von Iris Disse
Ich jage Töne.
Im Radiosender La Luna in Quito, Ecuador, wo ich 1997 arbeitete, besuchte mich eine Gruppe Shuar-Indianer. Sie luden mich ein auf ein Fest in Macuma, einem Dorf im Regenwald. Es ist eine Flugstunde vom nächsten mit dem Auto erreichbaren Ort entfernt. „Es ist La fiesta de la Chonta, das Fest der Chontapalme. Es gibt Wein und Essen, Tanz und Gesang“, erklärte Rodrigo. „Wein? Im Urwald?“ fragte ich. „Si. Wein. Machen wir selbst.“ Alle sind westlich gekleidet. Nur das lange Haar der Männer zeigt, dass man der Tradition verbunden ist. Ich soll später über das Fest ein Radio-Feature machen.
Ein traditionelles Indianerfest aufzunehmen ist für eine Tonjägerin eine seltene Chance. Ich kann mir die Geräusche nicht vorstellen, aber ich nehme die Einladung an. „Willst Du wirklich fahren? Die Shuar haben eine ganz besondere Art, ihre Gastfreundschaft zu zeigen…“ Die Kollegen feixen, sie fahren mit der flachen Hand zackig am Hals vorbei. Die Shuar sind berühmte Kopfjäger. Die Kollegen, allesamt Städter, wissen, dass mich der Urwald lockt. Das ist immer gut für ein paar Scherze, nachvollziehen können sie das nicht. Sie als Mestizen möchten mit den Indigenas nichts gemein haben.
Ich packe meine Aufnahmegeräte und mache mich auf den Weg. Nach zwölfstündiger Busfahrt die Anden herab auf windigen Straßen komme ich in Pastaza an. Auf den Flügeln der Hilfe, dem kleinen Flugzeug der Missionare, soll ich nach Macuma gebracht werden. Ich friere und kaufe mir eine Wolldecke – der Dschungel ist hier bergig, kühl und nebelig.
Wir müssen einen Tag warten, bis das Wetter den Flug zulässt. „Können sie mich in drei Tagen abholen?“ frage ich den Piloten. „Quien sabe, wer weiß. Das Wetter ändert sich ständig, manchmal dauert es auch ein, zwei Wochen, bis man fliegen kann.“ Ich schaue ihn an und warte auf das Lachen, das mir bestätigt, dass er einen Witz gemacht hat. Es kommt aber nicht.
Es regnet, als wir in Macuma eintreffen. Wir waten durch den Schlamm und werden in einem mit Palmblättern bedeckten Häuschen untergebracht. Sofort montiere ich das Mikrofon und nehme frierend den Regen auf, der auf das Pacha-Dach pläddert, dann einzelne Tropfen, die über der Türschwelle herunterkommen, um sie später im Studio zu Pläddern zu mischen.
Shauk, die Frau Rodrigos, spricht mit mir in gebrochenem Spanisch. Das Fest wird in ihrem Haus stattfinden. Es macht ihr Freude, interviewt zu werden. „Leider habe ich nur sieben Kinder, die anderen Frauen haben zwölf oder mehr“, vertraut sie mir an.
Die Feuerstelle ist unter einem weiten Palmdach am hinteren Ende des Haues. Das ist die Frauen- und Kinderecke. „In der alten Zeit war es besser, da hat man vor den Shuar Angst und Respekt gehabt. Nur eines gefällt mir heute. Die Männer dürfen ihre Frauen nicht mehr töten, und überhaupt nur eine Frau haben. Und die Mädchen können mitentscheiden, wen sie heiraten.“
„Wie war das bei dir?“, frage ich. „Huuu, das war hässlich. Ich war zwölf, kam aus der Schule nach Hause. Da rief meine kleine Schwester: ‚Njanja, Papa hat dich verkauft. An Rodrigo‘. So war das damals, hässlich. Ich hatte Angst. Mein Vater hatte vier Frauen und 51 Kinder.“
Die Männer haben den größeren Teil des Hauses für sich. „Arbeiten tun wir Frauen mehr, die Männer planen Krieg. Naja, wen sie töten können“, sagt Shauk, während sie vier Baumstämme in der Mitte zusammenschiebt, die wien ein Kreuz auf dem Boden liegen. Wo sie sich treffen, brennt das Feuer, ein großer Topf Wasser brodelt darauf. Ich halte das Mikrofon ans Feuer, an den brodelnden Topf. „Aber heute geht das ja nicht mehr so ohne weiteres, das Töten – man kommt ins Gefängnis. Die Missionare. Die haben auch verboten, dass wir Shuar unsere Sprache sprechen. Erst seit kurzem ist es wieder legal“, führt Shauk weiter aus. „Es gibt keine Feindschaft mehr unter den Menschen“, sagt sie traurig. „Freundschaft?“, frage ich, da ich denke, ich habe sie falsch verstanden. „Freundschaft“, schnaubt Shauk verächtlich, „Feindschaft, sage ich. Wie kann denn Nanki, mein ältester Sohn, zum Mann werden? Wenn er nicht den Schrumpfkopf eines Feindes machen kann? Arrangiert euch und lebt in Frieden, sagen die Missionare.“
„Schrumpfköpfe von Affen kann ich schon machen“, sagt der 18-jährige Nanki ganz sachlich und singt ein Lied, das den Feind besiegen soll:
Hier sitze ich
Den Pfeil des Affen verstecke ich unter seinem Fingernagel
Ich, ich, ich
Bin der Mächtige.
Fremde, unheilbringende Pfeile umgeben mich.
Shauk spricht leidenschaftlich. Eine Grille hebt an zu tönen, laut und schrill wie eine Motorsäge. Mich überkommt ein unwohles Gefühl. „Gab es auch Schrumpfköpfe von Frauen?“ „Wenige, nur wenige“, sagt sie. Auch hier warte ich vergeblich auf das befreiende Lachen.
„Ein Mann konnte auch einen Nachbarn töten. Sogar einen Onkel – aber einen, der mehr Kraft hat. Wenn die Seele im Schrumpfkopf gefangen ist, geht die Macht des Toten auf den Krieger über.“ Ich bin verunsichert. Mein Bild des edlen Wilden zerspringt. Die feindliche Welt der Shuar finde ich bedrohlich, so allein auf mich gestellt. Der Dschungel liegt wie eine Mauer um das kleine Dorf. Ein Gefängnis. Die große Spinne, die in der ersten Nacht vom Dach fällt, ist eine Tarantula und giftig und macht keine Töne. „Na ja, wenigstens sagen sie offen, dass sie gern töten und sind nicht so scheinheilig wie die Menschen der christlichen Welt, die ständig ihre Waffenarsenale vergrößern“, denke ich verschwommen. Ich schlafe nicht gut.
Am nächsten Morgen werde ich von schrillem Geschrei und Gejohle geweckt. Ich schrecke hoch, haste an die Tür. Ein scheckiges blutbespritztes Hündchen trottet vorbei. Ein Schwein wird am übriggebliebenen Baum auf dem Kahlschlag erhängt. Junge Männer und Kinder hängen an der Seite des Seils, das über einen Ast geworfen wurde. An der anderen Seite hängt ein Schwein und röchelt nur noch. Ich brauche nicht lange – die letzten Schreie, das Gejohle, das Röcheln wird auf meinem Band verewigt. Auf einem Brett in der Nähe liegen mehrere geköpfte Hühner. Frauen jagen, lachend und rufend, zwischen den Bäumen noch ein Hühnchen.
Ich stehe mit geschlossenen Augen, höre über Kopfhörer die Schritte im Wald, die Rufe, den Triumph, als es gefasst ist. Sie kommen nahe zum Mikrofon, als sie dem Huhn den Kopf umdrehen. Das Knacken. Das letzte Flügelschlagen, die Nerven, die noch zucken, obwohl der Tod schon eingetreten ist. Erst danach werden dem Hühnchen der Kopf ab- und dem Schwein der Bauch aufgeschnitten. Dann wird die Haut mit Feuer abgesengt, das Schwein zerlegt, das Fleisch geklopft; an anderer Stelle von anderen Händen das Hühnchen gerupft.
Die Jäger kommen zurück. Noch mehr Fleisch: ein Guanta wurde gejagt. Auf den Dachbalken hocken zwei bunte große Papageien und krakeelen lauthals Kommentare. Auch sie nehme ich auf, bis sie davongescheucht werden und schimpfend im Grün des Dschungels verschwinden.
Ich habe gar nicht bemerkt, dass schon so viele Menschen eingetroffen sind. Alle sind beschäftigt. Die Männer schmücken sich. Rodrigo sieht großartig aus, mit seiner Federkrone, den Samen, Zahn und Federbändern und dem langen dunkelblauen handgewebten Tuch. In den Händen trägt er abwechselnd mal einen Speer, mal ein Gewehr. Shauk kämmt ihn, bemalt ihn rot mit Achiote, den Kernen einer kleinen stacheligen Frucht. Ich schleiche mich an, nehme auf, wie man und Frau in Shuar miteinander reden – eine Sprache wie Musik.
Rodrigo winkt mich heran. Er erzählt, dass er eine Stiftung aufgebaut habe, um die Tradition zu schützen und deshalb von den Missionaren angefeindet werde. Da die Shuar keine Freundschaften kennen, nur ehrenwerte Feindschaft, werde er in dieser Arbeit allein von seiner Familie unterstützt. Schlimmer sei der Kampf gegen die Erdölfirmen, die den Wald und die Kultur zerstören würden. Einige Shuar arbeiten mit ihnen zusammen, wollen die Tradition vergessen; andere sehen die Gefahr, dann einfach ausgelöscht zu werden. „Schon jetzt gibt es im Ethnologischen Museum in Quito kulturelle Artefakte der Shuar, die wir nicht mehr herstellen können. Erst verbieten uns die Missionare unsere Religion, Sprache und Kultur, rauben unsere traditionelle Kleidung, den Schmuck, die Schrumpfköpfe, um sie dann in ihren Museen auszustellen. Und dann können die Ölkonzerne ungehindert eindringen – wir sind jetzt ja Christen, wir töten nicht mehr“, schnaubt er verächtlich.
„Komm helfen“, saugt Shauk. Jetzt erst achte ich auf eine Gruppe Frauen und Kinder, die schon wie am Vortag mit dicken Backen um einen großen Topf sitzen und ununterbrochen essen. Um sie herum liegen rote Chontafrüchte. Ich stelle mein Mikrofon auf, schließe die Augen, höre das kauen, dann ein trockenes „plupp“ hier und dort. Schaue. Die Frauen essen nicht. Sie kauen und spucken das Gekaute in den Topf. „Jetzt du“, sagt Shauk. „Kauen. Spucken.“
„Und dann?“ frage ich. „Das gibt Chicha. Das ist wie Wein bei euch, sagen die Missionare.“ Die Frauen quietschen vor Lachen über mein ungläubiges Gesicht. „Wenn er ein paar Tage steht, und man ihn dann beim Tanzen trinkt, wird man ganz trunken, und Uwi. Er dringt dann mit dem Chicha in uns ein.“
Schon bald tut mir der Kiefer weh. Die Frauen singen – nicht nur die fermentierende Spucke, sondern auch der so beschworene Gott macht das Getränk gut.
Ich bin die Nunkui Frau
Nunkui Frau bin ich
Hier, die Herrin des Gedeihens
Hier bist auch du
Shaikaim Mann
mit großem Durst
mit großem Durst
Ich stehe hier und rufe die Früchte der Chonta Palme
Dann werde ich vom Kauen erlöst. Ich kann mit in den Wald kommen, wo junge Mädchen Pflanzen sammeln wollen für das Festessen. Die Mädchen sind barfuß. Ich jage die Töne von nackten Füßen im Schlamm; höre über Kopfhörer das Rascheln der Tiere, die davonlaufen; höre die Papaya, die vom Baum fällt; das Graben der Hände im lehmigen Boden, um Erdnüsse zu sammeln; höre das laute Atmen, als man die Jucca aus der Erde zieht; das auf- und abschwellende Konzert der Grillen; das Weinen eines Kindes, das auf einen stechenden Tausendfüßler getreten ist; das Rascheln der Hände in dem Busch, dessen Blätter essbar sind; das Auffliegen einiger Vögel, höre andere Vögel in der Ferne rufen; höre das laute, beängstigende Belfern des kleinen Brüllaffen; das Lachen der Kinder, die Eier in einem Nest finden, die gut schmecken.
Später nehme ich die Motorsäge auf und den Fall der Palme, die ihr Herz zum fest spenden wird- nur ein kleiner weißer Kegel dort, wo die Palmblätter in den Stamm übergehen. Die Männer fertigen sich aus den weißen äußeren Ringen einen Kopfschmuck. „So eine große Palme muss fallen, um so wenig Palmherz zu bekommen?“ frage ich, aber heute ist fiesta, und im Dschungel gibt es genug Palmen, sagen die Männer.
Als wir zurückkehren, beginnt der Gesang, der Tanz, alle sitzen im großen Kreis, die Kürbisschalen mit Chicha werden herumgereicht. Frauen schöpfen den milchigen Chicha aus Eimern, bleiben vor mir stehen, bis die Schale leergetrunken ist. Die anderen schauen mir beim Trinken zu. Nur ein paar Pflanzenfasern dürfen übrige bleiben. „Die Missionare trinken nicht mit uns, Alkohol trinken sei Sünde.“ Ich trinke viel vom Geiste Uwis.
Die ganze Nacht muss getanzt werden, getrunken und gesungen – ohne Unterlass. Sonst zürnt Uwi, dann wird die Jagd schlecht, die Ernte verfault. Die Menschen tanzen im Kreis und singen, die Samenschalen an den Tanzgürteln und Fußketten machen die Musik. Die Frauen singen mit ganz piepsig hoher Stimme, die Männer eher tief. Ernst nehme ich begeistert die Tänzer auf, nähere mich den Sängern und Sängerinnen. Eine alte Frau singt für mich allein in einer kurzen Pause. Irgendwann werde ich müde. Sehr müde. Ich tanze immer wieder mit, um nicht umzufallen. Denn schuld sein an Missernten und schlechter Jagd will ich nicht, also halte ich durch und schimpfe auf mich. Ich habe Hunger. Die Nacht scheint endlos.
Dann kräht der erste Hahn. Ich könnte im Stehen schlafen, fühle mich benommen von all dem Chicha. Jetzt werden Bananenblätter auf den Boden gelegt. Und dann die Tafel gedeckt: Fleischstückchen, Yucca, Bananen, Geflügelbeinchen, viele Soßen, Reis, Palmherz, unbekannte Salate. Die Farben sind eine Pracht. Die Vögel werden wach, singen. Der Himmel rötet sich. Einige setzen sich um die Blätter, andere holen sich ihre Portion und sitzen plaudernd in kleinen Gruppen zusammen. Immer noch wird Chicha herumgereicht, der Wein Uwis, des Shuargottes. Schlaftrunken tapse ich unter dem weiten Dach herum, mein Mikrofon in der Hand, entferne mich, gehe ein Stück in den Dschungel und lass die Töne des Festschmauses in die morgendliche Dschungelmusik übergehen.
Das Flugzeug? Kam erst Tage später. So erfuhr ich noch viele Geschichten von den Shuar. Sie bestätigten, dass ihre Kriegersoldaten im Dschungelgrenzkrieg zwischen Peru und Ecuador gut gekämpft und viele Feinde getötet hatten.
Sie trugen die Köpfe im Rucksack davon, um sie später einzuschrumpfen. Als das bekannt wurde, sollten sie die Köpfe wieder abgeben, aber das wollten sie nicht: Der Geist eines getöteten Feindes wird einen Krieger lebenslänglich jagen, wenn er nicht im Schrumpfkopf gefangen wird. Die internationalen Proteste konnten die Shuar nicht verstehen.
Und Rodrigo Wampankit? Eines Tages besuchte mich Shauk in Quito, um mir Ketten und Taschen aus Samen zu verkaufen. Beim Abendessen biete ich ihr ein Glas Wein an. Der schmeckt ihr nicht, aber lachend macht sie mich nach: Wie ich geschaut habe, als ich spucken sollte, damals in Macuma. Dann erzählt sie, dass Rodrigo und andere Shuarführer, ebenfalls Gegner der Ölausbeutung in ihrem Territorium, zusammen in einem Flugzeug abgestürzt seien. Dabei prüft sie die Schneide des großen Fleischmessers mit dem Daumen.
*
Verlagsvorstellung der Autorin
Iris Disse verbrachte zehn Jahre in Ecuador. Sie ist Schauspielerin, Dokumentarfilme-, Theater- und Radiomacherin und lebt in Biel (Schweiz). Ein Beispiel ihrer Tonjagden ist auf der CD Ayahuasca – Noche de Ritual (Schneeball/Indigo) zu hören.
***

Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es nicht nur eine Facebook-Gruppe, sondern jetzt auch Outdoor-Becher aus Emaille und Porzellan. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: Häuptling Eigener Herd, Heft 27
Herausgeber: Wiglaf Droste und Vincent Klink
Verlag: © 2006 Edition Vincent Klink
Website: https://vincent-klink.de/
*
Die Veröffentlichung erfolgte mit freundlicher Genehmigung von Vincent Klink, Küchengott im Restaurant Wielandshöhe in Stuttgart. Ich empfehle den Besuch seines Gourmet-Tempels.

ISBN: 978-3-927350-25-0
Foto: Photo by Junior REIS on Unsplash