von Florian Asche
Wenn ein Jubiläum gefeiert wird, dann muss es nicht unbedingt ein Geburtstag sein. Als vor gut dreißig Jahren, am 19. September 1991, Erika und Helmut Simon auf einer Bergtour in den Ötztaler Alpen die mumifizierte Leiche eines Menschen fanden, da war das für die moderne Archäologie ein absoluter Glücksfall.

Erstmals war es möglich, anhand eines komplett erhaltenen Körpers und der Reste seiner Kleidung Rückschlüsse auf die Lebenswirklichkeit in der zu Ende gehenden Steinzeit zu ziehen. Kein Wunder, dass zunächst erbittert um die nationalen Rechte an der im Grenzgebiet zwischen Österreich und Italien gefundenen Leiche gerungen wurde. Auch das Kopfgeld für die Finder war Gegenstand mancher juristischer Rangelei. Schließlich erhielt Erika Simon von der Republik Italien eine Pauschalsumme von 175.000 Euro. Ihr Gatte war über den knapp zwanzigjährigen Rechtsstreit hingestorben. Heute ist das alles vergessen und ÖTZI ruht in dem eigens für ihn errichteten steinzeithistorischen Museum in Bozen. Dort erzählt uns der „Mann vom Similaun“ eine Geschichte, die zugleich atemberaubend ist und doch alltäglich war.

Der zum Todeszeitpunkt ca. 1,60 m große Mann war ungefähr 45 Jahre alt, als ihn der mit einer Feuersteinspitze versehene Pfeil seines Gegners in den Rücken traf. Das Geschoss durchschlug das linke Schulterblatt, führte aber nicht unmittelbar zum Tode. Der trat vielmehr aufgrund eines eingeschlagenen Schädels ein, ob durch Sturz oder durch Schläge des Feindes, vermag man heute nicht mehr zu sagen.

Durch eingehende Untersuchungen mittels Radiokarbonmethode konnte der Todeszeitpunkt auf das Jahr 3258 v. Chr. festgelegt werden. Dabei ist eine Unschärfe von acht bis neun Jahrzehnten hinzunehmen. Der ca. 13 kg schwere, gefriergetrocknete Körper war in einem derart guten Zustand, dass nicht nur äußerliche Untersuchungen durchgeführt werden konnten. Auch die inneren medizinischen Parameter wurden bis in Detail analysiert. Wer nun aber gehofft hatte, auf einen kernigen, pumperlgesunden Naturburschen zu stoßen, der wurde herb enttäuscht. So lustig war das Leben der Tiroler offenbar schon damals nicht.
ÖTZI litt zu seinen Lebzeiten an einer Vielzahl von Krankheiten, die man eigentlich eher bei zivilisationsgeschädigten Sofasitzern vermuten sollte. Der Steinzeitmann hatte Gallensteine und erhöhte Blutfettwerte. Seine Zähne waren schon recht abgenutzt und zeigten Befall von Karies und Parodontose.

Aus dem Zustand seines Gebisses wurde zunächst auf eine vorwiegend vegetarische Ernährung geschlossen. Schließlich strapazierten die frühen Agrarpflanzen wie das Einkorn die Zähne weit mehr als Fleisch und Fisch. Bevor Peta jedoch über den ersten Veggy der Geschichte jubeln konnte, fand man Ötzis Magen (recht weit oben im Brustkorb) und analysierte den Inhalt. Dabei stießen die Pathologen auf Reste von Mahlzeiten aus Rothirsch und Steinbock. Der Zustand dieser Proben deutete darauf hin, dass dieses Wildbret entweder roh oder getrocknet verzehrt wurde, nicht jedoch gebraten oder gekocht. Die Hälfte des Mageninhaltes bestand dabei aus Feist, offensichtlich als Kraftspender für eine anstrengende Gebirgstour. Weitere Wegzehrung konnten die Forscher jedoch nicht feststellen. Entweder rechnete der Mann damit, zu gegebener Zeit wieder an Vorräte zu gelangen oder er konnte es sich leisten, direkt aus der Natur zu leben, zu jagen und jederzeit ein Feuer zu machen, um das erlegte Wild zuzubereiten. Ein Glutbehälter und Zunder sprechen dafür.
In jedem Fall war ÖTZIS Ernährungsweise nicht gerade ideal, um beim Internisten des Vertrauens Zustimmung zu finden. Im Geiste sieht man ihn in der Sprechstunde sitzen, während der Arzt auf die Laborwerte schaut und ernsthaft warnt: „Herr Ötztaler, sie müssen ihr Leben ändern. Denken sie an ihre Familie!“ Doch derartige Kalauer sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es der Fleischverzehr war, der unser Gehirn auf seine heutige Größe brachte. So haben die Harvard-Historiker Lieberman und Zink entdeckt, dass das Kauen von Fleisch, erst recht, wenn es vorher klein geschnitten wurde, 46% weniger Kraft kostet als das Kauen von Wurzelgemüse, ein ersparter Aufwand, der unmittelbar unserer Gehirnentwicklung zu Gute kam. Wir legten intellektuell zu und bezahlten das von Fall zu Fall mit Bauchgrimmen und schlechten Blutfettwerten.
Gegen seine Magenbeschwerden setzte der Mann aus dem Eis offenbar auf Naturheilkunde. Das wird aus Birkenporlingen (Baumschwämmen) deutlich, die er bei sich hatte. Deren antibakterielle Wirkung scheint früh bekannt gewesen zu sein. Weitere therapeutische Kraft versprach sich der Steinzeitmann offenbar von über 60 kleinen Tätowierungen, die als Punkte und Striche an verschiedenen Stellen seines Körpers zu erkennen waren. Wie viele Waldschrate heutzutage hatte auch ÖTZI bereits eine Borreliose hinter sich. Es hat etwas Rührendes, sich diesen Mann mit ähnlichen Zipperlein vorzustellen, die so manchen von uns heute plagen.
Besonders faszinierend sind aber die Waffen, die ÖTZI bei sich hatte. Sein Nicker war nur mit einer sehr kurzen Feuersteinklinge ausgestattet, um nicht zu schnell zu brechen. Man stellt sich solche Gegenstände in der Steinzeit als klassisches „Do it yourself-Produkt“ vor. ÖTZI braucht ein neues Messer für die Küche, bückt sich und schon ist das Werkzeug fertig. Doch tatsächlich war die Feuersteinproduktion schon damals international. ÖTZIS Klinge stammte beispielsweise aus dem Trentino, 60 km von ihrem Fundort entfernt. Die berühmten Produkte aus Levallois bei Paris (damals gab es beides noch nicht) wurden schon damals über Handelswege von bis zu 1000 km geliefert. Eingespannt in hölzerne Griffschalen waren diese Geräte scharf genug, um erlegtes Wild aufzubrechen, aus der Decke zu schlagen und zu zerwirken. Sogar einen Retoucheur, eine Art kleinen Schleifstab, fanden die Historiker bei ÖTZI.

Der Langbogen, den der Steinzeitmann führte, gibt hingegen manches Rätsel auf. Das beginnt mit dem Umstand, dass die Waffe noch nicht fertiggestellt war. ÖTZI schnitzte noch an dem ca. 1,80 m langen Eibenholzstab. Die Eibe (taxus baccata) war schon in dieser Zeit der absolute Favorit unter den Bogenmaterialien. Zäh und flexibel, mit einer Sehne aus Tierfasern, war diese Waffe durchaus geeignet, um auf eine Distanz von 30 bis 50 m treffen und töten zu können. Richtete man den Bogen artilleristisch aus, mit einem Winkel von 35 bis 40 Grad, so konnten Pfeile bis zu 180 m weit verschossen werden. 4600 Jahre nach ÖTZIS Tod werden die Engländer bei Crecy (1346) die Franzosen mit dieser furchtbaren Waffe schlagen. Das war Qualität.

Ein echtes „must have“ der damaligen Zeit war das Beil des Mannes vom Similaun. Seine Klinge war nämlich nicht aus Stein, sondern aus Kupfer, einer extrem teuren Importware aus der Toscana. Allein der Handelsweg, den dieses Produkt hinter sich hatte, reizt die Phantasie. Man muss sich ÖTZIs Sippe am Feuer vorstellen, wenn Papa stolz sein Beil herumzeigte und damit ein wenig angab: „Drei Ziegen habe ich dem Händler dafür gegeben. Drei Ziegen! Aber das war es wert! Schaut mal, ich kann sogar Holzspäne damit schlagen. Und die Klinge zerbricht nicht gleich wie die von meinem alten Steinbeil. So fühlt sich Fortschritt an, Kinder! Wer will sie mal anfassen?“ Lauter schmutzige kleine Hände wedeln in der Luft.

Der Status eines solchen Werkzeuges kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Wenn wir heute einen R 8 mit Karbonschaft kaufen oder ein Zeissglas mit Entfernungsmesser, dann fühlen wir uns schon als Trendsetter. Doch diese Produkte sind, bei aller Qualität, mehr oder minder beliebig verfügbar, wenn man bereit ist, das nötige Kleingeld dafür auszugeben. An ÖTZIS Kupferaxt haftete hingegen der Reiz des Unverwechselbaren, Fremden, Exotischen. Man musste erst einen Menschen als Tauschpartner finden, darauf vertrauen, von ihm nicht umgebracht zu werden und dann auch noch die richtige Tauschware haben. Dann aber war das neue Werkzeug ein Gerät der Macht. Allein das rötliche Blitzen der Klinge muss die Menschen der damaligen Zeit fasziniert haben, ihre Besitzgier angestachelt und den Besitzerstolz gekrönt.
Umso rätselhafter ist die Tatsache, dass dieser einmalige Gegenstand nicht vom Gegner, der ÖTZI tötete, als Beute mitgenommen wurde. Manche Ur- und Frühhistoriker glauben deshalb, es habe sich bei der Axt um eine Grabbeigabe gehandelt. Doch das ist eine Hypothese, die Zweifel verdient. Die Auffindesituation der Leiche war so wenig rituell, so wenig gräberartig, dass die Beigabe eines so wichtigen und wertvollen Gegenstandes unplausibel erscheint. Stattdessen mag es sein, dass ÖTZI mit seinem Gegner aus dem Hinterhalt noch gekämpft hat, noch einmal siegreich war, mit ihm sterbend zu Boden stürzte. Die Phantasie bekommt hier Flügel.

flipflop-collective
Wenn wir uns von diesem spektakulären Fund und seiner Geschichte verabschieden, dann blicken wir zurück auf eine Phase der Geschichte, in der der Kampf des Alltags noch ein Überleben durch und mit der Jagd war. Es sollte nicht mehr lange dauern, und dieser Kampf durch die Jagd wandelte sich in einen Streit um die Jagd.

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Dieses Essay erschien zuerst am 14. Januar 2022 auf dem Facebookprofil von Florian Asche.
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KRAUTJUNKER-Blogbeitrag über Ötzis Pilz-Reiseapotheke:
https://krautjunker.com/2018/02/21/oetzis-pilz-reiseapotheke/
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Ötzi ist im Südtiroler Archäologiemuseum zu besuchen
http://www.iceman.it/
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Über Ötzis Schicksal gibt es einen Film mit Jürgen Vogel


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Florian Asche

Der Rechtsanwalt Dr. Florian Asche ist Vorstandsmitglied der Max Schmeling Stiftung und der Stiftung Wald und Wild in Mecklenburg-Vorpommern.
Einem breiten Publikum wurde er bekannt durch seinen literarischen Überraschungserfolg über den göttlichen Triatlhon: Jagen, Sex und Tiere essen (siehe: https://krautjunker.com/2017/01/04/jagen-sex-und-tiere-essen/& https://krautjunker.com/2017/09/19/sind-jagd-und-sex-das-gleiche/)
Website der Kanzlei: https://www.aschestein.de/de/anwaelte-berater/detail/person/dr-florian-asche/
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Mehr von Dr. Florian Asche: https://krautjunker.com/?s=florian+asche
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Anmerkungen

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