Dornenkronenseestern (Acanthaster planci)

 

Wenn du in die Unendlichkeit schaust, was siehst du? Deinen Rücken!

Tristan Tzara

 

von Caspar Henderson

William Burroughs, Junkie, Trinker und Schriftsteller, der seine Ehefrau auf dem Gewissen hatte, erzählte gern die Geschichte von einem Mann, der seinem After beibringt zu sprechen*. Die Körperöffnung gewinnt schließlich Kontrolle über sein Leben und bringt ihn um. So Absonderliches wie Burroughs Fantasie bietet die Tierwelt schon lange. Man nehme den Dornenkronenseestern. Anstelle eines Kopfes trägt er auf dem Leib einen Anus, und der Mund – ein rundes Loch mit einwärts gerichteten Zähnen im Zentrum sternförmig abgehender Arme – sitzt an der Unterseite.

Diese Position ist gar nicht so abwegig, wie man denken würde. Mund unten und Anus oben funktioniert perfekt, wenn man Dreck vom Meeresboden futtern möchte. So war es bei den Ahnen des Dornenkronenseesterns einmal Usus. Viele seiner fernen Verwandten, darunter Seesterne und Seegurken, pflegen diesen Lebensstil auch heute noch (Auf der Tiefseeebene, der sogenannten Tiefseewüste, grasen große Herden von Seegurken unablässig den Müll ab, der von oben herabfällt. In einem Himmel für Seegurken betätigen sie sich als Fäkaliensammler der Tiefe). Anders als diese Tiere hat der Dornenkronenseestern allerdings Appetit auf Lebendfleisch entwickelt. Gewandet in leuchtende Violett-, Blau- Orange-, Rot-, Weiß- und Grautöne und ausgestattet mit sieben bis dreiundzwanzig (aber normalerweise um die fünfzehn) Strahlen um eine Zentralkuppel, strotzt er vor giftigen Stacheln – eine Untersee-Version von Pinhead, dem extradimensionalen Wesen aus dem Horrorstreifen Hellraiser.

Viele Kreaturen der tropischen Korallenriffe, dieser Gärten irdischer Freuden, haben deutlich mehr Charme als der Dornenkronenseestern (Pfeffers Prachtsepien, die sich zur Warnung wahlweise violett und pink färben, während sie wie ein Schauspieler im Noh-Theater posieren, gehören zu meinen Lieblingsarten). Doch wenige lösen in uns eine so faszinierende Unruhe aus wie der Dornenkronenseestern, und wenige entwickeln, sobald sie einmal ans Werk gehen, beim Vertilgen und Vernichten ähnliche Kraft wie wir.

Angesichts unserer offensichtlichen Unterschiede mag diese Behauptung ein wenig abwegig erscheinen. Der Dornenkronenseestern kriecht über das Riff auf Tausenden winzigen Podia-Füßchen, durch die er auch atmet und die wie hydraulische Teile ausfahren und sich zusammenziehen, indem sie sich mit Flüssigkeit aus Reservoiren im Innern der Arme füllen oder leeren. Mit der Geschwindigkeit eines Minutenzeigers dahingleitend (etwas schneller, wenn er einen Zahn zulegt), bewegt er sich eher wie ein Tausendfüßler als (wie man annehmen könnte) wie eine abgetrennte menschliche Hand, die mit ihren Fingern über den Meeresboden krabbelt. Sobald er sich an seiner Leibspeise, frisch sprießenden Korallen, in Position gebracht hat, schlingt der Dornenkronenseestern seine Arme in einem Todesgriff um sein Objekt der Begierde, presst einen seiner zwei Mägen durch den Mund nach außen und speit Verdauungssäfte über die Polypen, wodurch sie sich in eine zähflüssige Masse verwandeln, die er in sich einsaugt. Wenn sich Dornenkronenseesterne in Schwärmen über die Fläche ergießen, können sie ein Riff in wenigen Tagen zugrunde richten. In dieser Umgebung ereignete sich eine wahre Geschichte, die den vielen B-Movies mit Monstern aus der Tiefe gar nicht so unähnlich ist.

Bis in die sechziger Jahre hatten nur wenige Meeresforscher einen Dornenkronenseestern zu Gesicht bekommen, geschweige denn studieren können. Man wusste wohl, dass er Korallen fraß, hielt das aber für Ausnahmen. Doch dann wurde beobachtet, wie sich eine ganze Plage durch das Riff um eine kleine Sandinsel im australischen Great Barrier Reef fraß, die bei Touristen sehr beliebt war. Am Ende des Jahrzehnts folgten Berichte über heftigen Befall in großen Teilen des Great Barrier Reefs sowie über Angriffe auf viele andere Riffe im gesamten Indopazifik.

Die Presse sah die Apokalypse nahen. Im Juli 1969 berichtete die New York Times, dass der Dornenkronenseestern die Nahrungsmittelversorgung und sogar physische Existenz vieler tropischer Inseln bedrohte. Man zitierte den Naturschützer Richard Chesher : »Wenn die Seesternpopulation weiter unkontrolliert wächst, könnte das in eine Katastrophe führen, wie sie es in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben hat.« Im November desselben Jahres berichtete The Economist, dass Korallenriffe quer durch den Pazifik »zusammenbrechen, und die Ökonomien ganzer Regionen ihnen nachfolgen könnten«.

Es sah gerade so aus, als schlüge die Natur zurück, wie es Umweltschützer wie Rachel Carson und Barry Commoner vorausgesagt hatten: In ihrer Rücksichtslosigkeit störten die Menschen das ›Gleichgewicht der Natur‹ und verwandelten den bis dahin unbekannten Dornenkronenseestern in ein unbändiges Raubtier, indem sie alles, was ihn bis dahin in Zaum gehalten hatte, vernichteten und die chemischen Gleichgewichte und die der Nährstoffe im Meer veränderten. Am Ende konnte die Katastrophe abgewendet werden: Die Dornenkronenseesternpopulationen fielen in sich zusammen und viele Riffe erholten sich komplett. Die Menschen lernten die Widerstandsfähigkeit von Korallenriffen neu zu schätzen und erkannten, wie lückenhaft unser Wissen über sie ist.

Doch wie in vielen B-Movies (und nicht zu vergessen frühmittelalterlichen Epen wie Beowulf) lauerte, den Blicken entzogen, noch größerer Horror. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts warnten Wissenschaftler, dass ohne massive Reduzierung der Treibhausgasemissionen globale Erwärmung und Versauerung der Meere die der Erde verbleibenden Korallenriffe binnen eines Jahrhunderts und für unbestimmte Zeit verwüsten werden.

Seit unseren frühen Tagen sind wir Menschen mit den Geräuschen und Gerüchen und dem Anblick von Wäldern und Savannen, Flussufern und Meeresküsten eng vertraut; über Hunderttausende von Jahren haben wir ihre Launen und Beschaffenheit hautnah erlebt, eingeatmet und gespürt. Im Vergleich dazu ist unser Sinn für die tropische Unterwasserwelt erst recht jung und oberflächlich. Es stimmt schon, dass die menschlichen Gemeinschaften, die nahe den Riffen leben, seit Jahrtausenden sehr gut in der Lage waren, viele verschiedene Fischarten und andere in den Riffen beheimatete Tiere zu identifizieren. Es stimmt ebenfalls, dass wenigstens seit Hunderten von Jahren einige Gemeinschaften auch verstanden haben, dass die Riffe vor Übernutzung geschützt werden müssen, sodass sie zu gewissen Zeiten des Jahres nicht fischten, damit sich die Bestände erholen konnten. Viele haben Riffe auch als Orte der Magie, des Mythos und der Schöpfung erfahren. Doch ein allgemeiner Sinn für die große Schönheit und Qualität von Korallenriffen, den auch viele nicht in ihrer Nähe lebende Menschen teilen, kam erst im Zuge des wissenschaftlichen Wandels der letzten 150 Jahre auf.

(…)

 

* Burroughs Geschichte hat einen wahren und lustigeren Vorläufer in Gestalt des Joseph Pujol (1857–1945). Pujol, der als ›Le Petomane‹ (der Pupsomane) zu Berühmtheit kam, konnte durch seinen Allerwertesten Luft einziehen und dann in zahlreichen Klangvariationen kontrolliert wieder entlassen. Bei seinen Auftritten vor Mitgliedern des Königshauses und den angesehensten Bürgern seiner Zeit gab er unter anderem ›O Sole Mio‹ und die Marseillaise zum Besten, nicht zu vergessen eine Impression des San-Francisco-Erdbebens von 1906. Angewidert von der Unmenschlichkeit des Ersten Weltkriegs zog sich Pujol von der Bühne zurück und arbeitete für den Rest seines Lebens in einer Keksfabrik.

 

Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER existiert eine Gruppe bei Facebook.

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Dieser Beitrag beinhaltet nur die ersten Seiten des längeren Kapitels über den Dornenkronenseestern. KRAUTJUNKER kann und will nicht bemerkenswerte Bücher ersetzen, sondern auf sie aufmerksam machen. Wahre Monster wurde 2015 von der Stiftung Buchkunst als eines der schönsten deutschen Bücher ausgezeichnet.

wahre-monster-caspar-henderson

Ich danke dem Verlag Matthes & Seitz Berlin für die Erteilung der Rechte zur Veröffentlichung dieses Beitrages und empfehle einen Blick in das Sortiment außergewöhnlicher Bücher.

Titel: Wahre Monster: Ein unglaubliches Bestiarium

Verlag: Matthes & Seitz Berlin

Autor: Caspar Henderson

Copyrights: (c) Caspar Henderson & (c) der deutschen Ausgabe: MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH

Herausgegeben und gestaltet: Judith Schalansky bei Matthes & Seitz Berlin 2014

Übersetzung aus dem Englischen: Daniel Fastner

Illustrationen: Pauline Altmann und Judith Schalansky

Verlagslink: http://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/wahre-monster.html

Autorenlink: http://barelyimaginedbeings.com/ 

Stiftung Buchkunst zu Wahre Monster: http://www.stiftung-buchkunst.de/de/die-schoensten-deutschen-buecher/2015/alle-praemierten.html?id=156

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