Seit ihrer Entdeckung gelten Neanderthaler in der Populärkultur, ähnlich wie die Dinosaurier, als die personifizierte evolutionäre Sackgasse. Zahlreich sind die Cartoons, die man im Internet über unsere puckelige und keulenschwingende Verwandtschaft mit der flachen Stirn findet. Über die Caveman-Cartoons von Gary Larson kann ich mich mit nie endender Begeisterung scheckig lachen.

Herablassung oder Häme gegenüber den Neanderthalern sind allerdings nicht angebracht. Sie überlebten ungefähr 250.000 Jahre in Europa. Moderne Menschen des Types Homo sapiens gibt es seit ungefähr 65.000 Jahren und seit etwa 40.000 Jahren in Europa. Ob wir es ebenfalls auf die gleiche Lebensdauer schaffen, steht noch in den Sternen. Sie sind nicht unsere direkten Vorfahren, sondern gehören einer ausgestorbenen Seitenlinie an. Das wir ungefähr 4 % ihrer Erbsubstanz teilen, verdanken wir sporadischen sexuellen Kontakten. Vermutlich keinen freiwilligen. Unser gemeinsamer Vorfahr ist der Homo erectus.

Da die Neanderthaler lange vor unseren Ahnen das eiszeitliche Europa besiedelten, passte sich ihr Körperbau den harten Umweltbedingungen an. Während der Eiszeit war es nicht dauerhaft klirrend kalt in Europa. Zwischendurch gab es auch 10.000 bis 15.000 Jahre andauernde Warmzeiten, die sogenannten Interglazialen. Die extremen klimatischen Veränderungen bildeten für alle Lebewesen belastende Herausforderungen und lösten evolutionäre Anpassungen aus.

An mehr als 80 Fundstellen zwischen Usbekistan, Israel, Norddeutschland und Spanien konnte bisher die Existenz dieser Urmenschen nachgewiesen werden. Da sich unsere Vorfahren länger in den warmen Klimazonen Afrikas entwickelten, waren sie größer und schlanker als Neanderthaler. Deren harte Jagdmethoden bevorzugten die Entwicklung vierschrötiger Jäger mit starker Muskulatur und robusten Knochen. Sie maßen ungefähr 160 cm und brächten dabei 60 bis 90 kg auf die Waage, wenn es diese unerfreulichen Geräte schon damals gehabt hätte. Obwohl ihre Schädel flacher als unsere waren, verfügten sie über 10 % größere Gehirne. Erstaunlich, denn unsere Gehirne sind schon ungefähr dreimal so groß, wie sie bei durchschnittlichen Säugetieren sein sollten. Ein großes Gehirn ist für den Körper ziemlich kostspielig im Unterhalt, denn es benötigt 20 % seines Stoffwechsels und das Essen war meist eine knappe Ressource. Ihr großes Gehirn wird sich ausgezahlt haben. Waren sie klüger als wir? Vielleicht war ihre Intelligenz eine andere…
Das weit ausgezogene Hinterhaupt der Neanderthaler lässt auf einen besser ausgeprägten Gehörsinn schließen. Den großen Augenhöhlen verdankten sie vor allem in der Dämmerung eine bessere Sehfähigkeit. In ihren sehr großen Nasennebenhöhlen wurde die kalte Luft vorgewärmt und befeuchtet, bevor sie in die Lungen eintrat. Im Vergleich zu uns hatten sie kräftigere Kiefer, größere Zähne und längere Zahnreihen, was den Verzehr zäher Nahrung weit jenseits des distinguierten Menüwunsches „englisch“ ermöglichte. Nach heutigen Erkenntnissen entwickelte sich die helle Haut bei Neanderthalern und Homo sapiens erst am Ende der letzten Eiszeit.
Aufgrund ihrer kompakten Körper mit vergleichsweise kurzen Gliedmaßen, verloren sie bei niedrigen Temperaturen weniger Körperwärme. Das Lebewesen in kalten Klimazonen über kompakte Körper verfügen, wird als Bergmann’sche Regel bezeichnet. Dass sie im Vergleich zur Torsolänge kürzere Gliedmaßen besitzen, erklärt die Allen’sche Regel. Wenn Du also ein massiger Typ mit kurzen Armen und Beinen bist, bezeichne Dich einfach selbstbewusst als nordischer Jäger. Die nächste Eiszeit ist langsam fällig und Sexualpartner sollten Dich attraktiv finden, da Deine Kinder wahrscheinlicher überleben werden, als die modischen Spargeltarzane!

Bei aller Intelligenz der Neanderthaler war die verwegene Konfrontationsjagd auf ihre bevorzugte Beute, Wollnashörner und Mammuts, hochriskant. Fast alle Knochenfunde bei Neanderthalern weisen Verletzungen auf, die auf unfreundliche Kollisionen mit Großwild hindeuten. Knochenbrüche dieser Art, vor allem Kopf- und Halsverletzungen, erhalten heutzutage nur amerikanische Rodeo-Reiter. Dabei erlitten 87 % dieser Verletzungen Neanderthaler-Männer in „den besten Jahren“. Wenig Phantasie genügt, um sich die Vehemenz vorzustellen, mit der Jäger und Großwild aufeinander prallten. Im Gegensatz zu Rodeoreitern, blieben sie wenigstens von Countrymusic verschont.
Während ihres gefährlichen und anstrengenden Lebens in einer kalten und feindlichen Umgebung litten sie immer wieder Hunger, dabei benötigten sie täglich so viele Kalorien wie ein menschlicher Leistungssportler im Training. So lag ihre durchschnittliche Lebenserwartung bei 30 Jahren. Die ältesten Exemplare waren 45 Jahre alt, litten unter schwerer Arthritis, zahlreichen Verletzungen und hatten nur noch wenige und stark abgenutzte Zähne. Vermutlich erreichte nur jedes zweite ihrer Kinder das fünfte Lebensjahr. Bio-Lebensmittel und viel Bewegung an der frischen Luft sind eben nicht alles. Jede Verletzung auf der Jagd bedeutete für die Sippe eine Katastrophe. Der Verletzte konnte keine Nahrung beschaffen, musste gepflegt, ernährt und womöglich durch eine weglose Wildnis getragen werden.
Ihr Lebensraum im Nordwesten Eurasiens bot während der Eiszeit wenig pflanzliche Nahrung. Auch bei zeitgenössischen Jägern und Sammler gibt es eine starke Korrelation zwischen Breitengrad und Ernährungsweise. In den Tropen bietet sich pflanzliche Ernährung an. In gemäßigten Breiten eine Mischung aus pflanzlicher und tierischer Nahrung und Bewohner der Arktis ernähren sich hauptsächlich von tierischen Produkten. Durch die Analyse der isotopischen Knochensignaturen weiß man, dass sie auf der Fleischfresser-Skala höher angesiedelt waren als Hyänen und opportunistischen Jägern wie Braunbären. Besonders viel Aas scheinen sie nicht verzehrt haben, was die Wissenschaftler so nicht erwartet hatten.
Als besondere Leckerei schätzten die Neanderthaler Knochenmark. Es ist nahrhaft, da es viel Fett enthält und schmeckt köstlich (Dieses Rezept kann ich mir nicht verkneifen: https://krautjunker.com/2016/11/23/geroestetes-knochenmark-mit-petersiliensalat/). Knochen, die nicht so viel Mark enthielten, wurden nicht geöffnet, sondern weggeworfen, die anderen immer nach dem gleichen Muster geöffnet.
An Fundorten wie La Cotte, wo es den Jägern gelang elf Mammuts und ein paar Nashörner über eine Klippe zu treiben, wurden die Knochen verbrannt, vielleicht als Holzersatz.

Das nachgewiesene Waffenarsenal war bescheiden. Als Jagdwaffen konnten bisher nur Speere nachgewiesen werden. Die Wahl des Holzes erfolgte nicht willkürlich. Bevorzugt wurde die Eibe gewählt, seit der Jungsteinzeit auch das Lieblingsholz der Bogenbauer. Ein junger Baum wurde gefällt und mit Steinmessern in Form geschnitzt. Wie bei heutigen Wettkampfspeeren liegt der Schwerpunkt im vorderen Drittel. Da Baumstämme an der Basis am festesten sind, nutzte man die wurzelnahen Teile für die Spitzen. Dabei bildet der Markstrahl, in dem die Pflanze Nährstoffe transportiert, die Schwachstelle. Durch die intensive Auseinandersetzung mit ihren Werkstoffen, war dies nicht erst den Neanderthalern bekannt, sondern zumindest schon den Homo erectus welche vor 300.000 Jahren die „Speere von Schöningen“ herstellten (Leseempfehlung: https://krautjunker.com/2019/03/20/300-000-jahre-spitzentechnik-der-altsteinzeitliche-fundplatz-schoningen-und-die-fruhesten-speere-der-menschheit/). Sie wurden so geformt, dass die Spitze neben dem Markstrahl verlief und dadurch fester wurde. Ein Tischlertrick, der immer noch gängig ist. Sehr lange nutzte man nur Stoßspeere.
Die ersten hölzernen Speerspitzen wurden über dem Feuer gehärtet, was mehr Geschick verlangte, als man sich zuerst vorstellt. Hört man zu früh auf, bleibt das Holz zu weich und zersplittert beim Aufprall auf das Ziel. Setzt man es der Hitze zu lange aus, wird es spröde, verliert seine Festigkeit und bricht ebenfalls. Macht man es allerdings richtig, kann man sogar Elefanten töten. Vielleicht schon vor 200.000 Jahren klebten Neanderthaler rasiermesserscharfe Steinspitzen mit Birkenpech an die Spitzen ihrer Speere, um mit ihnen große Tiere erlegen zu können. Die bevorzugte Speerspitze war flach und dreieckig. Archäologen bezeichnen sie als Levallois-Spitze. Eine wirksame Waffe, die große Wunden reißt. Steckt die Speerspitze im Körper des Beutetieres, versucht der Jäger den Schaft zu drehen. Diese Praxis ist teilweise noch gängig bei der Erlegung eines verletzten Keilers im Dickicht mit der Saufeder, einer breitblättrigen Stangenwaffe. Bis ins 17. Jahrhundert zählten Stoßspeere zu den wichtigsten Kriegswaffen.
Die ältesten Wurfspeere sind 50.000 Jahre alt. Der früheste und einzige Beweis ist ein syrischer Wildesel, der bei Umm el Tlel von einem Neandertaler mit einem wuchtigen Wurf in den Halswirbel getroffen wurde. Andere Archäologen behaupten in dem schon erwähnten Buch 300.000 Jahre Spitzentechnik: Der altsteinzeitliche Fundplatz Schöningen und die frühesten Speere der Menschheit, dass schon der Homo erectus mit Wurfspeeren jagte. Nach meinem Kenntnisstand sind sich hier die Wissenschaftler uneins.
Die Herstellung einer Levallois-Spitze erfordert viel Kunstfertigkeit.

Seit 2,6 Millionen Jahren bildeten Steinwerkzeuge die Grundlage unserer Technologie. Sie halfen unseren ersten affenmenschlichen Ahnen zu überleben, bis vor 6.000 Jahren die Metallverarbeitung erfunden wurde. Bei kleineren Tieren verwendeten die Neandertaler Knochenspitzen. Es gibt jedoch nur sehr wenige Belege das kleine Säugetiere oder Vögel auf dem Speiseplan standen.
Für Fischfang fehlen bislang archäologische Beweise, vermutlich weil hierfür mehr Ideen und Initiative gefragt sind. Eine weitere Theorie ist, dass sie nicht das Salzen kannten und daher Fisch, welcher schneller vergeht als Wildbret, nicht haltbar machen konnten. Aber in der Nähe der Vanguard Cave bei Gibraltar oder in der Grotta di Moscerini im italienischen Latium knackten sie Muscheln, um an das schmackhafte Fleisch der Mollusken zu gelangen. Da der Grillrost noch nicht erfunden war, legten sie Algen in die heiße Asche. So wurde das Muschelfleisch erhitzt, ohne zu verbrennen. Anschließend konnten sie die Schalen mit Steinwerkzeugen öffnen.
Ebenfalls wurden Gruben gefunden, in denen sich beispielsweise Rentiere die Beine brechen sollten und vielfach trieben sie beispielsweise Mammuts über Klippen.
Pfeil und Bogen kamen noch später auf, wobei Archäologen wie John Shea von der University of New York auch dies für möglich halten. Er stützt sich dabei auf kleine bearbeitete Steinspitzen, die auf dem Balkan, in Griechenland oder auf der Krim gefunden wurden. Diese Mikrolithen ähneln Steinspitzen, mit denen moderne Menschen ihre Pfeile bewehrten.
Wer vorwiegend Großwild aus nächster Nähe erlegt, kann kaum allein unterwegs sein.

Die Stärke einer eiszeitlichen Neanderthaler-Jagdgemeinschaft mag bei zehn bis 20 Mitgliedern gelegen haben. Körperlich ihren Beutetieren unterlegene Jäger mussten deren Verhalten vorhersagen können, um die Oberhand zu behalten. Hierfür waren sie gezwungen, gemeinsam zu planen und darauf angewiesen, sich in kritischen Momenten aufeinander verlassen zu können. Für Wissenschaftler sind die für soziale Implikationen und intensive Kooperation notwendigen Fähigkeiten zentrale Aspekte der menschlichen Entwicklung. Verkürzt gesagt, machte die Jagd und der Fleischverzehr aus Affen Menschen. So bildeten Erfahrung, Geländekenntnis sowie Denkvermögen und nicht rohe Kraft die mächtigsten Waffen der Eiszeitjäger. Im Gegensatz zu den ersten modernen Menschen, waren auch Frauen bei der Jagd eingebunden. Vermutlich als Treiber und Späher. Die Jagdgruppen streiften in einem Radius von ca. zehn bis 20 Kilometern um das Basislager herum. In diesem Revier legten sie kleine Unterkünfte mit Feuerstellen an.
Im Gegensatz zu unseren steinzeitlichen Vorfahren scheint es so, als ob die Neanderthaler standorttreuer waren und sich auf große Wildtiere konzentrierten, die besonders viel Fleisch lieferten. In Nordwesteuropa bevorzugten sie das Mammut und das Wollnashorn als Beute, die größten und gefährlichsten Pflanzenfresser, die es seinerzeit gab. Um diese wehrhaften, jedoch schlecht sehenden Wildtiere mit Stoßspeeren zu erlegen musste man taktisch denken. Immerhin wurden Mammuts drei bis vier Meter hoch und bis zu sechs Tonnen schwer. Mit ihren bis zu fünf Meter langen Stoßzähnen mag man nicht kollidieren.

Doch selbst ein in die Enge getriebener waidwunder langhorniger Steppenbison wird für eine Jagdgesellschaft mit Speeren ein harter Gegner gewesen sein.

Beute machte man am besten, indem man landschaftliche Elemente zum eigenen Vorteil nutzte. Alle Orte, an denen beispielsweise Paläoindianer, die vor 11.000 Jahren in Nordamerika lebten, Mammuts erlegten, verfügen über bestimmte Auffälligkeiten. So wurden die Tiere beispielsweise immobilisiert oder zumindest verlangsamt, indem man sie durch den weichen Untergrund eines Bachbettes trieb. Trotzdem mussten die Jäger bei den brutalen Tötungen auf kurze Distanz sehr selbstbewusst sein, um ihre persönliche Sicherheit zu missachten und ein hohes Risiko einzugehen.
Die Züge der großen Herden waren ein Fest für die Jäger, denn sie hatten gelernt, die Zeichen der Natur zu lesen und im Voraus zu planen. Neanderthaler bei Salzgitter-Lebenstedt im heutigen Niedersachsen jagten Rentiere. Im Gegensatz zu Raubtieren konzentrierten sie sich auf ausgewachsene männliche Tiere. Ebenso wie die Paläoindianer nutzten sie Geländekenntnisse, um die Beutetiere in ihrer Bewegung zu behindern. So manövrierten sie die Herde in ein steiles, enges Tal, wo sie nicht fliehen konnten und töteten sie mit Speeren. Hier fanden Archäologen sogar eine einzigartige Speerspitze, die aus einem Mammutknochen geschnitzt wurde. In der Nähe des südfranzösischen Ortes Mauran verriet die Verteilung von Knochen und Steinspitzen unterhalb eines Hanges den Archäologen, dass die Jäger einer Herde Bisons aufgelauert hatten. Die Tiere boten leichte Ziele, als sie bei ihrer Wanderung eine Engstelle zwischen Hügel und Fluss passieren mussten. Es wird angenommen, dass diese Engstelle durch künstliche Hindernisse noch optimiert wurde.
Am anderen Ende Europas, dem gebirgigen Kaukasus, jagten sie den Tur, wie man den Kaukasischen Steinbock nennt. Männliche Exemplare dieser Bergziegenart erreichen bis zu 100 kg, die Weibchen etwas mehr als die Hälfte. Die Neanderthaler jagten beide, aber primär ausgewachsene Tiere. Dabei machten sie es sich zunutze, dass die Tiere bei ihrem jahreszeitlich bedingten Migrationszyklus von den Sommer- zu den Winterweiden, dieselben Pfade benutzten. Die Jäger mussten sich zum richtigen Zeitpunkt lediglich Verstecke in der Nähe suchen, um aus dem Hinterhalt anzugreifen, wenn sie vorbeiliefen.
Auf der Krim verspeisten sie bevorzugt Saiga-Antilopen und Wildesel. Im Alpenraum galt der Höhlenbar als eine so große Delikatesse, dass man ihn auf 2.000 Meter Höhe erlegte. Besonders in Mittel- und Osteuropa wurden viele Konflikte mit Raubtieren nachgewiesen, denn dort sind die Funde von Raubtierresten besonders häufig und die Kochen von Neandertalern zumeist erstaunlich schlecht erhalten. Im Gegensatz dazu, sind die Funde aus der Levante nahezu unbeschädigt.
Neandertaler die vor etwa 60.000 bis 48.000 Jahren in Israel auf dem Berg Karmel lebten, jagten zu 80 % kleinere Wildtiere wie Gazellen und Damwild, gelegentlich auch die gefährlicheren Wildrinder und Wildschweine. Zudem sammelten sie Landschildkröten, die nicht ganz so wild sind.
Da das Klima im Süden zwar trockener und kühler als heute war, gab es doch eine größere Vielfalt an essbaren Pflanzen. Die Archäologen konnten bei Kebara mehr als 4.000 verkohlte Samen bergen. Davon waren 75 % Hülsenfrüchte, zumeist Erbsen. Daneben fand man Pistazien und Eicheln.

Es gibt drei Grundtypen von Neanderthalerstätten: Orte, an denen Tiere geschlachtet wurden, kleine Jagdlager sowie größere Wohnstätten, welche vermutlich zentrale Standorte bildeten. Gelang es den Jägern größere Beutetiere zu erlegen, reisten die Gruppen dem Kadaver hinterher. Die Lagerung von Lebensmitteln konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Sie kannten weder Gefäße noch Gruben, in denen sie ihre Nahrung konservierten. War es kalt genug, hielt sich das in kleine Stücke zerteilte Fleisch eine Weile. Die toten Tiere waren für Aasfresser wie Hyänen meilenweit zu riechen und lockten sicher ungebetene Gäste an, die man mit Feuer in Schach halten musste.
Die Neanderthaler waren bei der Suche nach Nahrung flexibel, passten sich dem an, was vor Ort zur Verfügung stand und passten die Größe ihrer Territorien den jeweils verfügbaren Ressourcen an. Die Mobilität von Jägern und Sammlern wird immer noch von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst. Da die für eine Gruppe von Menschen benötigten Ressourcen an Jagdwild schnell erschöpft sind, müssen sich die Gruppen öfter von einem Ort zum anderen bewegen.
Die Neanderthaler verließen ihre Reviere erst, wenn es nicht mehr genug Wild gab. Sie legten kürzere Distanzen als moderne Menschen zurück und neigten zu Hin-und-zurück-Mustern. Sie bewegten sich auch nie sehr weit von den Orten weg, an denen sie Rohstoffe wie bestimmte Steine fanden. Nur ein kleiner Anteil der in Neanderthalerstätten gefundenen Rohstoffe hatte seinen Ursprungsort mehr als 20 km entfernt. Mitunter wurden kleinere Stücke gefunden, die aus 250 km Entfernung stammen, aber das ist äußerst selten. Sie überquerten fast nie große Hindernisse wie Berge oder breite Flüsse. Flusstäler bildeten die meisten ihrer lokalen Reiserouten. Wahrscheinlich mussten die Jäger in kälteren Regionen ihren Beutetieren über weitere Strecken folgen, da diese in größeren Territorien lebten.
Im Vergleich zu frühen modernen Menschen bildeten sie mit einem Dutzend Erwachsenen sowie den dazugehörenden Kindern kleinere Gruppen. Sie nutzten eine kleinere Auswahl von Ressourcen und waren nicht so willens und fähig, Lebensraum und Nahrungsquellen zu wechseln. Sie konnten ihr Beuteschema nach Jahreszeiten ändern, planten jedoch nicht innerhalb von Jahreszeiten und zogen erst weiter, wenn es gar nicht anders ging, weil sie keine Nahrung mehr fanden. Dann zogen sie aber auch bis zu 150 Kilometer weiter, bis sie eine neue Wohnstätte aufbauten.
Bei modernen Gruppen von Jägern und Sammlern ist eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung allgegenwärtig. In den Tropen sorgen Frauen für einen Großteil der Deckung des Kalorienbedarfes, indem sie Pflanzen und kleine Tiere sammeln. Das von den Männern gejagte Großwild wird zwar sehr geschätzt, ist aber weniger wichtig. In je kälteren Regionen sich der Lebensraum befindet, verschiebt sich der Fokus auf Fleisch und Fisch.

Inuit, früher auch als Eskimos bezeichnet, die sich in einer ähnlichen Umgebung nicht ganz anders ernährten, nutzten erheblich komplexere Gerätschaften wie Harpunen, Boote, Schlitten. Das Fehlen dieser Gerätschaften bei Neanderthalern wird als eine fehlende Arbeitsteilung nach Geschlecht und Alter interpretiert. Bei den Inuit unterliegt die Herstellung und Pflege eines Großteils der lebensnotwendigen Technik den Frauen.
Bei Neanderthalerstätten gibt es keine Hinweise hierauf, so dass man annimmt, dass Frauen und Kinder bei den Jagden teilnahmen, wenn auch in weniger gefährlichen Rollen. Dies hat vielerlei Gründe: Männer sind größer und kräftiger, zumeist aggressiver und dominanter. Schlussendlich ist der Verlust einer Frau ist für eine isolierte Kleingruppe schlimmer als der eines Mannes.
Nach neuen Erkenntnissen gab es kurz vor 40.000 Jahre, vor dem Ende der letzten Eiszeit, einen gigantischen Vulkanausbruch in den Phlegräischen Felder Italiens. Der folgende vulkanischen Winter sorgte für extreme Kälte, was die Bestände vieler europäischer Lebewesen stark schrumpfen ließ. Es reicht nicht aus, um das Ende der Neanderthaler vollständig zu erklären, aber für viele Neanderthaler mag dieser Kälteeinbruch der letzte Stresstest gewesen sein, während immer mehr moderne Menschen aus dem Süden einwanderten.
Während der Eiszeit entwickelten viele Tiere Riesenwuchs, um dem Frost besser standzuhalten. Sie wurden dadurch langsamer und waren in der offenen Kältesteppe leicht zu entdecken. Als es wärmer wurde, verbargen Urwälder kleinere Tiere, die im Dickicht schneller entwischen konnten. Die großen Pflanzenfresser verschwanden und mit dem modernen Menschen betrat ein cleverer Wettbewerber auf den Plan, der in größeren Gruppen auftrat, vermutlich die besten Jagdreviere besetzte und die Isolierung der letzten Neanderthalergruppen vorantrieb. Inzest und Hunger mögen das Ende eingeläutet haben. Die Neanderthaler waren vermutlich nicht flexibel, schnell genug ihre Lebensweise umzustellen, um zu überleben.

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Von KRAUTJUNKER existiert eine Facebook-Gruppe.

Dieser Text ist eine leicht überarbeitete Version meines Essays, welches im empfehlenswerten Magazin Jagdzeit Nr. 42 (1/2020) veröffentlicht wurde.
Alle Informationen aus diesem Text stammen aus archäologischen Fachbüchern und Fachzeitschriften. Mehrfach stieß ich auf einander widersprechende Theorien oder Zahlen. Dieser Text erhebt daher nicht den Anspruch eine perfekte akademische Arbeit zu sein, sondern ist eine Zusammenfassung des mir bekannten gegenwärtigen Wissensstandes. Das fängt schon bei der Schreibweise mit „h“ oder ohne an. Mein Dank gilt Melanie Wunsch vom Neanderthal Museum. Aller Fehler in diesem Text gehen auf meine Kappe. Wissbegierigen Lesern empfehle ich einen Besuch des Neanderthal Museums in Mettmann bei Düsseldorf.
https://www.neanderthal.de/de/start.html
Guten Tag,
vielen Dank für die immer ausführlichen, unterhaltsamen und informativen Texte
auf Ihrer Website.
Zum Essay über die Jäger der Eiszeit und als Liebhaber von Meeresfrüchten möchte ich folgendes beifügen:
Legt man eine Auster in warme Kohle
öffnet sich diese innert Minuten und ist, leicht gegart, bereit zum Verzehr.
Mit einer kleinen Haube aus Crème Fraîche, etwas frischem Majoran und der Säure von gutem Weisswein oder Zitrone, bleibt man genügsam.
Guten Appetit!
Pascal Glarner, Zürich
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Herzlichen Dank, lieber Pascal Glarner, für den interessanten Kommentar.
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