Buchvorstellung von Hartwig H. Witter
»Der eigentlich repräsentative Balte war der Landwirt und Jäger«. Mit diesem Satz verdeutlicht der Herausgeber Edgar Baron Kruedener gleich zu Beginn das Selbstverständnis der Balten (hier immer in seiner eigentlichen Bedeutung für die „Deutschbalten“ verwendet). Damit ist der hohe Stellenwert der Jagd klar definiert und der Leser wird in 21 Geschichten mitgenommen auf das Anspringen von Auerhähnen, auf Elchdrücken im Schnee, auf die Wasserjagd oder die Hetzjagd mit Barsois, den eleganten russischen Windhunden.

Der Leser lernt den jagdlichen Jahreslauf des Jägers und Gutsbesitzers der Zeit zwischen 1890 bis 1939 kennen: Von Ende März bis Anfang Mai wurde auf den großen und den kleinen Hahn (also den Auerhahn und den Birkhahn) gejagt, außerdem auf das Haselhuhn, und man ging auf den Schnepfenstrich. Ab Juni begann dann die Jagd auf den Rehbock, gefolgt von der im Juli aufgehenden Jagd auf Enten- und anderes Wasserwild. Daran schloss sich nahtlos die Blattzeit an, die wiederum ab Mitte August von der Jagd auf Rebhuhn und Elch abgelöst wurde. Im beginnenden Herbst fanden Parforcejagden und dann, ab Ende Oktober bis in den Januar hinein, Treibjagden auf Niederwild statt. Parallel dazu wurde, wenn Neuschnee lag, noch auf Elch gejagt. Die Zeit nach den Treibjagden bis zu Beginn der Auerhahnjagd im März wurde dann noch mit verschärfter Raubwildjagd verbracht. Bei diesem Jahreslauf mit gegenseitigen Einladungen zu den unterschiedlichen Jagden war es nicht immer einfach, die Termine unter einen Hut zu bekommen. Und das in einer Zeit, in der man nicht eben mal samstags früh 200 km zu einer Drückjagd fahren konnte.
Der Herausgeber beschreibt dies wie folgt:
»Die Zentren der Jagdausübung waren die Güter. Auf ihnen wurde eine ausgedehnte Geselligkeit gepflegt; obwohl die Lebensverhältnisse verhältnismäßig einfach waren und übertriebener Luxus abgelehnt wurde, so wurde breiteste Gastfreundschaft geübt, welche die Nachbarn zu harmonischem Beisammensein vereinte; häufig war es die Jagd, welche die Weidmänner auf den Gütern zusammenführt.«
Und gerade das macht den Band aus: Man erhält einen Einblick von der Lebensweise mit gegenseitigen Besuchen und der ausgeprägten baltischen Gastfreundschaft.
Und auch wenn gelegentlich Nicht-Balten an den Jagden teilnahmen, so blieb man doch überwiegend unter sich. Das entsprach auch dem Selbstverständnis der Balten, die bis zur Revolution bzw. dem Ende des ersten Weltkrieges die Oberschicht bildeten und, mehr unbewusst, eine gewisse Arroganz nach außen zeigten.
Daneben gibt es Anekdoten wie die über den Elchbullen Tschuk, der als mutterloses Kalb von Dorpater Studenten, Angehörige der Verbindung Livonia, eingefangen und am Farbenband nach Hause geführt wurde. Er lebte fünfeinhalb Jahre auf dem Gut des Autors.
Aus heutiger Sicht sind auch die Berichte über Wölfe und Wolfsjagden lesenswert. Das dort gezeichnete Bild widerspricht dem lange Zeit vorherrschenden Dogma des „scheuen“ Wolfes. Vielmehr wird aus erster Hand von Einbrüchen in Ställe und von Angriffen von Wolfsrudel auf einzelne Schlitten und Fußgänger erzählt.
Nicht vergessen darf man, dass die Geschichten aus der Retrospektive in den 1960er Jahren geschrieben wurden, also rund 25 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs und rund 30 Jahre nach dem Hitler-Stalin-Pakt. Die Welt der Balten befand sich seit 1918 in jähem Niedergang und erlosch vollständig mit der erzwungenen Umsiedlung 1939. Nach den Jahren des Aufbaus im demokratischen Deutschland war es an der Zeit, die Erinnerungen an die alte Heimat aufzuschreiben und so an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben.
Die Geschichten sind damit auch ein (verklärter) Blick auf diese versunkene Welt, die wir heute nur noch aus eben solchen Erzählungen kennen.
Zu erwähnen ist noch, dass dem Band ein kurzer Abriss über Geschichte und politische Entwicklung des Baltikums, über die Jagdgeschichte des Landes und die allgemeinen jagdlichen Verhältnisse mit den vorkommenden Hauptwildarten vorangestellt ist. Auch soll nicht verschwiegen werden, dass bei der Vielzahl der Autoren die Qualität der Erzählungen variiert. Trotzdem: In der Gesamtsicht ein lesenswertes Buch. Umso mehr für diejenigen, die sich für Jagd und für das alte Baltikum unserer Vorfahren interessieren.
Wer Interesse hat, einen umfangreicheren Einblick in das Leben der Balten und von der Periode des Niedergangs zwischen 1918 und 1939 zu erhalten, dem empfehle ich das Buch „Erinnerungen aus der Vorzeit“ von Bernd von Staden, Sohn von Camilla von Stackelberg („Verwehte Blätter“).
*
KRAUTJUNKER-Rezensent Hartwig H. Witter

Hartwig H. Witter ist passionierter Jäger und Hundeführer. Bereits als Kind begleitete er seinen Vater in der ostwestfälischen Heimat auf die herbstlichen Treibjagden. Nach Stationen in Berlin und München lebt er mittlerweile in Hamburg, wo er mit zwei Magyar Vizsla auf die Pirsch geht.
*
KRAUTJUNKER-Kommentar:

Durch die Lektüre verschiedener Bücher aus dem alten Russland wie Iwan Turgenjews Aufzeichnungen eines Jägers (siehe: https://krautjunker.com/2019/03/23/iwan-turgenjews-aufzeichnungen-eines-jagers/) sowie mehrere belesene Gruppenmitglieder aus deutsch-baltischen Familien, entwickelte ich ein Faible für Nordosteuropa vor dem ersten Weltkrieg. Am 22. Januar postete ich in der KRAUTJUNKER-Facebookgruppe das Bild Troika von Constantin Stoiloff.
In den darauf reagierenden Kommentaren empfahl Hartwig Witter den Titel Jagd im Baltikum von Edgar Baron Kruedener. Bei der hier veröffentlichten Buchvorstellung handelt es sich um einen erweiterten und überarbeiteten Kommentar, nachdem er das Buch erneut gelesen hat.
Frank v. Maydell Kommentierte: „Mal in der Hand gehabt, aber nicht gleich am Stück gelesen. Klingt aber vertraut und sehr vernünftig. Mit Jagd und jagdlichen Erlebnissen aus der Feder von Balten, ob auf dem Gebiet der heutigen Staaten Estland und Lettland, oder in der weiten Welt (die Jagdgründe erstreckten sich reichlich 200 Jahre ja auf das Riesenreich des Selbstherrschers aller Reußen), kannst Du mühelos einige Regalmeter füllen, denke ich. Davon ab: Im ursprünglichen Wortsinne gibt es keine Balten mehr. Der Begriff ist heute anders gefüllt. Den Gehalt, den das Wort hatte bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, den kennen täglich weniger Menschenkinder: Angehörige der muttersprachlich deutschen Minderheit in den vier „Baltischen Provinzen“ des Zarenreichs. Und das hat ja seine Gründe. Ich sehe mich als Nachkomme, als bewußten Träger eines baltischen Namens, und als jemand, der die „Alte Heimat“ liebt und kennt.
Die Grafen Pahlen sind Kurländer, das namengebende Stammhaus der Familie liegt in Nordostestland, im Nationalpark Lahemaa, Palms, estnisch Palmse. Eines der bekanntesten Ensembles, gut möglich, einige Leser hier waren auch schon dort. Der Erbauer ein Ahnherr. Estländer und Kurländer sind nicht über einen Leisten zu schlagen. Zu den Kurländern (eine davon, Mary Gerold, war seine große Liebe, und zeitweilig seine Ehefrau), schreibt Kurt Tucholsky 1919:
„…. Balten. Der ganze Reiz einer unrettbar verlorenen Kultur dieses Grenzvolkes ist in dem Büchelchen eingefangen – es war, als ob sich an einem toten Ast noch einmal eine herrliche Blüte entfaltete. Wie die Siebenbürger Sachsen die besten Seiten des guten alten Deutschtums, das hierzulande längst untergegangen ist, fortentwickelt haben, so gab es in Kurland noch das deutsche Landleben aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Nur ist der Landbewohner niemals ein ›Onkel aus der Provinz‹, weil er mit den großen Städten, wie Riga und Dorpat, in reger Verbindung stand, und weil er sehr viel las und sehr viel wußte. Das Buch über den großen Chirurgen Ernst von Bergmann, auf das sich auch Vorst bezieht, erzählt mehr von diesem eigenartigen Leben auf dem baltischen Lande. Man war ein bißchen spießig, aber sehr solide und in allen Dingen des äußern Lebens von einer erstaunlichen Kultur, wie sie auf dem Lande fast nur noch in England zu finden ist; man war beharrend (ich möchte absichtlich das Wort ›konservativ‹ vermeiden), aber doch auch rege und voll Interesse für alles, was Kunst und die Wissenschaften hergaben – man war fromm, dabei frisch und stark und gleich weit entfernt von diesem entsetzlich altjüngferlichen Protestantismus mit den zusammengekniffenen Lippen wie von dem frechen Monismus der großen Städte, in denen der Koofmich ›uffjeklärt‹ war und alles besser, viel besser wußte . . . Mit einem Wort: es waren Menschen. Richtige lebendige Menschen.“
Anmerkung: Bei den Estländern fehlte das Spießige. Die waren ja noch weiter weg vom „Reich“.“
Zum Begriff Balten im ursprünglichen Sinne (etwas oder teils reichlich ungenau, aber vom Gehalt her paßt es) siehe bei Interesse an dergleichen: https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsch-Balten
Weitere interessante Beiträge zum Thema Balten sind:
https://www.visitestonia.com/de/uber-estland/auf-den-spuren-deutsch-baltischer-geschichte?fbclid=IwAR2ItLj3fYtlrkrRnxvTg7gnfPHAX2aifQmBdc5WJclFiYF0pGDTsUriDAg
https://www.herder-institut.de/blog/2019/05/27/ausstellung-herrenhaeuser-im-baltikum/
https://thv.de/buch/herrenh%C3%A4user-estlandm%C3%B5isad-eestis
Eine weitere Empfehlung des Frank v. Maydell ist das Buch Herrenhäuser in Estland / Mõisad Eestis: Eine kurze Übersicht zur Entwicklung ihrer Formen und zu ihrer Geschichte von Frau Prof. Bock und ihrem Mann, dem Verleger und Photographen Thomas Helms.
Ein Buch aus dem Dunklen Zeitalter ist Überleben war alles. Aufzeichnungen eines baltischen Umsiedlers von 1939 bis 1946 des Hans Eberhard von Cube. Den Verfasser hat er noch erlebt, er war der Schwager seines Großonkels.
Zurück zu Edgar Baron Kruedener und dem Jagdbuch, welches seine untergegangene Welt schildert. Schriftstellerisch handelt es sich nicht um feinste Literatur und doch sind die Texte sehr lesenswert, weil es Augenzeugenberichte aus einer uns mittlerweile sehr fremden und fernen Epoche sind, die zeitlich und geografisch nicht weit entfernt liegt.
Zwar wohne ich auch in der Provinz, aber das dichtbesiedelte Ostwestfalen im Sozialstaat Bundesrepublik des Jahres 2021 erscheint unfassbar weit entfernt vom Baltikum vor dem Ersten Weltkrieg, in der Rittergüter 54 Prozent des Landes gehörten und ein durchschnittliches Rittergut etwa 2.500 ha. (einschließlich Wald und Moor) groß war.
»Das größte Gut der baltischen Provinzen, Dondangen in Kurland, umfasste eine Fläche von ca. 60.000 ha., das größte Privatgut Livlands, Lubahn, hatte ungefähr 28.000 ha. und in Estland stand an der Spitze das Gut Paggar mit ca. 20.000 ha. Die großen Güter lagen fast alle in den Gebieten der ausgedehnten Waldungen und Moore und hatten im Allgemeinen keine übergroßen Landwirtschaftsflächen. Zudem waren die sehr großen Güter nur in geringer Zahl vertreten.«
von Baronin Hella von Kruedener, geb. v. Mensenkampff
Dem Master der Meute
Wenn im Herbst sich färbt und rötet das Laub,
wenn es leuchtet in sattgelber Pracht,
wenn die Ferne so scharf, die Luft so klar,
dann locket, dann ruft mich die Jagd.
Dann schnell auf das Pferd und im scharfen Trab
hinaus in den lachenden Morgen.
Kein Grübeln mehr den Kopf beschwert,
vergessen des Alltags Sorgen.
Dort oben am Berg schon harrt der Piqueur,
umkreist von der bunten Meute;
wie lieb ich das Bild, so farbenfroh,
wie pocht mir das Herz vor Freude!
Ich reite hinzu, von den Hunden begrüßt,
ich ruf‘ sie all nach der Reihe,
der Spitzführer springt mir am Sattel hoch,
mir Freundschaft versichernd aufs Neue.
Es klingt das Horn, die Suche beginnt,
voll Eifer die Hunde spüren,
keine Witterung trägt der leise Wind,
es gilt die Geduld nicht verlieren.
Da plötzlich heult der Spitzführer auf
noch einmal – und wieder und wieder,
der Chor fällt ein im Diskant und im Bass
und ein Läuten wogt auf und nieder.
Die Spur, sie ist frisch, die Verfolgung beginnt,
nun, Lampe, renn‘ um dein Leben,
d armer Kerl, keiner denkt deiner Pein
kein Pardon wird dir mehr gegeben.
Fort geht die Jagd im wilden Braus
über Äcker, Zäune und Gräben,
wir stürmen, wir fliegen dahin im Saus,
wie herrlich, wie schön ist das Leben!
Was gestern war und was morgen wird sein,
versinkt vor dem bildfrohen Heute,
ich atme Freiheit, ich atme Lust,
keinen Gott um sein Reich ich beneide!
Da – plötzlich – „Halt!“, das Geläute hört auf,
unser Lampe schlug einen Bogen …
Umsonst – schon ist er wieder gespürt,
sein Hoffen hat ihn betrogen.
Vorwärts! Die Jagd fegt in voller Fahrt
über die Stoppen hinüber zur Heide,
dann auf dem Sturz, die Meute rückt auf,
die Verfolger sind schon an der Beute.
Ein scharfer Biss, ein Schütteln im G’nick,
es wirft der Piqueur sich dazwischen,
entreißt den Hasen dem ballenden Knäuel,
noch eh‘ er in Stücke gerissen.
Zu Ende die Jagd, – der Piqueur koppelt auf,
das Horn ruft die säumigen Hunde.
Nun langsam nach Hause, – oh gütig Geschick,
hab‘ Dank für die herrliche Stunde!
***

Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es nicht nur eine Facebook-Gruppe, sondern jetzt auch Outdoor-Becher aus Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: Jagd im Baltikum
Herausgeber: Edgar Baron Kruedener
Verlag: Neumann-Neudamm Melsungen
Verlagslink: https://www.jana-jagd.de/11411/kruedener-jagd-im-baltikum
ISBN: 978-3788819644