Rehwild: Fortpflanzung und Bestandsdynamik

von Forstdirektor a. D. Dr. Kurt Menzel

Das Brunftverhalten des Rehwildes war bereits Gegenstand des letzten Kapitels. Etwa 96 % aller Kitze werden in den Monaten Mai und Juni gesetzt. Das bedeutet, dass die Tragzeit vom Zeitpunkt des Beschlags der Ricke bis zur Setzzeit etwa achteinhalb Monate beträgt.
Vor dem Beginn des embryonalen Wachstums greift jedoch eine so genannte Keimruhe von etwa viereinhalb Monaten. Sie verhindert, dass die Kitze schon zu einer ungünstigen Vegetationsperiode – etwa im Dezember/Januar – gesetzt werden.
Die Setztermine können je nach Witterungsverhältnissen im Frühjahr differieren und sind entscheidend vom Entwicklungszustand der Vegetation abhängig. Sie verschieben sich vom Flachland ins Gebirge und von Südwesten nach Nordosten unserer Republik. In einem Frühjahr, in dem es spät „grün“ wird, kann der Setzzeitpunkt bei den Ricken um bis zu vierzehn Tage nach hinten verschoben sein.

Zuwachs

Die Ricke setzt ein bis zwei Kitze, seltener drei. Auch Vierlinge sind schon als seltene Ausnahme beobachtet worden, die Regel sind bei mehrjährigen Ricken jedoch zwei Kitze. Ricken, die das erste Mal setzen, führen meist nur ein Kitz. Vorzugsweise werden die Jungen in der Waldrandzone mit guter Deckung gesetzt, aber auch in Wiesen oder anderen Freiflächen mit hohem Bewuchs werden frisch gesetzte Kitze gefunden. Mehrlingskitze liegen aus Sicherheitsgründen oft in weitem Abstand voneinander entfernt.
Angaben über durchschnittliche Kitzraten sind äußerst schwierig, weil die örtlichen Verhältnisse zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen und auch von Jahr zu Jahr große Schwankungen auftreten können. Selbst wenn man durchweg jährlich zwei Kitze pro mehrjährige Ricke unterstellt, ist die postnatale Sterblichkeitsrate des Nachwuchses von verschiedenen Faktoren abhängig. Dazu zählen die Witterung während der Aufzuchtszeit, Verluste durch Grasmahd, die Fuchs- und Schwarzwilddichte und andere.
Nasse und bewölkte, kühle Frühsommer machen Rehkitze anfälliger für Krankheiten und Parasiten, sorgen für eine hohe Kitzsterblichkeit in den ersten Lebenstagen und -wochen und zeitigen „schlechte Kitzjahre“.

Geschlechterverhältnis und Feindeinfluss

Das von Natur aus gegebene Geschlechterverhältnis bei den Kitzen beträgt 1:1 mit leichter Tendenz zu einem kleinen Überhang an Bockkitzen. Durch eine unterschiedliche Sterblichkeit kann sich jedoch das Geschlechterverhältnis zu Ungunsten der Bockkitze verschieben, denn offensichtlich sind diese anfälliger gegenüber Witterungseinflüssen und Feinden und haben somit eine höhere Sterblichkeitsrate.

Abb.: Seltener Anblick – eine Ricke mit drei Kitzen

Eine interessante Untersuchung zweier norwegischer Wissenschaftler befasste sich mit dem Einfluss, den Füchse im Laufe von zwei Jahren auf einer 55 Quadratkilometer großen Insel auf den Rehwildbestand hatten. Während der Studie wurden 21 der markierten 44 Kitze von Fuchsen gerissen – die Hälfte aller Kitze fiel also den Füchsen zum Opfer! Das Durchschnittsalter der gerissenen Kitze betrug 20 Tage, das jüngste war einen Tag, das älteste 45 Tage alt. Dass Kitze verstärkt erst ab zwei Wochen nach der Geburt gerissen werden, deutet darauf hin, dass sie mit steigendem Alter mehr eigene Beweglichkeit zeigen und sich von dem starren Abliegen lösen.Und nun kam das Interessante: Unter den Bock- und den Rickenkitzen wurden nicht etwa gleich hohe Verluste verzeichnet, sondern viermal mehr Bockkitze als Rickenkitze von den Füchsen gerissen. Die Forscher vermuten, dass sich die männlichen Kitze in ihrem Verhalten von den weiblichen durch eine höhere Aktivität unterscheiden und somit für Feinde auffälliger werden.
Bemerkenswert war bei dieser Untersuchung auch, dass die Verluste unter den zur Hauptsetzzeit geborenen Kitzen wesentlich höher waren als unter denen, die außer halb dieser Zeit geboren wurden. Die Wahrscheinlichkeit, von einem Fuchs gerissen zu werden, hängt für ein Kitz also auch von dem Setztermin ab.
Interessant war an der norwegischen Untersuchung auch die Beobachtung, dass in offenen Lebensräumen wie Wiesen und Weiden die Kitze wesentlich häufiger vom Fuchs gefunden und gerissen wurden als in deckungsreichen Waldstrukturen.

Starke Ricken setzen mehr Rickenkitze

Die Frage, wie sich Rehwildbestände aus sich heraus verändern und entwickeln, wenn sie einerseits nicht oder nur gering und auf der anderen Seite extrem scharf bejagt werden, ist nicht ganz einfach zu beantworten. Letztendlich fehlt es zu diesem Komplex noch an aussagekräftigen Versuchen. Experimente in Gattern oder bei ganzjähriger Fütterung wie in dem steirischen, durch das Buch des Herzogs von Bayern bekannt gewordenen Gebirgsrevier sind nicht ohne Vorbehalte auf die freie Wildbahn zu übertragen.
Der verstorbene Rehwildexperte Ernst Schäfer vertrat beispielsweise die Auffassung, dass bei einem Überhang an weiblichem Wild körperlich schwache Ricken mehr Ricken- als Bockkitze setzen. Heute tendieren die meisten Wildbiologen zu der gegenteiligen Ansicht, dass nämlich die kräftigen, vitalen, ranghohen Ricken mehr weibliche Kitze, während die schwachen, verdrängten mehr Bockkitze setzen. Ein höherer Anteil junger Böcke müsste demnach eine Verringerung der künftigen Zuwachsträger – also der Ricken – zur Folge haben.
Diese Schlussfolgerung führte letztlich zu der Erkenntnis, dass ein scharfer Verminderungsabschuss im Grunde nicht zu dem erhofften Ergebnis führt, weil durch den höheren Anteil weiblicher Nachkommen die durch die starke Bejagung entstandenen Verluste relativ schnell wieder ausgeglichen werden.


Abb.: Hewison & Gaillard (1996) fanden heraus: Je besser die Kondition der setzfähigen weiblichen Rehe ist, desto relativ weniger Bockkitze werden gesetzt und umgekehrt (die punktierte Linie markiert ein Geschlechterverhältnis von 1:1).


Geschlechterverhältnis als Regulationsmechanismus

Wird ein bestimmter Rehwildbestand mit der Büchse stark und vergleichsweise wahllos reduziert, sprechen Verhaltensforscher gern von einer Pionierphase, in der sich der Bestand befindet, und vergleichen den Zustand mit den Bedingungen, denen das Rehwild unterworfen ist, wenn es ein bisher rehwildfreies Gebiet neu besiedelt. So eine durch jagdliche Maßnahmen hervorgerufene Pionierphase kann sehr lange anhalten, wenn immer wieder stark und wahllos in den Bestand eingegriffen wird.
In der unterschiedlichen Häufigkeit der Geschlechter bei den Kitzen könnte man einen natürlichen Mechanismus zur Regulierung der Bestände sehen, wenn er denn immer so eindeutig wirksam würde. Jedenfalls sollte man den heute schon gelegentlich zu hörenden Spruch „je mehr Rehe man schießt, umso größer wird der Bestand“ sicher nicht allzu viel Glauben schenken, denn irgendwann ist immer ein Punkt erreicht, an dem die Bestände tatsächlich zurückgehen.
Der in vielen unserer Reviere häufig zu beobachtende Überhang an weiblichem Rehwild liegt sicher zu einem Teil an der für das Rehwild typischen Gesetzmäßigkeit, wonach die Böcke einer höheren Sterblichkeit unterliegen. Diese höheren Verluste bei den Böcken gehen aber nach meiner Überzeugung nicht nur auf das Konto biologischer Ursachen, sondern werden zu einem nicht geringen Teil auch durch „Pulver und Blei“ verursacht. Auch nach den bisherigen Erkenntnissen der Jagdwissenschaft führt eine fehlerhafte Gliederung des jährlichen Rehwildabschusses nach Alter und Geschlecht erfahrungsgemäß zu einem ungünstigen Geschlechterverhältnis zu Lasten der Böcke. Mehr darüber wird in dem Kapitel über die Jagd auszuführen sein.

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Der jagdlich nutzbare Zuwachs

Die eigentliche Geburtsrate liegt beim Rehwild wie auch bei anderem Wild meist deutlich über dem jagdlich nutzbaren Zuwachs, der sich aus der Zahl gesetzter Kitze abzüglich der Ausfälle in den ersten Lebenstagen und -wochen ergibt. Der jagdliche Zuwachs aber ist das Maß dafür, in welcher Höhe wir jährlich in den Bestand eingreifen müssen, um ihn auf gleicher Höhe zu halten. Trotz hoher Geburtsraten können in bestimmten Regionen – beispielsweise im Hochgebirge – die Rehwildbestände stagnieren oder im Extremfall sogar rückläufig sein. Während im Herbst in manchen Revieren im Durchschnitt 1,7 Kitze pro Ricke gezählt werden, sind es anderswo nur 1,0 bis 1,1. So kann der jagdlich nutzbare Zuwachs im ungünstigsten Falle nur 50 %, in einem sehr günstigen Bereich dagegen 200 % der Ricken im setzfähigen Alter betragen.
Doch auch hier gilt: Beim Rehwild kann man bestimmte Erkenntnisse nicht von einem Ort auf den anderen übertragen, sondern ist weitgehend auf eigene Beobachtungen angewiesen. Bei den Abschussplänen wird – falls der Abschuss überhaupt noch über den geschätzten oder gezählten Bestand hergeleitet wird – beim Rehwild in der Regel ein Zuwachs von 100 bis 120 % aller am 1. April vorhandenen weiblichen Stücke (also einschließlich der Schmalrehe) unterstellt. Er kann in besonderen Fällen aber bis zu 160 % betragen.

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Verlagsinformation über den Autor:

Forstdirektor a. D. Dr. Kurt Menzel wuchs in einem Forsthaus im ehemaligen Osten Deutschlands auf. Seit den Kindertagen mit Wild, Wald und Jagd eng verbunden, studierte er Forstwissenschaften an der Georg-August-Universität in Göttingen und promovierte später am dortigen Institut für Jagdkunde bei Professor Nüßlein, dem heute noch unvergessenen „Nestor“ der deutschen Jagdwissenschaft.
Einige Jahre war Dr. Kurt Menzel freiberuflich forstlich tätig, bevor er in den Bundesforstdienst eintrat. Hier leitete er mehr als zwei Jahrzehnte das wegen seines Schalenwildreichtums legendäre Bundesforstamt Siebensteinhäuser in der Lüneburger Heide und erwarb sich große Verdienste um den Naturschutz, die Jagd und Hege des Wildes.
Dr. Kurt Menzel ist Autor des im Kosmos Verlag erschienenen Buches „Die Altersansprache beim Schalenwild“. Sein ebenfalls bei Kosmos erschienenes und in diesem Doppelband enthaltenes Werk „Hege und Bejagung des Rehwildes“ wählten die Leser der „Wild und Hund“, Europas größter Jagdfachzeitschrift, zum Jagdsachbuch des Jahres. Dr. Kurt Menzel war über viele Jahre ständiger Mitarbeiter der „Wild und Hund“ und hat sich durch zahlreiche Veröffentlichungen und Vorträge weit über die Grenzen der Heimat hinaus einen geachteten Ruf als Schalenwildexperte erworben.

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Von KRAUTJUNKER existiert eine Facebook-Gruppe.

Titel: Jagdpraxis Reh- und Rotwild: Verhalten, Hege und Bejagung

Autor: Kurt Menzel

Verlag: Franckh Kosmos Verlag

Verlagslink: https://www.kosmos.de/buecher/ratgeber/jagd/jagdpraxis-hege/9485/jagdpraxis-reh-und-rotwild

ISBN: 978-3440159118

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Deutsches Jagdlexikon zu Dr. Kurt Menzel:
http://deutsches-jagd-lexikon.de/index.php?title=Menzel,_Kurt

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