Buchvorstellung
Aus der Reihe Naturkunden liegt mir ein neues Schmuckstück von Buch aus dem Genre Nature Writing vor. Der Einband ist in meeresgrunddunkel gehalten und die Schrift schillert wie Perlmutt: Andreas Ammers Porträt über die Austern wurde von der renommierten Buchgestalterin Judith Schalansky entworfen.
»Niemand isst Austern, um satt zu werden. Sie befriedigen nur begrenzt kreatürliche Bedürfnisse. Ihr Verzehr ist ein heiliger, des Nutzens enthobener Moment, eher Erlebnis als Sinn und Zweck. Darin ähneln Austern der Kunst mehr als einer Speise. Sie sind das Glück oder ein Vorschein davon. „It`s a one-on-one relationship” eine Eins-zu-eins-Beziehung, behauptet der größte lebende Austerngelehrte, der Amerikaner Rowan Jacobsen, der alle über dreihundert Arten, die es in Amerika gibt, gekostet und beschrieben hat.
Der Austernpapst hat das Verspeisen eines Dutzend Austern als eines der letzten kulturellen Überbleibsel des rituellen Tieropfers bezeichnet, ein bronzezeitlicher Atavismus, der bis heute in den marmornen Altären der >Austerntempel< in New Orleans, an den Küsten Frankreichs oder in heimischen Wohnzimmern praktiziert wird, wo immer eine Auster geöffnet wird:
Der Hohepriester begrüßt Sie; darauf folgt ein rituelles Gespräch. Dann hebt er sein Messer und schneidet die Muskeln von einem Dutzend Austern auf, während Sie seine sauberen, einstudierten Bewegungen mit den Augen verfolgen: >Hoc est enim Corpus meum, quod pro vobis tradetur.< [Dies ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.] Er legt die Opfergabe vor dich hin, du salbst sie, und die Tat ist vollbracht. Wein wird vergossen, eine Kleinigkeit für den Priester, die Götter sind zufrieden, und das Universum für einen weiteren Tag erneuert worden.
Wir kennen zwei Arten sinnlicher Freuden. Die einen sind unmittelbar: Eiscreme, Sex und Drogen. Es gibt andere, die zur Entfaltung etwas Zeit oder Kraft benötigen, dazu gehören Poesie, Kochen oder körperliche Ertüchtigung. Erst wenn die Anstrengung vorbei ist, fühlt man sich lebendig und zufrieden. Das Essen einer Auster gehört zur zweiten Kategorie. Es schärft die Sinne und wird erst im Nachhinein zu einem Erlebnis, das oft sogar das Leben ändert. Fast jeder Mensch erinnert sich an die erste Auster wie an den ersten Kuss, nicht aber an seine erste Karotte.
Er kommt plötzlich und unerwartet wie ein Blitz der Erkenntnis. Ein kleiner, feiner Moment, der jeden treffen kann: Der Moment in dem sich alles ändert, in dem sich unverhofft und plötzlich ein Leben entscheidet. Der Moment, ab dem gilt: „Everything was different now.“ Mit diesen vier Worten fasst einer der berühmtesten Esser des Planeten sein erstes kulinarisches Aufeinandertreffen mit einer rohen Auster zusammen. Der Amerikaner Anthony Bourdain war erst ein berühmter Koch und später ein noch viel berühmterer Fernsehstar. Er hat als großer Genießer den ganzen Erdball bereist und dem Rest der Menschheit im Fernsehen davon berichtet, was er unterwegs zu essen bekam und wie schön die Welt sei. Mit seiner Sendung No Reservations hat Bourdain das erfolgreiche Genre der Koch-Reise-Shows erfunden.
In seiner Autobiografie berichtet er, wie er als Kind mit seinen Eltern die Sommerferien in Frankreich verbrachte, wo in den Jukeboxen A Whiter Shade of Pale lief und er vom Nachbarn seiner Tante, bei der er mit seiner Familie den Sommer verbrachte, zu einem Ausflug auf einem Austernkahn eingeladen wurde. Nachdem Käse und Baguette verspeist waren, hatte der kleine Anthony noch etwas Hunger, worauf ihm der Austernfischer Monsieur Saint-Jour eine Auster anbietet. Anthonys Eltern zögern, sein Bruder lehnt dankend ab: „Und ich im stolzesten Moment meines jungen Lebens erhob mich tapfer, grinste trotzig und meldete mich, als Erster zu probieren“. Und dann geschieht es:
In diesem unvergesslich zarten Moment, einem Moment, der für mich noch viel lebendiger ist als all die anderen „Ersten Male“, die da noch folgen sollten – der erste Sex, der erste Joint, der erste Tag in der Highschool, das erste veröffentlichte Buch -, erreichte ich allen Ruhm der Welt.
Der Austernfischer öffnet eine „riesige, unregelmäßig geformte“ Auster. Den älteren Bruder schaudert es vor dem glitschigen, irgendwie sexuell aufgeladenen Objekt, das noch tropft und lebt. Der kleine Anthony aber „nahm sie in den Mund, wie es der inzwischen strahlende Monsieur Saint-Jour gesagt hatte, und schlürfte sie mit einem Bissen und in einem Schluck. Es schmeckte nach Meerwasser … nach Salzlake und Fleisch … und irgendwie … nach Zukunft.“ Und dann ist es so weit. Der spätere Weltstar Bourdain wusste sofort, das sich sein Leben gerade gewendet hatte: „Everything was different now. Everything.“ Und als er dann seine Memoiren schreibt, gesteht er:
Ich war irgendwie zum Mann geworden. Ich hatte ein Abenteuer bestanden, die verbotene Frucht probiert, und alles, was in meinem Leben noch folgte – all das Essen, die lange und oft selbstzerstörerische Jagd nach dem nächsten Ding, egal ob es Drogen oder Sex oder irgendeine andere Sensation war – , es würde alles nur von diesem einem Moment abstammen.«

»In der Fachliteratur, bei Jacobsen, hat diese verbreitete Erfahrung des Erachsenenwerdens beim Muschelessen eine eigene Bezeichnung gefunden: Sie heißt Oyster Conversation Experience, kurz: OCE.
Die Oyster Conversion Experience ist ein Individuen, Geschlechter und Generationen übergreifendes Erlebnis. Du bist ein Jugendlicher. Du befindest dich in der Gegenwart von Erwachsenen, von denen du nur allzu gerne akzeptiert werden würdest. Man gibt dir eine Auster, du überwindest deine ursprüngliche Angst oder Abscheu, nimmst sie in den Mund und fühlst dich danach mutig, stolz und erleichtert. Du willst das Erlebnis sofort wiederholen.
Zugegeben: Es gibt Menschen, denen beim ersten Verzehr einer Auster nicht die Zukunft, das Leben, die Liebe ihres Lebens oder das Erwachsensein vor dem inneren Auge erschienen ist. Die Auster als Nahrungsmittel spaltet die Menschheit. Zwischen Austernhassern und Austernliebhabern gibt es keine Grauzone. Entweder man genießt die Muscheln bei jeder erdenklichen Gelegenheit oder man ekelt sich vor ihnen. Austernhasser behaupten oft, Austern würden nach nichts oder glitschig schmecken. Letzteres trifft aber so auch auf Avocados oder Eigelb zu. Das Schleimige, die Überwindung, ist ganz klar Teil des Genusses. Und natürlich hat dieser Genuss etwas Erotisches an sich. Nicht umsonst spielen die Szenen von Anthony Bourdain und Anne Sexton jeweils am Rande der Adoleszenz. Austern sind etwas für Erwachsene.«

Die Auster, welche von außen wie ein Stein vom Meeresgrund aussieht und deren Leben aus wenig mehr als aus Sex und Völlerei besteht, ist ein ganz spezielles Lebewesen und Lebensmittel. Sie zu verspeisen »ist ein archaischer Akt im Nobelrestaurant, ein in der westlichen Kultur sonst nicht mehr vorkommendes Ritual, der Moment, auf dem das Leben seit Zehntausenden von Jahren beruht: Der Moment, wenn ein Tier einem anderen in den Nacken beißt, um es zu töten und zu verschlingen,. Als Mensch kenne ich diesen Moment nur noch, wenn ich eine Auster esse, mein Biss macht mich zum Löwen, der nach wilder Jagd die Gazelle erlegt. Darauf folgt: die Gewissheit zu leben!«
In seinem Leselust auslösendem Kompendium begleiten wir Leser Andreas Ammer auf einem Bummel durch die Literatur, wenn er Schriftsteller zitiert, welche ihr erstes Austernmahl beschreiben.

Wir sehen, wie die Auster in der Malerei für die Inszenierung erotischer Fantasien dargestellt wurde und dass sie, ursprünglich ein Arme-Leute-Essen war, bevor sie zur exklusiven Delikatesse wurde.

Wir reisen mit Auer rund um die Welt und besuchen Austernzuchten, Fischmärkte, wissenschaftliche Institute und Restaurants um Menschen kennenzulernen, die Austern fangen, zubereiten, züchten oder dazu forschen. Das schön gestaltete Buch beinhaltet Fotos, Illustrationen und Abbildungen historischer Stiche und Gemälde. Wie bei Hechte sind auf den letzten Seiten Steckbriefe mit Zeichnungen einiger Arten zu bestaunen.

Der Focus liegt auf der Kulinarik, wobei mich etwas erstaunt, dass Andreas Ammer Austern eigentlich nur roh verzehrt. Da gibt es doch noch viel mehr Optionen wie Austern a là Française, Austern Wassard oder Gratinierte Austern à la Chandivert!
Im letzten Kapitel vor den Portraits Vom glücklichen Ende wird die Meerbiologin Bernadette Pogoda vom Alfred-Wegener-Institut vorgestellt. Im Projekt RESTORE arbeitet sie mit anderen Wissenschaftlern daran, in der Nordsee ein ganzes Austernriff wiederherstellen und die einst ausgestorbene Europäische Auster Ostrea edulus wieder anzusiedeln.
*
Andreas Ammer

Andreas Ammer, 1960 in München geboren, ist Fernsehmacher, Universitätsdozent und Opernregisseur, vor allem aber in Zusammenarbeit mit Musikern wie FM Einheit, Ulrike Haage, The Notwist, Acid Pauli oder Driftmachine der Autor zahlreicher preisgekrönter Hörspiele.
https://quh-berg.de/kandidaten/dr-andreas-ammer/
*
Judith Schalansky

Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign und lebt als freie Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin. Sowohl ihr Atlas der abgelegenen Inseln als auch ihr Bildungsroman Der Hals der Giraffe wurden von der Stiftung Buchkunst zum »Schönsten deutschen Buch« gekürt. Für ihr Verzeichnis einiger Verluste erhielt sie 2018 den Wilhelm-Raabe-Preis. Seit dem Frühjahr 2013 gibt sie die Reihe Naturkunden heraus.
***

Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe und Outdoor-Becher aus Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: Austern – Ein Porträt
Autor: Andreas Ammer
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Verlagslink: https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/austern.html
ISBN: 978-3751802215
Entdecke mehr von KRAUTJUNKER
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.
5 Kommentare Gib deinen ab