von Holger Obenaus
Es gibt die Jagd. Und es gibt die Jagd.
Das Erstere ist die intensive Auseinandersetzung der eigenen Person mit den Begebenheiten des Terrains, den täglich wechselnden Umständen der Elemente und den Befindlichkeiten des Wildes. Es ist das jahrelange Studium der Details, welches die Sinne schärft und den Blick vom Augenscheinlichen zum Erahnen des Verborgenen öffnet. Es ist ein Puzzle mit tausend kleinen Teilen. Der Novize unterscheidet Erfolg und Misserfolg, der erfahrene Jäger weiß, dass es keine schlechte Jagd gibt. Der Anfänger sieht die Größe der Trophäe, der Könner erfreut sich am scheinbar Nebensächlichen. Jede Minute im Revier, sei sie auch noch so vordergründig erfolglos, lehrt uns etwas Neues und fügt ein weiteres, wenn auch noch so kleines Detail, in das große Gesamtbild.

Doch wie gesagt, neben der Jagd gibt es auch noch die Jagd.
Sie beinhaltet all das vorher erwähnte, wirft es über den Haufen und setzt jegliche Logik außer Kraft. Es ist die intensive Auseinandersetzung der eigenen Person mit dem scheinbaren Widerspruch von Theorie und Praxis, dem Trugschluss, dass Können, Wissen und Erfahrung unweigerlich zum Erfolg führen und dem noch viel größeren Trugschluss, dass man Erfolg mit Geld und Hightech kaufen kann. Schlußendlich findet man sich nicht mehr im Kampf mit der Natur, sondern mit den Unzulänglichkeiten und Befindlichkeiten der eigenen Person.
Zu dem Letzteren gehört die Jagd auf den wilden Truthahn, die Königsklasse der Jagd hier in South Carolina, dem tiefen Süden der USA.

Der wilde Truthahn ist ein verläßlicher Gesell. Ich sehe ihn in meinem Revier das gesamte Jahr über in Gruppen von zehn bis zwanzig Vögeln, welche hier mit einem Augenzwinkern Gangs genannt werden. Täglich. Auch an Tagen, wenn mir der Anblick auf anderes Wild versagt bleibt. Auf den Truthahn ist Verlass.

Dies gilt für genau elf Monate des Jahres. Am ersten Tag des zwölften Monats jedoch, dem Beginn der Truthahn-Jagdsaison, lösen sich die Biester für vier Wochen in Luft auf. Sie sind weg, vom Erdboden verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Pünktlich, exakt einen Tag nach dem Ablauf der Saison erscheinen sie wieder gutgelaunt im Wald. Jeder, der schon einmal Truthahn gejagt hat kann dies bestätigen.

Die männlichen Truthähne werden Toms genannt. Es sind große Vögel, die den ganzen Tag stolzieren, laufen und rennen. Sie schleichen wie eine Horde von Indianern, lautlos, unglaublich vorsichtig und immer ein wenig stolz. Sie erinnern an prähistorische Hühner, überdimensional groß und unglaublich schön. Ihr irisierendes Federkleid erinnert an SciFi-Wesen, metallisch grün-blau und immer ein wenig speckig. Man erkennt das Alter der Hähne an der Länge ihrer Bärte und an der Größe ihrer Sporen. Beides sind begehrte Trophäen.

Der wilde Truthahn fliegt sehr selten, eigentlich nur wenn er seinen Schlafplatz hoch oben in den Eichen am Morgen verlässt oder diesen am Abend wieder aufsucht. Und in Momenten der größten Gefahr.

Der passionierte Truthahn-Jäger ist auch ein verlässliches Exemplar seiner Gattung. Er erliegt gerne der Versuchung, jährlich ein mittelgroßes Vermögen für seine Passion auszugeben.
Alles erinnert an das Fliegenfischen, die Anzahl der Lockruf produzierenden Kästchen, Döschen und Mundmembranen, die unerläßliche Weste, welche gefühlt hunderte von kleinen Taschen hat und die ausgeklügelte Tarnkleidung und Maskierung.

Man will ja für jede mögliche und unmögliche Situation gerüstet sein.


Immerhin verbringt man endlose Stunden in unwirtlichem Terrain, meilenweit von den Annehmlichkeiten des eigenen Trucks entfernt. Dazu kommt, dass das am besten ausgeprägte Sinnesorgan des wilden Truthahn seine Augen sind. Der Vogel nimmt selbst die kleinste, verdächtig wirkende Bewegen einer Pupille wahr. Im Idealfall sieht man vollaufgerüstet wie ein Gesträuch aus und läßt sein Augenlider immer etwas geschlossen. Je meisterhafter diese Tarnung, desto geringer ist die Chance entdeckt und als potentielle Gefahr geoutet zu werden. Zumindest in der Theorie.
Die Jagd auf den wilden Truthahn ist konzeptionell relativ einfach und konsequent. Gejagt werden ausschließlich die männlichen Vögel, bevorzugt die älteren Semester. Die Jagdsaison ist zur Zeit der Balz, bei uns von Ende April bis Ende Mai. Die Truthähne ziehen nicht mehr im Schutze ihrer Gang durch die Wälder, sondern alleine, auf der Suche nach einer Truthenne. Wie so oft im Leben geht es um Fortpflanzung. Die Geilheit des männlichen Tieres ist schlußendlich sein Untergang. Die Pute vokalisiert ihre Paarungsbereitschaft durch Clucks, Yelps und Purrs und signalisiert damit dem Hahn ihren Aufenthaltsort.
Der Tom wiederum belohnt die Bemühung der Henne durch ein höchst erregtes unkontrolliertes Gobbeln, welches in etwa so klingt, wie das Wort Gobbeln eben klingt. Nur viel erregter, lauter und länger.

Truthenne und Hahn machen sich nun auf den Weg zu einem Tete-a-tete, wobei – zumindest bei den Vögeln, die Truthenne sich mehr bemüht, als der Hahn. Der Truthahnjäger macht sich dieses Prozedere zu Nutzen, imitiert die Lockrufe des Weibchens und wartet an Ort und Stelle, bis der höchst erregte Hahn vorstellig wird, sein wunderschönes Federkleid stolz präsentiert, um mit einem sicheren Schuss erlegt zu werden. Ziemlich einfach und geradeaus. Zumindest in der Theorie.

Es ist Ende April und ich habe wie ein Kind zu Weihnachten sehnsüchtig die Tage gezählt, bis die heiß ersehnte Truthahn-Jagdsaison endlich wieder beginnt. Strenggenommen fängt die Truthahn-Saison natürlich irgendwie schon im Januar an. Die Lockrufe und das Truthahn-Jargon wollen fleißig geübt werden. Ich bin damit nicht alleine. In den zwei, drei Monaten vor der Saison findet man überall Menschen, die Hühnerlaute von sich geben. Im Auto, an der Tankstelle, im Restaurant, einfach überall. So hörte ich letztens im örtlichen Walmart beim Einkaufen in der Bier und Wein Sektion ganz deutlich mehrere Yelps. In Sekundenschnelle wurden diese von lautem Gobbeln aus dem Autozubehör, dem Handwerksbedarf und der Damenkonfektion beantwortet. Meine werte Gattin hat mir vor Jahren klipp und klar mit Liebesentzug gedroht, sollte ich jemals meinen Mouth-Call, eine kleine Membran, mit der man im Mundraum die Lockrufe erzeugt, mit ins Bett bringen.

Die Sprache der Truthähne ist komplex und es kommt am Ende auf feinste Nuancen an. Der Anfänger macht jede Menge Geräusche, mitunter Warnrufe, die natürlich das komplette Gegenteil des Lockens zur Folge haben. Die Box-Calls (Lockkästchen), Friction Calls (kleine runde Dosen mit Schiefer oder Glasreibefläche) und die Mouth-Calls gibt es in unterschiedlichsten Preisklassen. Kenner und Könner schwören auf hand-gemacht und bevorzugen Erbstücke, die durch Generationen weitergereicht werden. Als eingewanderter Deutscher hat man leider diese Privilegien nicht. Da heißt es frei nach Guderian, „Klotzen, nicht Kleckern“. Die Materialschlacht beginnt. Ende April bin ich gut aufgestellt. Zumindest in der Theorie.
Es ist der dritte Tag der Saison, und ich sitze etwa zwei Stunden vor Sonnenaufgang in meinem Truck auf dem Weg in den Wald. Das Wetter verspricht schön zu werden, die Temperaturen sind, zumindest am frühen Morgen, noch erträglich und meine Spannung ist ins Unermessliche gestiegen. Ich habe mir frei genommen, da den Truthähnen meine Termine im allgemeinen scheißegal sind.
Regel Nummer Eins: Bei der Truthahn-Jagd spielt man grundsätzlich nach den Regeln der Vögel.
Ich hatte mir im Vorfeld natürlich einen Plan zurechtgelegt, wo potentiell Hähne ihren Schlafplatz haben könnten, habe ein paar Tage vorher Spuren begutachtet, die auf die Größe und das Alter anwesender Vögel schließen lassen und mich dann mental auf einen etwa zwanzigminütigen Anmarsch bei völliger Dunkelheit eingestellt.
Idealerweise hat man seine Ausgangsposition erreicht, bevor die Vögel ihren Schlafplatz verlassen. Hat man das Glück einen Tom beim Herunterfliegen in Schussweite zu sehen, kann man ihn natürlich im Flug erlegen, was sicherlich nicht sehr heldenhaft ist, aber qualvolle Stunden erspart. Doch davon mehr in der folgenden Geschichte.
Ich hatte mir die gesamte Tarnausrüstung angelegt, die Weste mit hunderten von Kleinteilen übergestreift, die Flinte geschultert und zusätzlich den Sack mit fünf lebensechten Attrappen von Puten, Jakes (jungen Hähnen) und einem wunderschönen Tom über die andere Schulter gehängt. In der einen Hand eine Taschenlampe, um im Zweifelsfalle die Richtung verifizieren zu können, in der anderen Hand einen kleinen Klappstuhl, natürlich für die Truthahn Jagd konzipiert und deswegen auch ein wenig teurer.
Nach etwa 250 Meter meines Weges kommen mir begründete Zweifel, ob sich der Aufwand wirklich lohnt, und warum es bei der Truthahn Jagd eigentlich keine verdammten Caddys wie beim Golfen gibt. Zwanzig Minuten später habe ich endlich meine Position erreicht, der Morgen graut, ich bin schweißgebadet und sichtlich erschöpft.
Truthähne gobbeln nicht nur freudig bei den Verlockungen des Weibes, sondern auch wenn sie sich im Dunkeln auf ihrem Schlafplatz erschrecken. Man nennt dieses Geräusch einen Schock-Gobbel und macht sich diese Tatsache zunutze, um dem Vogel seinen Aufenthaltsort zu entlocken.
Drei kurze „Caw-caw-caw“, der Ruf der Krähe, penetrant in die Ruhe der Nacht gestoßen, erfüllen ihren Zweck. Sollte ein Hahn in direkter Nähe sein, kann einem ein Schock-Gobbel schon einmal das Blut in den Adern gefrieren lassen. Nicht umsonst wird der Schreckenslaut eines alten Hahns oftmals als Thunder, also Donner beschrieben. Laut, bedrohlich und irgendwie ein Relikt aus einem Horrorfilm.
Heute jedoch habe ich das Vergnügen die Antwort von gleich vier verschiedenen Vögeln in vier verschiedenen Richtungen und Entfernungen zu hören. Da lacht das Herz und ich male mir schon aus, in etwa zwei Stunden ein schönes Frühstück zuhause genießen zu können.
Wer zum Teufel behauptet eigentlich, dass Truthahn-Jagd schwierig ist?!
Regel Nummer Zwei: Nichts ist wie es scheint!
Ich beschließe mich unter einer Eiche am Rande einer kleinen Lichtung hinter einem kleinen Busch zu positionieren. Vorher habe ich noch schnell eine Putenattrappe auf die Lichtung gestellt, Schussweite etwa 25 Meter. Perfekt. Läuft.

Unter normalen Umständen würde ich mich nun auf die Wurzeln oder den Waldboden unter der Eiche niederlassen. Mein Rücken, mit konstantem Schmerz gesegnet, läßt mir leider keine Wahl und ich stelle meinen ultra niedrigen Truthahn-Jagd-Klappstuhl auf. Komme mir ein wenig doof vor, sieht aber keiner, also alles im grünen Bereich. Der Wald ist noch ruhig, die ersten Baumspitzen materialisieren sich und ich lausche.
Den größten Fehler, den man an dieser Stelle machen kann, ist es Lockrufe zu produzieren. Die Vögel sind noch auf ihrem Schlafplatz und jeglicher Aktionismus wäre extrem kontraproduktiv. Schlafende Hennen locken nicht und alte Gobbler sind alles andere als blöd!
Nach etwa 25 Minuten glaube ich Federschlag zu hören. Er scheint weiter entfernt als ich dachte, meine Körpertemperatur hat sich wieder ausgeglichen, die Morgenluft riecht gut und der Wald erwacht zum Leben. The Eagle has landed! Die Truthähne sind am Boden.
Ich lehne mich zurück, weiß ich doch, dass gerade bei der Truthahn Jagd Geduld belohnt wird. Weitere 10 Minuten später zücke ich meinen Slate-Call, eine kleine runde Schieferscheibe mit einem hölzernen Resonanzkörper, natürlich handgemacht. Ich habe dazu eine Auswahl von etwa zehn verschiedenen Strikern, kleine Holzstäbe mit einem schweren Ende, welche man im richtigen Winkel über die Resonanzfläche bewegt um verschiedenen Laute zu produzieren. Ein oder zwei Clucks sollten reichen.
Regel Nummer Drei: Weniger ist meistens mehr!
Ich warte geduldig. Radio Silence. Der alte Gobbler gibt keinen Laut von sich. Man kommt in Versuchung das Spiel zu wiederholen, aber auch das ist in den meisten Fällen eher kontraproduktiv. Der Hahn hört den Cluck, weiß, dass die Pute in der Nähe ist und macht sich auf den Weg. Männer reden eben nicht viel, sie agieren. Zumindest ist das so in der Theorie und in meiner Welt.
Regel Nummer Vier: Wenn man NICHTS hört, heißt das noch lange nicht, dass kein Vogel in der Nähe ist…
Mittlerweile regt sich mein Darm und signalisiert, dass der morgendliche Kaffee seine Aufgabe erfüllt hat. Ich stelle auf flache Atmung um, um die Dinge, die da kommen zu verlangsamen.
Da der Hahn schon in der Nähe sein könnte ist jegliche noch so kleine Bewegung absolut tabu. Höchste Konzentration ist angesagt!
Mein linker Arm ist eingeschlafen, da ich die Flinte etwas unglücklich gelagert habe. Die Situation erfordert umgehende Korrektur, jedoch in mikroskopischen Minimalbewegungen. Geschafft. Mein Darm hat sich beruhigt und ich lausche. Ich höre einen Hauch von Blätterrascheln, links hinter mir. Das könnte mein Gobbler sein, zumindest, wenn er einen Bogen geschlagen hätte. Ich wage es nicht, meinen Kopf zu drehen und versuche mit Gewalt die Augen soweit es geht nach links zu bewegen. Natürlich mit leicht geschlossenen Augenlidern.

Fehlalarm! Ein Eichhörnchen ist auf der Suche nach Nahrung und kommt mir zum Greifen nahe. Es macht einen Höllenlärm. Ich überlege, wie ich es zum Schweigen bringen könnte. Mir fallen mindesten zehn wunderbar grausame Methoden ein, inklusive dreierlei Rezepte.
Zwanzig Minuten später ist meine Geduld am Ende. Ich beschließe ein paar laute Yelps mit dem Boxcall abzufeuern. Der Box-Call ist laut und trägt über mehrere hundert Meter durch den Wald. Irgendein Vogel wird mich schon hören.
Um das kleine, natürlich hand-geschnitzte Holzkästchen mit einem beweglichen Deckel, aus der Weste zu nehmen muß ich mich zwangsläufig bewegen und benutze die Situation, meinen steifen Gliedern ein wenig Entspannung zu gönnen.
Die routinierten Yelps durchschneiden scharf die frische Morgenluft. Sie erinnern entfernt an mein heiß geliebtes Küchenmesser. Das Eichhörnchen sucht verstört das Weite! Ich bin begeistert und lausche!
Nichts. Mein Gehirn rotiert und die Versuchung wird größer noch einmal zu rufen. Glücklicherweise bin ich in einem Alter, in dem Beherrschung besser funktioniert als in jüngeren Jahren.
Mittlerweile sind gefühlt etwa zwei Stunden vergangen und mir wird klar, dass das leckere Frühstück zuhause heute ausfällt.
Plötzlich – ein Gobbeln. Laut und deutlich! Und näher als die anfänglichen Laute. Meine Stimmung ist schlagartig besser, ich führe die Flinte sehr, sehr langsam auf meine Knie, fast schon in Schußposition. Und warte.
Regel Nummer Fünf: Die Truthahn Jagd ist keine Jagd, es ist eine Schachpartie!
Ich bin mir sicher der Vogel hat angebissen, was aber nicht wirklich etwas heißt. Meine Begeisterung schlägt in das unerträgliche Begehren um, dem Hahn mit meinem Truthennen Charme zu antworten. Ich versetze mich in die weibliche Gedankenwelt und will ihn zu einem weiteren Gobbeln verführen. Nur eine klitzekleine Antwort. Vielleicht nur ein freudiger Laut. Verdammt, ein Cluck würde mich schon glücklich machen. Und schon ich bin kurz davor einen entscheidenden Fehler zu machen, nämlich mich nicht beherrschen zu können.
In diesem Moment kommt mir die Natur in Form von fünf penetranter Moskitos zu Hilfe. Sie umschwirren meinen Kopf und lenken meine Konzentration vom Gobbler auf die nervigen Biester. Drei von ihnen sitzen mittlerweile auf meinem Brillenrand und grinsen mich frech an, während die zwei anderen Kamikaze Attacken auf die wenigen ungeschützten Hautstellen fliegen. Ich MUSS sie eliminieren, koste es was es wolle, halte mich aber noch zurück. Ich spüre den ersten Stich und fühle förmlich, wie der kleine Vampir mein warmes Blut genüßlich aufsaugt. Die Mischung aus leichtem Schmerz und dem darauf folgenden Juckreiz bringt mich an die Grenzen des Erträglichen. Ich habe ein Thermacell (Mückenabwehr Gerät) in meiner Weste, müsste aber, um das kleine Gerät auszupacken und anzuschalten mehrere, in dieser Situation komplexe Bewegungsabläufe starten.

Ich verfluche mich, dass ich dies nicht schon vor Stunden getan habe und fühle förmlich wie mich der alte Gobbler aus seinem Versteck anstarrt. Ich bin mir sicher, er wartet nur darauf, dass ich mich nicht mehr zurückhalten kann und beschließe, ihm diesen Gefallen nicht zu tun. Der Versuch durch autogenes Training und unbändige Willenskraft die Moskitos und ihre Folterattacken irgendwie auszublenden scheitert kläglich. Die Flinte auf meinem Knie wird langsam unbequem schwer, mein Rücken schmerzt und ich stelle fest, dass mein winziger Campingstuhl in einer Kolonie von Fire Ants, super aggressiven Ameisen, steht. Noch wandern sie in kleinen Kolonnen über meine Snakeboots, doch sollten sie den Weg ins Innere finden, ist dieser Tag und die Jagd gelaufen. Zu meinen äußerlichen Befindlichkeiten kommt mittlerweile die Tatsache, dass die Temperatur durch die gnadenlose Sonne South Carolinas auf etwa 26 Grad Celsius gestiegen ist und die extreme Luftfeuchtigkeit meine wunderbare Tarnausrüstung zur ungewollten Sauna macht.
Regel Nummer Sechs: Der eigentliche Gegner ist man selbst!
Ich lenke meine Konzentration zurück auf den Hahn und denke an die wunderbare Rillettes, die ich aus den Schenkeln und Keulen des Truthahns mache. Unweigerlich läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Ich erkenne die Dringlichkeit und absolute Notwendigkeit meiner Bemühungen und entschließe mich höchst motiviert zu einem Jerk-Move:
Eifersucht funktioniert immer, im Leben wie im Liebesspiel.
Ganz vorsichtig imitiere ich einige genüßliche Purrrrs, die beglückten Laute der Pute, die sich einem Widersacher hingeben will. Nur nicht zu viel. Und nicht zu laut. Sinnliches Liebesspiel eben. Gott sei Dank, damit kenne ich mich aus.
Vor meinem geistigen Auge laufen alle Truthahn-Mantras der Welt ab. „Weniger ist mehr“ und „Geduld, Grasshüpfer“ sind die wichtigsten. Wenn der verdammte Gobbler das nicht schnallt, hat er mich nicht verdient.
Regel Nummer Sieben: Zeit ist die einzige Konstante in diesem Spiel!
Wir haben fast Mittag, die Sonne brennt mir auf den Pelz und auf der Lichtung stehen zwei Weißwedelhirsche.
Sie glotzen mich an und versuchen meinen mehr als intensiven Geruch zu deuten. Wäre ich jetzt auf der Bogenjagd, hätte ich ideal Bedingungen. Das Leben ist leider kein Wunschkonzert und ich werde langsam mürbe. Die Moskitos sind verköstigt, die Stiche jucken nicht mehr, mein Schweiß wird durch den leichten Wind in eine natürliche Klimaanlage verwandelt und ich überlege, wie lange ich mir diese Qual noch antun will.
Ich rufe noch einmal, diesmal weniger engagiert, nur ein, zwei kleine Yelps. Mit heiserer Stimme. Ein wenig genervtes Weib eben, bei der der Mann sich endlos verzettelt. Soll das blöde Vieh doch machen, was es will. Ich brauche keinen Hahn, ich mach es mir selber. Und überhaupt, die Truthahn Jagd ist komplett überbewertet.
Regel Nummer Acht: Je weniger man sich bemüht, desto größer die Chancen!
Ich warte weitere 30 Minuten. Kein – einziger – Laut. Nichts. Gar nichts.
Aus Verzweiflung fange ich an zu reimen. Der Wahnsinn ist zum Greifen nah.
Heute bleibt die Küche kalt, wir gehen in den Wienerwald.
Truthahn ist aus, wir geh’n nach Haus!
Ich beschließe den Standort zu wechseln. Das gibt mir die Möglichkeiten, meine Glieder zu strecken, einen Bissen zu essen und vielleicht ein Bier zu trinken. Besonders der letzte Gedanke bekommt in Sekundenschnelle immer größere Bedeutung.
Ich lege die Flinte neben mich auf den Boden, stehe ganz langsam auf und strecke meine eingerosteten Extremitäten. Mehrere Schritte auf die Lichtung, um die Putenattrappe zu holen, da schießen zwei große alte Truthähne aus dem Gebüsch, keine zehn Meter von mir entfernt, und fliegen in drei Meter Höhe über die Lichtung. Hätte ich Idiot meine Flinte in der Hand gehabt und nicht weggelegt, hätte ich einen davon aus der Luft geholt. Die Biester waren unmittelbar neben mir, und haben mich wahrscheinlich über eine halbe Stunde beobachtet und sich über mich lustig gemacht. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätten sie ihren Balztanz in wenigen Minuten auf der Lichtung begonnen.
Irgendwie hasse ich Truthähne. Ich verfluche sie. Ich beiße mich sprichwörtlich in den Hintern. Und ich erinnere mich an den Anfang dieser Geschichte.
Denn eigentlich war es doch eine gute Jagd. Eine verdammt gute sogar. Ich habe mit einem Gobbler kommuniziert, zwei alte Toms über viereinhalb Stunden zu mir gelockt. Ich habe mich über die meisten Qualen hinweggesetzt, einem Eichhörnchen den Glauben an das Gute in der Welt geraubt und eine blutrünstige Orgie mit fünf Moskitos gefeiert. Ich habe die Schachpartie zwar verloren, aber nicht, weil ich schlecht gespielt habe, sondern weil ich am Ende ungeduldig wurde. Erlegt habe ich heute keinen Truthahn, aber die Saison hat ja gerade erst begonnen. Und mehr als drei Gobbler darf man sowieso nicht erlegen.
Voila!
In den folgenden drei Wochen der 2021 Truthahn Jagdsaison war ich noch etwa achtmal auf Truthahn Jagd. Am Ende hatte ich zwei wunderschöne alte Gobbler erlegt und weitere, äußerst unterhaltsame Geschichten erlebt. Zur Zeit bin ich wieder in Supermärkten und anderen obskuren Orten unterwegs und übe fleißig meine Lockrufe. Die Ausrüstung ist komplett, jetzt heißt es nur noch: Geduldig warten!

Eine absolute Delikatesse ist meine hausgemachte Rillette vom Wilden Truthahn und der Januar ist die perfekte Zeit, um sie zu machen.
*
Truthahn-Rillettes

Traditionell erfreuen sich die Jäger in den USA an den Trophäen des Truthahns, dem Bart, den Sporen und den fächerförmigen Schwanzfedern. In den meisten Fällen schneiden sie die Brust heraus und überlassen den Rest der Natur. Mir war das persönlich zu wenig. Ich hatte es mir als Aufgabe gestellt, weitere Teile kulinarisch zu verwerten. Die größte Hürde liegt darin, dass diese Vögel Langstreckenläufer sind, so gut wie kein Fett am Körper haben und die Schenkel und Keulen mit starken Sehnen und Knochen durchzogen sind. Das Fleisch ist eher tough wie man hier sagt – also zäh – und der herzhafte Biß in die Keule wird nicht mit einem saftig-zartem Erlebnis erwidert. Der Geschmack der Keulen und Schenkel jedoch ist eine kulinarische Offenbarung der anderen Art. Alles, was wir von industriell gezüchteten Truthähnen kennen, ist geschmacklich wie ein geschmolzener Eiswürfel, der das Glück hatte einmal durch einen Single Malt zu schwimmen. Massimo Bottura bekam seinen ersten Stern in der Osteria Francesca durch seinen Bissen Das knusprige Stück der Lasagne, der wilde Truthahn bekäme ihn bei mir durch den Bissen Thanksgiving in One Bite.
Ich kenne leider keine Lektüre über die gehobene Verwertung des wilden Truthahns, also musste ich kreativ werden.

Ich konfiere die Schenkel und Keulen, eingerieben mit aromatischen Kräutern, Salz und Pfeffer und ein wenig Zitrusabrieb, in Enten oder Gänsefett. Dazu werden sie einzeln mit zwei Esslöffeln Gänse oder Entenfett vakuumiert und dann etwa 12-16 Stunden bei 80 °C in meinem Sous Vide konfiert. Diese Methode ist unglaublich einfach und braucht wesentlich weniger Fett, als wenn man es im Ofen macht. Die Zeit mache ich abhängig von der Größe und dem Alter des Vogels.
Mir ist an dieser Stelle bewußt, dass die wenigsten der Leser einen wilden Truthahn zur Hand haben, aber das Konzept kann ohne weiteres auf ähnliche Wildvögel übertragen werden!
Wenn der Garprozess vollzogen ist sollte man entweder die Beutel im Eisbad umgehend herunter kühlen und einfrieren oder aber öffnen und das Fleisch weiterverarbeiten.
Unter keinen Umständen sollte man die Flüssigkeit im Beutel wegschütten, das Gänse oder Entenfett kann getrennt und für die Rillettes verwendet werden. Der Fleisch Jus hat einen sehr feinen Geschmack. Man kann ihn als einen Turbo Boost für eine Sauce verwenden. Ich benutze ihn als zusätzlichen Geschmacksträger in meiner Truthahn Rillettes.
Ich nehme das Fleisch handwarm aus den Beuteln und extrahiere es, ähnlich wie beim Pulled Pork, in kleinen Stücken aus der Knochen und Sehnen Struktur. An dieser Stelle erstaunt es nicht, dass der herzhafte Biss in die Keule einfach nicht so richtig klappen will. Das Pulled Turkey Fleisch jedoch ist unglaublich saftig und schmeckt wunderbar aromatisch, fast wie Thanksgiving und Weihnachten in einem einzigen Bissen!
Man kann das Fleisch kreativ für unterschiedlichste Gerichte verwenden. Ich habe damit Carnitas gemacht und meine Gäste konnten nicht genug bekommen.
Für die Rillettes stellen wir es in den Kühlschrank, die Temperatur sollte dafür eher kalt sein.
Die Herstellung der Rillettes ist denkbar einfach. Man kreiert eine Emulsion aus dem gekühlten Fleisch, etwas Butter in Zimmertemperatur, warmem Enten oder Gänsefett und dem warmen Truthahn Fond aus den Sous Vide Beuteln. Vorher wird das Fleisch mit Salz, Pfeffer, 1-2 Esslöffel Cognac oder besser Armagnac, ein wenig Dijon Senf für die Säure, frisch geschnittenem Schnittlauch, fein gehäckselter glatter Petersilie und Orangenabrieb und einer Prise Cayenne gewürzt.
Wir fügen einen guten Esslöffel Butter, mehrere Esslöffel warmes flüssiges Enten oder Gänsefett und den Jus zu dem Fleisch und verarbeiten es mit Hilfe eines breiten Holzlöffels zu einer Emulsion. Das Fleisch wird dabei zerdrückt und die Masse bekommt eine leicht klebrige streichfähige Konsistenz. Bei Bedarf kann man mehr Fett und Jus hinzufügen, bis die Konsistenz stimmt. Es ist schwierig genaue Mengenangaben zu machen, da es von der Ausgangsmenge des Truthahn Fleisches abhängt und diese je nach Vogel durchaus variiert. Man sollte an dieser Stelle noch einmal abschmecken und bei Bedarf mit Salz und Pfeffer nachwürzen.
Die Rillettes wird in kleine Gefäße gefüllt, die man mit Hilfe einer Gummidichtung luftdicht verschließen kann. Auf die glattgestrichene Rillettes Masse sollte man eine dünne Schicht flüssiges Enten oder Gänsefett geben, um es luftdicht zu versiegeln. Auf meinen Fotos habe ich etwas Thymian und Orangenabrieb für die Optik gegeben. Das ist nett für die Präsentation, kann aber zu Schimmel-Problemen führen. Die Rillettes kann sofort verzehrt werden, hält sich aber im Kühlschrank ohne Probleme über mehrere Monate (ohne die Dekoration).

Zusätzliche Tipps:
Ich bewahre jedes Jahr Gänsefett von der Weihnachtsgans zum Konfieren auf. Das Fett kann mehrmals verwendet werden, wenn man es zwischendurch klärt.

Entenfett kann man im Internet bestellen. Ist nicht billig, aber ähnlich wie beim Gänsefett kann man es mehrfach verwenden.
Bei meinem ersten Versuch habe ich zusätzlich eine handelsübliche Ente mit einer aromatischen Füllung im Rohr in einem Dutch Oven / Bräter bei niedriger Temperatur über Stunden gegart, um zusätzliches Fett und Jus zu erhalten. Danach habe ich dann reine Truthahn Rillette (mit ausschließlich Truthahn Fleisch) und eine gemischte Enten-Truthahn Rillette gemacht. Schmeckt beides hervorragend. Wenn man nur kleine Mengen an Wildvogel Fleisch hat ist das anzuraten. Bei mehreren Keulen und Schenkeln vom Truthahn braucht man das aber nicht.
Zutaten:
Rillettes
Kaltes konfiertes Fleisch von Truthahnschenkel und Keulen (gezupft)
1-2 Esslöffel Cognac oder Armagnac
1-2 Esslöffel ungesalzene Butter in Raumtemperatur
- 2-3 Esslöffel flüssiges warmes Enten oder Gänsefett
- 2-3 Esslöffel warmen Truthahn (oder Enten) Jus
- 2 Teelöffel Schnittlauch fein gehackt
- 2 Teelöffel glatte Petersilie fein gehackt
- 1/2 Teelöffel Dijon Senf
- Orangenabrieb
- Salz und Pfeffer
- Prise Cayenne
Ente
- handelsübliche Ente (4lbs)

Aromatische Füllung
8 Knoblauchzehen
mehrere dünne Scheiben Ingwer
4-6 dünne Scheiben der Orangenschale
3 Lorbeerblätter
Bündel Thymian
Salz, Pfeffer und getrockneter Thymian zum Einreiben innen und außen
Ente mit Gewürzen einreiben, und den restlichen Zutaten füllen
Bei 120 C im Rohr in einem Dutch Oven / Bräter etwa 5-6 Stunden garen, oder bis das Fleisch vom Knochen fällt
Fett und Jus extrahieren und trennen
Fleisch wie beim Truthahn in kleine Stücke zerlegen
Knochen kann man für einen Fond aufbewahren

©2023 Holger Obenaus
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Holger Obenaus

Holger Obenaus (* 1964) ist ein amerikanischer Fotograf, Musiker und Autor deutscher Herkunft. Das späte Ende der 70iger und die frühen 80iger Jahre verbrachte Holger als junger Punkgitarrist und späterer Musikproduzent in der Kölner und Düsseldorfer Musikszene. Im brodelnden und fruchtbaren Umfeld der Düsseldorfer Kunstakademie und der Kölner Werkschule hatten Elektronische Musik, German Punk & Pop und die Neue Deutsche Welle ihren Ursprung. Musiker und Künstler trafen sich in einschlägigen Etablissements in Köln und Düsseldorf zu einem kreativen Austausch von Ideen und Konzepten. Die Grenzen zwischen Kunst und Musik waren fließend.
Dieses Umfeld und die kreativen Einflüsse von Produzenten Ikone Conny Plank und Künstlern wie Jürgen Klauke, Gerhard Richter und dem Fotografen Boris Becker haben Holger bis heute stark geprägt. In den späten 90iger und frühen 2000er Jahre gehörte er zu den erfolgreichsten Musikautoren Deutschlands und wurde mit etlichen Mehrfach-Gold und Platin Awards der deutschen Musikindustrie ausgezeichnet.
Nach Aufenthalten in Kalifornien und Florida zog er Mitte der 2000er Jahre vollends in die USA.
Er verschob das Spektrum seiner künstlerischen Tätigkeit von der Musik zur Fotografie.
Holger’s kommerzielles fotografisches Werk, seine distanzierte objektivierende photographische Sichtweise ist streng an die Sachlichkeit und die saubere Linienführung der Arbeiten von Schülern der Becherklasse und der Düsseldorfer Schule angelehnt.
Holger pendelt heute beruflich zwischen Charleston, Dallas und Miami und verbringt seine Freizeit entweder passioniert auf der Jagd oder noch passionierter in der Küche.
Er ist überzeugter Vertreter von Farm-to-Table und Living off the Land, zwei kulinarischen Movements die die Esskultur der Vereinigten Staaten komplett verändern. Seit 2021 dokumentiert er kulinarischen Erlebnisse und Homesteading Erfahrungen unter dem Pseudonym Holger Holgerson in seinem Blog KRAUTANDREDNECK.COM

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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Emaille und Porzellan. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.