umwelt überleben können, die so menschenfeindlich war, dass wir Homo sapiens erst nach Australien gelangten, bevor wir weiter in den eisigen Norden vordrangen.
Moderne Menschen benötigten für die 5.000 Kilometer vom Nahen Osten länger »als für die 15.000 Kilometer Wüste, Wälder, Gebirge, Ebenen und Meere, die sie bis Australien zurücklegen mussten. Warum? Weil sie <tropische> Menschen waren.«
Die Neandertaler hingegen hingegen sind »ein spektakuläres Beispiel dafür, wie das Klima am die Lebewesen prägt«. Mit ihren muskulösen, gedrungenen Körper, der hellen Haut und ihren große Gehirnen behaupteten sie sich als erfolgreiche Großwildjäger in der von Tieren und Pflanzen nur spärlich besiedelten Kältesteppe. Heute nimmt man an, dass die europäische Neandertalerpopulation nur 70.000 Köpfe zählte. Kultureller Austausch und Innovation waren ebenso schwierig wie die Partnersuche außerhalb der eigenen Sippe. In Kälteperioden sank ihre Zahl vermutlich auf 10.000.

In dem Sachbuchtext sind mehrere Erzählungen eines fiktiven und beispielhaften Paares eingebettet: Nordmann und Rotbraut. Fremd und ähnlich erscheinen sie uns. Rotes Haar, grüne Augen, Überaugenwülste, breite Nasen und athletische Körper. Ihre Biographie, vom ersten Date zur Familiengründung und dem harten Job als Jäger und Sammler vor 50.000 Jahren, gibt zu denken.
Das Ende der Neandertaler wurde wohl durch mehrere Ereignisse bestimmt. Eine extreme Kältewelle, ausgelöst durch Vulkanausbrüche in Italien, setzte Flora und Fauna arg zu und ließ somit auch ihre Bevölkerung schrumpfen. Das Finden geeigneter Partner außerhalb der eigenen Sippen wurde nochmals erschwert. Anschließend folgte die Einwanderung unserer Ahnen. Sie vermehrten sich schneller, lebten in größeren Sippen, was eine Innovationskultur begünstigte. Vermutlich besetzten sie wohl schnell die besten Territorien, so dass die Neandertalergruppen verdrängt wurden und langsam ausstarben. Aufgrund vereinzelter sexueller Kontakte tragen Menschen europäischer Herkunft jedoch immer noch einige Neandertaler-Gene in sich, so dass sie nicht vollkommen verschwunden sind. Ihr Erbe sind unter anderem Kälteresistenz und Diabetes.
Mein Resümee? Eine geistig anregende und wissenschaftliche fundierte Zeitreise in die Eiszeit zu unseren chronisch unterschätzten Verwandten, denen wir bei ihrem Job als steinzeitliche Großwildjäger nicht das Wasser reichen könnten.
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Anmerkungen

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Titel: Der Neandertaler, unser Bruder: 300.000 Jahre Geschichte des Menschen
Autoren: Silvana Condemi und François Savatier
Illustrator: Benoît Clarys
Übersetzung: Anna Leube und Wolf Heinrich Leube
Verlag: C.H.Beck; 1. Edition (16. März 2020)
Verlagslink: https://www.chbeck.de/condemi-savatier-neandertaler-bruder/product/30250972
ISBN: 978-3406750762
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Website mit Werken des Illustrators: http://rochedesolutre.com/de/exposition-benoit-clarys/