Seine Bücher Das geheime Leben der Bäume und Das Seelenleben der Tiere machten den Förster Peter Wohlleben zu einem der gefragtesten Autoren Deutschlands. In der ARD-Literatursendung Druckfrisch erklärte Denis Scheck seinen Erfolg so: „Wohllebens Bücher erweitern unsere Wahrnehmung von der Welt.“
„Es geht mir nicht darum zu sagen, wir dürfen jetzt Pflanzen oder Tiere nicht mehr nutzen, dann müsste ich nämlich meine Hände in den Himmel strecken und gucken, ob ich Photosynthese betreiben kann. Das gelingt mir noch nicht. Insofern muss ich, um zu leben, auf andere Lebewesen zurückgreifen. Aber die Frage ist wie. […] Kann ich die Bäume und die Tiere nicht so leben lassen, dass sie möglichst natürlich leben und ihre typischen Arteigenschaften ausleben können? Das sind so Fragen, die mich umtreiben. Und da bin auch ich noch keinem endgültigen Schluss gekommen.“
Diese Leseprobe wurde seinem neuesten Buch, Gebrauchsanweisung für den Wald, entnommen.
Das Titelbild ist natürlich nicht aus seinem Buch. Es zeigt, wie der Herr von Slot Halemesje nach dem Verzehr frischer Blätter Bäume ausreißen konnte. Welches Blatt das ist, verrate ich natürlich nicht, sonst flippen alle aus und im Wald sieht es bald aus wie nach einem Orkan. Mit Zauberkräften muss man verantwortlich umgehen können…
von Peter Wohlleben
Es ist so weit : Die Laubwälder werden wieder grün. Zumindest in den Mittelgebirgen stimmt das alte Lied vom Mai, in dem die Bäume ausschlagen, noch, während in den tieferen Lagen dank des Klimawandels dieser Zeitpunkt in den April gerutscht ist. Für die Bäume ist das ein gewaltiger Kraftakt, der die eingespeicherten Reserven aus dem letzten Sommer fast aufzehrt. Daher warten sie so sorgsam ab, ob es auch wirklich Frühling wird, und treiben erst aus, wenn der tiefe Frost nicht mehr wiederkehren kann. Doch auch Bäume können irren, und gerade in den Höhenlagen friert es manchmal bis in den Juni hinein. Dann hängt das frische Grün schlapp und braun an den Zweigen, und für Buchen und Co. fängt ein harter Überlebenskampf an. Alles muss noch einmal von vorn beginnen, und nicht jeder Baum hat so viele Reserven, um zweimal hintereinander auszutreiben.
Bäume sind zu diesem Zeitpunkt ohnehin empfindlich. Im Stamm wird besonders viel Wasser emporgedrückt. Einige Wochen zuvor, im März/April, ist der Druck so hoch, dass Sie das einschießende Nass sogar mit einem an die Rinde angelegten Stethoskop hören können. Wie sich die grünen Riesen vollpumpen, ist bis heute nicht endgültig geklärt. Transpiration, Osmose, Kapillarkräfte – all das reicht zur Erklärung nicht aus. Durch das viele Nass haftet die Rinde nicht mehr so fest am Holz, daher sind Bäume im Frühjahr besonders empfindlich für Verletzungen. Und aufgrund der reichlich vorhandenen Feuchtigkeit siedeln sich auf Wunden in Windeseile Pilze und Bakterien an. Das macht das Verheilen besonders schwierig, und daher sollten Gartenbäume auf keinen Fall im Frühjahr geschnitten werden. Aus den Stümpfen quillt bei im März oder April abgesägten Laubgehölzen viel Wasser empor, und der Volksmund sagt völlig zu Recht : Der Baum blutet.
Das offizielle Schnittverbot von Gehölzen außerhalb von Siedlungen ab März dient aber weniger den Pflanzen als vielmehr den Vögeln. Der Gesetzgeber möchte damit verhindern, dass diese in ihrem Brutgeschäft gestört werden. Davon ausgenommen ist die Forstwirtschaft, die allerdings den größten Schaden anrichtet. Hunderttausende Nester fallen in jedem Jahr der Holzernte zum Opfer, wenn Fichten und Kiefern gefällt werden und damit die Brutstätten in den schwer einsehbaren Kronen gleich mit. Solche Kollateralschäden werden in Kauf genommen, damit die Sägewerke » just in time « versorgt werden.
Anfang Mai ist der Waldboden mancherorts von einem Blütenteppich überzogen. Ein natürlicher Wald unserer Breiten ist für Blumen eigentlich viel zu dunkel. Nur drei Prozent Restlicht lassen die dicht belaubten Kronen von Buchen und Eichen durch – das reicht für die meisten Kräuter nicht zum Überleben. Doch es gibt ein schmales Zeitfenster im Frühjahr, wo doch noch eine Chance für diese Zwerge besteht. Wird es Ende März wärmer, schieben sich zarte Triebe von Buschwindröschen, Scharbockskraut oder Bärlauch zwischen dem trockenen Laub des letzten Herbstes empor. Diese sogenannten » Frühblüher« müssen sich beeilen. Austrieb, Blüte, Samenbildung und das Einlagern von Reservestoffen für das nächste Frühjahr, all das muss erledigt werden, bevor es am Boden wieder zu dunkel wird. Noch schlafen die großen Bäume und erwachen Ende April nur langsam. Bis sich das Blätterdach endgültig schließt, ist es Mitte Mai. Den bunten Pflanzen bleiben also knapp zwei Monate, um all das zu erledigen, wofür sich andere Arten den ganzen Sommer lang Zeit lassen können. So gesehen sind Buschwindröschen und Co. die Sprinter des Waldes.
Im Wonnemonat kommen große Insekten aus dem Boden. Es sind Maikäfer, die zuvor drei bis vier Jahre im Boden als Engerlinge, dicke weiße Larven, gelebt haben. Dort fressen sie zum Kummer von Förstern an den Baumwurzeln herum, bis sie sich schließlich verpuppen und als fertige Käfer tief im Boden überwintern. Die flugfähigen Insekten fressen in den Baumkronen weiter und können bei Massenvermehrungen ganze Waldgebiete entlauben. Den Bäumen schadet das nicht nachhaltig, denn sie treiben dann Ende Juni noch einmal aus.
Maikäfer galten lange Jahre als selten, gar vom Aussterben bedroht. Reinhard Mey sang 1974, dass es keine Maikäfer mehr gebe. Mittlerweile weiß man, dass die Tiere neben einem vierjährigen Zyklus, der der Entwicklungsdauer der Larven entspricht, noch einen 30- bis 45-jährigen Zyklus aufweisen. In diesen großen zeitlichen Abständen kommt es jeweils zu Massenvermehrungen, die aufgrund von Krankheiten wieder zusammenbrechen und in der Folge suggerieren, die Insekten seien fast vollständig verschwunden. Früher waren die Maikäfer nicht nur wegen ihres Blattfraßes unter anderem an Obstbäumen gefürchtet, nein, sie waren als Delikatesse beliebt. Noch im 20. Jahrhundert aß man sie roh, gebraten und gekocht. Konditoren boten die kleinen Proteinbomben sogar, mit Zucker überzogen, als Naschwerk an. Etwas empfindlichere Gemüter verwendeten den Segen zumindest als kostenloses Hühnerfutter, wie sich mein Vater noch gut erinnern kann.
Größer sind die seltenen Hirschkäfer, die heimlich und verborgen in morschem Holz leben. Die Larve, die sich vergnügt durch brüchiges Holz mümmelt, verbringt dort drei, manchmal aber auch bis zu acht Jahre, bevor sie sich verpuppt und als imposanter Minihirsch ans Tageslicht kommt. Dort lebt der Käfer nur wenige Wochen, und das eigentlich nur, um sich zu paaren und Eier zu legen. Das Geweih der Männchen, welches sich aus den ursprünglichen Beißwerkzeugen entwickelte, dient lediglich dem Kampf mit Rivalen. Gefährlich ist der stolze Recke nicht, er beißt niemanden und leckt höchstens ein wenig Baumsäfte auf, die das Weibchen (es kann beißen !) durch kleine Rindenwunden zum Fließen bringt. Nach der Paarung legt das Weibchen ein paar Eier an die Wurzeln absterbender oder toter Bäume, und danach verabschieden sich die Elterntiere in den Käferhimmel. Da Hirschkäfer auf Totholz angewiesen sind, gelten sie als stark gefährdet – in den Wirtschaftswäldern von heute ist kaum Platz für vermodernde Eichen und andere Laubbäume. Ein Ersatzrefugium gibt es allerdings : hölzerne Zaunpfähle oder tote Obstbaumstümpfe. Wenn Sie so etwas in Ihrem Garten haben, dann könnten Sie sie für die kleinen Kerle stehen lassen.
Diese Tiere eignen sich gut, um uns einmal unsere subjektive Sichtweise klarzumachen : Wenn das Larvenstadium bis zu 99 Prozent der Lebensspanne des Hirschkäfers ausmacht, sollten wir ihn nicht besser nach diesem Zeitabschnitt benennen? Der Knackpunkt ist, dass wir ihn währenddessen nicht sehen, sondern nur die kurzzeitige Paarungsform. Das erschwert das Verständnis und führt sogar zu unangebrachtem Mitleid, wie die Eintagsfliege beweist. Sie erhebt sich ebenfalls nur für Sex in die Lüfte und lebt davor ein Jahr lang in Bächen und Tümpeln. Wir bedauern sie ob ihres kurzen Lebens, obwohl sie für ein Insekt vergleichsweise alt wird.
Eine Massenvermehrung von Insekten kann sich übrigens recht gruselig anhören. Ich habe so etwas einmal in einem Eichenbestand meines Reviers erlebt. Dieser war vom Eichenwickler, einem kleinen grünen Schmetterling, befallen. Millionen von Raupen knabberten sich an den frisch ausgetriebenen Blättern entlang und verdauten diese. Wer viel frisst, muss auch oft ein großes Geschäft machen. Bei einer einzelnen Eichenwicklerraupe ist das ein winziges Kügelchen, doch bei einer Heerschar fallen ununterbrochen Zehntausende solcher Pillen zu Boden. Das Geräusch erinnert an heftige Regenfälle, mit dem Unterschied, dass es wochenlang durchgehend zu hören ist. Selbstredend, dass ein Spaziergang durch solche Eichenwälder nicht besonders appetitlich ist.
***
Anmerkungen
Von KRAUTJUNKER existiert eine Gruppe bei Facebook.
Titel: Gebrauchsanweisung für den Wald
Autor: Peter Wohlleben
Verlag: Piper Taschenbuch
ISBN: 978-3492276849
Verlagslink: https://www.piper.de/buecher/gebrauchsanweisung-fuer-den-wald-isbn-978-3-492-27684-9