Dieses Jahr 2016 war ein besonders turbulentes. Gefühlt begann es in der Silvesternacht mit widerlichen Ereignissen in Köln und endete noch schlimmer auf einem Berliner Weihnachtsmarkt. Ich habe schon im Kopf und auf Zetteln diverse Essays verfasst, die ich dann doch alle nicht veröffentlichen möchte. Ich rege mich bloß wieder auf, ein Wort gibt das andere und hinterher heult wieder einer. Hoffen wir einfach, dass in der Zukunft zwei Sorten Menschen weniger werden: Diejenigen, die gerne herrschen und vor allem diejenigen, welche gerne beherrscht werden. Doch darüber soll man sich anderen Ortes ärgern. KRAUTJUNKER bleibt ein Refugium des Eskapismus, in dem man sich vor den Zumutungen der Realität erholen kann. Aus diesem kühlen Grunde serviere ich zum Jahresabschluss einen kurzen Text darüber, wie ich zum Schreiben kam und sich meine Interessen und Leidenschaften herausbildeten und kultivierten.
Während meines Studiums der Architektur in Leipzig stieß ich im Bücherschrank eines Alten Herren auf die Sudelbücher des Georg Christoph Lichtenberg (* 1742; † 1799). Obwohl von Gestalt ein buckeliger kleiner Mann war Lichtenberg in vielerlei Hinsicht ein ganz Großer. Ein aufmerksamer Beobachter und hochintelligenter kreativer Philantrop. Seine Eindrücke, Lesefrüchte und Reflexionen hielt er in seinen Sudelbüchern fest, die bis heute ungemein lesenswert sind. Kurt Tucholsky und Robert Gernhardt bewunderten ihn. Ich beschloss, ihm nachzueifern. Bis auf den Buckel natürlich.
Die Idee der Sudelbücher faszinierte mich, da ich nicht nur gerne lese, sondern auch zeichne und schreibe. Im Laufe der Jahre baute ich meine eigene kleine Sudelbuch-Bibliothek auf. Hier trage ich ein, was mich beschäftigt. Dies sind Passagen aus Büchern oder Zeitungen, Zitate von Mitmenschen, Skizzen, Entwürfe und Details, im Internet gefundene Bilddateien und natürlich eigene Gedanken und Zeichnungen, ganz gleich ob ernst oder albern, sinnenfroh oder technisch. Dazwischen Eintrittskarten von Museumsausstellungen, Weinetiketten, Kinokarten oder Fotos.
Schon alleine durch meine Handschrift nehme ich die Worte und den Sprachrythmus viel intensiver auf, als wenn ich einen Text digital kopiere. Noch stärker entwickelt sich bei mir Verständnis für ein Objekt, wenn ich es nicht fotografiere, sondern abzeichne. Oft fallen mir beim Führen des Stiftes Details auf, die ich bis dahin übersah.
Ein aktuelles Sudelbuch führe ich immer mit mir, um schnell etwas notieren zu können. Abends alte Sudelbücher durchzusehen, ist zuerst einmal ein sentimentaler Genuss. Ich entdecke alte Ideen, die ich fallengelassen hatte. Manche werde ich neu aufnehmen. Oder ich erinnere mich daran, in welcher Situation ich vor einigen Jahren war und was sich daraus entwickelte. Oft lache ich nur oder seufze melancholisch. Niemand ist immer hochgeistig, das Leben besteht ebenso aus Nonsens und Kitsch.
Instinktiv beginne ich, eindringliche Textpassagen immer wieder zu lesen, zu unterstreichen und neue Notizen hinzuzufügen. Dadurch eigne ich mir anderer Leute Wissen an, speichere es in meinem Kopf, reflektiere es immer wieder. Ich liebe das uralte Bild, dass ich ein Zwerg auf den Schultern von Riesen bin und so noch weiter schauen kann. Irgendwann verbinden sich diese Gedanken mit ganz anderen Eindrücken und Erlebnissen zu spannenden Collagen. Im besten Fall verwandeln sie sich in meine eigenen Interpretationen, werden erst etwas Neues, dann ein Teil von mir und tragen mich weiter.
Die Sudelbücher führten mich an den Punkt, an dem ich jetzt in meinem Leben angelangt bin, werden mich noch weitertragen und ich bin schon gespannt darauf, wie sich dies auf die nächsten Bände auswirken wird.
Allen Lesern ein frohes neues Jahr!
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Anmerkungen

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