Der Sonntag ist traditionell die Zeit der Ausflüge. Heute heißt es auf KRAUTJUNKER, „Kinder, wir fahren in das Jahr 1500.“ Das Vehikel der Wahl ist das Buch „Kulturgeschichte der Neuzeit“, ein von 1927 bis 1931 erschienenes mehrbändiges Riesen-Essay von Egon Friedell (* 1878; † 1938). Der Autor war ein ungemein scharfsinniger und unterhaltsamer Querdenker, der sich nicht nur als Kulturphilosoph, sondern auch als Publizist, Schauspieler und Kabarettist betätigte. Obwohl das Buch eine unfassbare Menge an Fakten, Thesen und Verknüpfungen über fünfhundert Jahre europäische Geschichte beinhaltet, hat es seit 1931 seine Frische, Relevanz und Faszination nicht verloren. Der folgende Beitrag ist etwas derb, aber sehr unterhaltsam.
von Egon Friedell
Umverminderter Plebejismus
Der Norden, und zumal der deutsche, trug damals, wir erwähnten es schon, eben noch einen sehr plebejischen Charakter. In seinem Bericht über Deutschland vom Jahr 1508 sagt Machiavell: »Sie bauen nicht, sie machen für Kleider keinen Aufwand, sie verwenden nichts auf Hausgeräte; ihnen genügt, Überfluß an Brot und Fleisch und eine geheizte Stube zu haben.« Und von den deutschen Gasthäusern gibt Erasmus von Rotterdam folgende überaus anschauliche Schilderung: »Bei der Ankunft grüßt niemand, damit es nicht scheine, als ob sie viel nach Gästen fragten, denn dies halten sie für schmutzig und niederträchtig und des deutschen Ernstes für unwürdig. Nachdem du lange vor dem Hause geschrien hast, steckt endlich irgendeiner den Kopf durch das kleine Fensterchen heraus gleich einer Schildkröte … diesen Herausschauenden muß man nun fragen, ob man hier einkehren könne. Schlägt er es nicht ab, so begreifst du daraus, daß du Platz haben kannst. Die Frage nach dem Stall wird mit einer Handbewegung beantwortet. Dort kannst du nach Beheben dein Pferd behandeln; denn kein Diener legt eine Hand an … Ist das Pferd besorgt, so begibst du dich, wie du bist, in die Stube, mit Stiefeln, Gepäck und Schmutz. Diese geheizte Stube ist allen Gästen gemeinsam. Daß man eigene Zimmer zum Umkleiden, Waschen, Wärmen und Ausruhen anweist, kommt hier nicht vor … So kommen in demselben Raum oft achtzig oder neunzig Gäste zusammen, Fußreisende, Reiter, Kaufleute, Schiffer, Fuhrleute, Bauern, Knaben, Weiber, Gesunde, Kranke. Hier kämmt sich der eine das Haupthaar, dort wischt sich ein anderer den Schweiß ab, wieder ein anderer reinigt sich Schuhe und Reitstiefel … Es bildet einen Hauptpunkt guter Bewirtung, daß alle vom Schweiße triefen. Öffnet einer, ungewohnt solchen Qualms, nur eine Fensterritze, so schreit man: Zugemacht! … Endlich wird der Wein, von bedeutender Säure, aufgesetzt. Fällt es nun etwa einem Gaste ein, für sein Geld um eine andere Weinsorte zu ersuchen, so tut man anfangs, als ob man es nicht hörte, aber mit einem Gesichte, als wollte man den ungebührlichen Begehrer umbringen. Wiederholt der Bittende sein Anliegen, so erhält er den Bescheid: In diesem Gasthause sind schon so viele Grafen und Markgrafen eingekehrt, und noch keiner hat sich über den Wein beschwert; steht er dir nicht an, so suche dir ein anderes Gasthaus. Denn nur die Adeligen ihres Volkes halten sie für Menschen … Bald kommen mit großem Gepränge die Schüsseln. Die erste bietet fast immer Brotstücke mit Fleischbrühe, hierauf kommt etwas aus aufgewärmten Fleischarten oder Pökelfleisch oder eingesalzener Fisch … Dann wird auch etwas besserer Wein gebracht. Es ist zum Verwundern, welches Schreien und Lärmen sich anhebt, wenn die Köpfe vom Trinken warm geworden sind. Keiner versteht den andern. Häufig mischen sich Possenreißer und Schalksnarren in diesen Tumult, und es ist kaum glaublich, welche Freude die Deutschen an solchen Leuten finden, die durch ihren Gesang, ihr Geschwätz und ihr Geschrei, ihre Sprünge und Prügeleien ein solches Getöse machen, daß der Stube der Einsturz droht … Wünscht ein von der Reise Ermüdeter gleich nach dem Essen zu Bett zu gehen, so heißt es: er solle warten, bis die übrigen sich niederlegen. Dann wird jedem sein Nest gezeigt, und das ist weiter nichts als ein Bett, denn es ist außer den Betten nichts vorhanden, was man brauchen könnte. Die Leintücher sind vielleicht vor sechs Monaten zuletzt gewaschen worden.«
Das klassische Zeitalter der Völlerei
Das Bedenkt man, daß das Gasthauswesen einen ziemlich präzisen Gradmesser der jeweiligen materiellen Kultur darstellt und daß in nicht bloß das niedere Volk, sondern auch die Creme verkehrte, so gewinnt man den Eindruck, daß es den damaligen Deutschen noch an jeglicher Delikatesse und Differenzierung der Lebensführung gefehlt hat. Hingegen waren in quantitativer Hinsicht die Ernährungsverhältnisse zweifellos günstiger als heutzutage. Man hört zum Beispiel, daß in Sachsen die Werkleute ausdrücklich angewiesen wurden, sich mit zwei täglichen Mahlzeiten von je vier Gerichten: Suppe, zweierlei Fleisch und Gemüse, zufrieden zu geben. Ein Pfund Bratwurst kostete einen Pfennig, ein Pfund Rindfleisch zwei Pfennig, während der durchschnittliche Taglohn für einen gewöhnlichen Arbeiter achtzehn Pfennig betrug. Wenn in gewissen Gegenden die Armen sich bisweilen eine Woche lang kein Fleisch leisten konnten, so wird das immer mit besonderem Staunen hervorgehoben. Man wird überhaupt sagen dürfen, daß das sechzehnte Jahrhundert für Deutschland das klassische Zeitalter des Fressens und Saufens war; selbst von Luther wird berichtet, daß er sich hierin manchmal übernahm: überhaupt galten die Evangelischen als besondere Trunkenbolde und Vielfraße. Bei einem Essen, das der Nürnberger Doktor Christoph Scheurl Melanchthon zu Ehren veranstaltete, gab es folgende Gerichte: Saukopf und Lendenbraten in saurer Sauce; Forellen und Äschen; fünf Rebhühner; acht Vögel; einen Kapaun; Hecht in Sülze; Wildschweinfleisch in Pfeffersauce; Käsekuchen und Obst; Pistaziennüsse und Latwergen; Lebkuchen und Konfekt. Diese Unmenge von Fisch, Schwein, Geflügel und Süßigkeiten vertilgte eine Tischgesellschaft von nur zwölf Personen; dazu tranken sie so viel Wein, daß auf jeden dritthalb Liter kamen. Von vielen Fürstlichkeiten wird berichtet, daß sie fast täglich betrunken waren; nicht anders hielt es die Mehrzahl der Bürger, Soldaten und Bauern; auch bei den Frauen war der Alkohol bis in die höchsten Stände hinauf sehr beliebt. Und während man sich bisher auf nicht allzu stark eingebrautes Bier und dünnen Wein beschränkt hatte, lernte man jetzt auch die schweren Biere und hochgradigen Weine schätzen, und um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts kam das Branntweinbrennen auf: der Kornschnaps wurde ein vielbegehrtes, wahrscheinlich aber noch nicht allgemeines Getränk, denn er war verhältnismäßig teuer. Es wurden zwar Mäßigkeitsvereine gegründet und Gesetze gegen Trunksucht erlassen; aber ohne jeden Erfolg. Was die damaligen Menschen an normalen Mahlzeiten vertrugen, zeigt eine zeitgenössische Schilderung des Tiroler Badelebens: »Des Morgens um sechs Uhr vor dem Bade Setzeier, eine Rahmsuppe, zwischen sieben und acht Uhr eine Pfanne voll Eier oder ein Milchmus, dazu Wein. Um neun Uhr genießt man Schmarren und kleine Fische oder Krebse. Dazu gehört ein Trunk. Zwischen zehn und elf findet das Mittagsmahl statt: fünf bis sieben Gerichte. Bis zwei Uhr geht man dann spazieren und ißt um zwei Uhr vor dem Bade eine Pfanne mit Dampfnudeln, eine Hühnerpastete. Zwischen drei und vier Uhr gesottene Eier oder ein Hähnchen. Zum Nachtmahl vier bis fünf kräftige Speisen, um acht Uhr vor dem Schlafengehen ein Schwingmus und eine Schüssel Wein mit Brot, Gewürz, Zucker.« Nachmittags gab es noch die »Jause«: sie bestand nach demselben Gewährsmann aus Salat mit Butter, harten Eiern, gebratenen Hühnern, Fisch, Schmarren und reichlichem Wein. Diese Menschen haben also fast ununterbrochen gegessen, und besonders unverständlich ist es, wie sich dies mit dem Baden vertrug.
Was die sogenannte »Sittlichkeit« anlangt, so ist eine gewisse Besserung gegenüber den Zuständen der Inkubationszeit zu verzeichnen: die Frauenhäuser sind weniger zahlreich, die Badhäuser kommen langsam außer Gebrauch, der Geschlechtsverkehr ist weniger zügellos und schamlos; aber diese Veränderungen sind höchstwahrscheinlich auf zwei Ursachen zurückzuführen, die außerhalb der Moral liegen: das Auftreten der Syphilis und das Muckertum des Protestantismus. Die Sitten jedoch sind fast noch roher als vordem: daß Männer ihre Frauen prügeln, kommt selbst in fürstlichen Kreisen vor, in der Kindererziehung spielt die Rute die Hauptrolle, Reden und Umgangsformen strotzen von Derbheiten und Unflätigkeiten. Selbst auf den Schlössern wurde der Kamin regelmäßig als Pissoir benutzt, und Erasmus ermahnt in seiner Schrift »Von der Höflichkeit im Umgang« den Leser, in feiner Gesellschaft Winde »durch Husten zu übertönen«.
Anmerkungen
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Diesen Textauszug habe ich dem im Internet frei verfügbaren Projekt Gutenberg-DE entnommen. Bei diesem Buch empfehle ich ganz dringend, es nicht nur virtuell, sondern gebunden zu erwerben. Wie ich gerade gesehen habe, ist der Titel beim Verlag vergriffen. Da er seit Jahrzehnten ein Klassiker ist, erhält man es auch leicht und günstig auf http://www.buchhai.de/.
Titel: Kulturgeschichte der Neuzeit
Autor: Egon Friedell
Verlag: C.H.Beck
ISBN: 978-3-406-56462-8
Verlagslink: http://www.chbeck.de/Friedell-Kulturgeschichte-Neuzeit/productview.aspx?product=21504
Das Titelbild dieses Beitrages ist ein Bildausschnitt aus Die Bauernhochzeit (niederländisch De Boerenbruiloft). Ein Gemälde des flämischen Malers Pieter Bruegel des Älteren.
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