Der Bär – Geschichte eines gestürzten Königs

Buchvorstellung

Unseren ersten Bären begegnen wir Europäer des 21. Jahrhundert in unseren Kinderzimmern als kuschelige Stoffpuppen zum Liebhaben. Das war während der längsten Zeit, seitdem wir Homo sapiens ca. 40.000 v. Chr. Europa besiedelten, ganz anders. Traf ein Jäger und Sammler in der Wildnis auf einen Braunbären – oder gar einen Höhlenbären (siehe: https://krautjunker.com/2018/02/08/hoehlenbaer/) – war dies eine dramatische Situation. Die Bären waren seinerzeit größer und Braunbären im stärkeren Maße Fleischfresser, sie standen in Konflikten wie Menschen auf ihren Hinterbeinen, verfügten über Kraft sowie Mut und unsere Jagdwaffen waren weit weniger mächtig als heute.

Der französische Historiker Michael Pastoureau beschreibt in Der Bär – Geschichte eines gestürzten Königs die spannende und emotionale Beziehung zu diesen Tieren, deren Lebensraum, Ernährung, Gestalt und Dominanz uns so sehr ähnelt, dass sie uns nicht kalt lassen. Ja, laut vielen Mythen standen Bären und Frauen in dem Ruf, sich gegenseitig sexuell zu begehren und wilde Kinder zu zeugen.

Auch wenn die Quellenlage unsicher ist und Prähistoriker dies kontrovers diskutieren, versucht der Autor Belege zu finden, dass schon im Paläolithikum eine symbolisch-magische Beziehung zu den Bären begann. Bären standen zwar nicht im Mittelpunkt des künstlerischen Bestiariums, aber die Tiere wurden in einer größeren Vielfalt von Posen abgebildet und in einigen Höhlen fanden Archäologen Arrangements von Bärenschädeln, die auf Ritualhandlungen hinweisen. Viele Höhlen wurden über Jahrtausende nacheinander und abwechselnd von Bären und Menschen genutzt. Bis in die Neuzeit – sind weltweit Bärenkulte bei indigenen Völkern der nördlichen Hemisphäre belegt.

Um diese Waldgötter nicht zu provozieren und anzulocken, war in den indoeuropäischen Sprachen ihr ursprünglicher Name tabuisiert und ist verloren gegangen. Vermutlich wurde er um die Wortwurzel *rks, *arjs- oder *orks- gebildet, die lautmalerisch das Brummen des Tieres evoziert, jedoch auch auf die Vorstellung des Lichts verweist, da der Bär in Verbund zum Nachthimmel stand. Die Lappen Skandinaviens bezeichnen ihn mit Namensvermeidungen und Ersatzbeschreibungen als „den Großvater“ oder „den Alten mit dem Pelz“. Die Slawen sprachen vom „Honigmeister“, bei den Balten war er „der Schlecker“ und für die Germanen war er zumeist schlicht „Braun“, woraus im Deutschen „Bär“ und im Englischen „Bear“ entstand.

In der Antike wurden Mythen schriftlich fixiert, die aus archaischeren Zeiten stammen. Bei den alten Griechen war der Bär das Attribut mehrerer Gottheiten, hauptsächlich aber der großen Jagdgöttin Artemis, Zwillingsschwester Apollons, Tochter des Zeus, Göttin des Mondes, des Waldes und der Berge und somit auch Schutzgöttin der wilden Tiere. Eine der Sagen handelt von der Entstehung der Sternbilder des Großen und des Kleinen Bären. Immer wieder gibt es zwei Grunderzählungen, die durch alle Epochen im Legendenschatz bewahrt bleiben: Die monströse und manchmal fruchtbare Liebe zwischen einer Frau und einem männlichen Bären (Die Schöne und das Biest) sowie mütterliche und beschützende Bärinnen, welche Menschenkinder aufnehmen und nähren. Wurden die Kinder groß, entwickelten sie sich vielfach zu Helden und Begründern von Herrschergeschlechtern, denn man assoziierte die Figur des Königs bis in das frühe Mittelalter mit dem Bären, weil dieser der König unter den Tieren war.

Immer verkörperte der Bär Stärke und Macht, Kampfgeist und Souveränität.

Für die Kelten, war der Bär ein Herr. König Artus, neben Karl dem Großen der wichtigste Herrscher in den Legenden des Mittelalters, führt einen Namen, der identisch mit dem des Braunbären (Ursus arctos) ist, welcher im Irischen mit dem Wort art, im Gallischen mit artos, im Walisischen mit arth und durch arzb im Bretonischen Bezeichnet wird. In der walisischen und irischen Mythologie scheint er ein Bärenkönig oder eine bärenhafte Gottheit gewesen zu sein.

Bei den Germanen galt der Bär mehr als Krieger. Angeblich war für junge Männer der Übergang in die Welt der Erwachsenen mit dem Kampf gegen einen Bären und dessen Tötung verbunden. Es handelte sich mehr um ein Initiationsritual als eine Jagdzeremonie. Der junge Krieger verfügte lediglich über einen Dolch und musste sich von dem riesigen Raubtier an die Brust pressen lassen, um ihm die Klinge in den Leib rammen zu können. Dieses Ritual wird von Tacitus in seiner berühmten Schrift aus dem Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. nicht erwähnt, findet sich aber bei dem römischen Senator und Historiker Ammianus Marcellinus in den gegen 375 verfassten Res Gestai. Später deuten verschiedene Sagas und Erzählungen aus Island und Skandinavien auf ähnliche Rituale hin. Der große Gelehrte Saxo Grammaticus (ca. 1150 bis ca. 1215) schildert in seinen Gesta Danorum wie ein blutjunger Mann namens Skioldius während einer Jagd einen riesigen Bären mit bloßen Händen bezwang. Durch diese Tat errang er Ruhm und bestieg später als vierter König den Thron Dänemarks.

Weiterhin sind in vielen Texte und Dichtungen Praktiken überliefert, mittels derer Krieger vor dem Kampf versuchten, sich die Kräfte und den Mut dieser Raubtiere anzueignen. Bei totemistischen Ritualen wurden von den Kämpfern vor der Schlacht das Blut und das Fleisch von Bären verzehrt, um eine Verwandlung in Berserker zu vollziehen. Mehrere Autoren führen aus, wie sie vor dem Kampf in Trance das Brummen und den Gang von Bären imitierten. Der große isländische Schriftsteller Snorri Sturloson schrieb in seiner um 1225 verfassten Ynglinga Saga, dem ersten Teil seiner Heimskingla Saga: »Nackt ziehen sie in die Schlacht, ohne Rüstung oder Brustpanzer, einfach nur angetan mit einem Bärenhemd und, rasend wie wilde Tiere, beißen sie in ihren Schild, vertilgen alles auf ihrem Weg, schlachten sie Mensch und Tier dahin; Eisen und Feuer vermögen nichts gegen sie, sie sind unbesiegbar.«

Ähnliche Geschichten, die mit schamanischen Praktiken vergleichbar sind, wurden seit der Antike in ganz Europa erzählt und belegen, wie stark die christliche Kultur, die in der Tradition von Bibel und griechisch-römischer Antike stand, ebenso lange von „barbarischen“ Traditionen durchdrungen war.

Bärensöhne und Bärenbezwinger waren Helden und begründeten Dynastien wie die Dänische. In Norditalien behauptete die Familie der Orsini, die drei Päpste und zahlreiche Kardinäle stellten, von einem Kind abzustammen, welches von einer Bärin aufgenommen und mit ihrer Milch großgezogen wurde.

Seit der Karolingerzeit bekämpfte die Kirche den Verzehr von Bärenfleisch, der allzu offensichtlich auf heidnischem Brauchtum beruhte. Laut Pastoureau waren die Prälaten und Kleriker aus dem Umfeld Karls des Großen erklärte Feinde des Bären, da die heidnischen Kulte mit ihren frenetischen und dämonischen Formen der Christianisierung entgegenstanden. Sie verboten Kulte, bei denen man sich als Tier verkleidete und gaben ihnen christliche Formen. So war der elfte Elfte ursprünglich der Tag, an dem der Bär den Winterschlaf begann, die Bauern ihre Arbeit unter freiem Himmel einstellten, man seine Schulden bezahlte, ausschweifende Gelage feierte und Bären-Rituale aufführte.

Der Bär verlor durch die Kirche seine Ehre, er wurde zu einem gefährlichen und gefürchteten Tier. Man unterstellte ihm abnorme Sexualpraktiken, er symbolisierte die Todsünde der Wollust, man verspottete seine Verfressenheit, er schien sogar ein Geschöpf des Teufels zu sein. Nicht so sehr aufgrund seiner Stärke, sondern weil er auf eine merkwürdige und beunruhigende Weise wie ein Zerrbild wilder Menschen wirkte. Haarig, raubgierig und unkontrolliert seinen Trieben unterworfen.

Seinen Platz als Symbol der Herrscher in Heraldik und Erzählungen nahm der Löwe ein. Schließlich, nachdem seine Population durch regelrechte Vernichtungszüge verringert wurde, setzten Prälaten und Kleriker angeblich alles daran, ihn zu erniedrigen und lächerlich zu machen. Gefangen, mit gebrochenem Willen, herausgerissenen Fangzähnen und Krallen begleite das Tier die Jongleure und Gaukler von Schloss zu Schloss, von Jahrmarkt zu Jahrmarkt und büßte nach und nach seine Stellung als bewundertes Tier ein. Um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert war der Bär der gestürzte König, eine täppische Witzfigur, die für Jähzorn, Wollust, Verfressenheit, Dummheit und Faulheit stand.

Die Zukunft der Bären malt der Autor in den schwärzesten Farben. Seiner Ansicht nach werden sie, gleich ob Schwarz-, Braun- oder Eisbären, trotz aller Artenschutzmaßnahmen in freier Wildbahn nur noch wenige Jahrzehnte überleben.
»Indem er [der Mensch] den Bären, seinen Artverwandten, seine Mitkreatur, seinen ersten Gott tötete, hat der Mensch bereits vor langer Zeit auch sein eigenes Gedächtnis ausgelöscht und sich mehr oder weniger symbolisch selbst getötet. Und nun ist es zu spät, um noch die Hoffnung hegen zu können, es ließe sich alles wieder ungeschehen machen.«

Mein Resümmee? Das Buch ist gut lesbar, wenn auch nicht so glänzend geschrieben wie die Texte einiger britischer Historiker.
Die erste Hälfte fand ich weit stärker als die zweite, denn einen regelrechten Kampf der Kirche gegenüber der Spezies der Bären konnte ich nicht nachvollziehen. Wurde in den theologischen Seminaren der Universitäten „Bärenhass“ gelehrt? Vermutlich reichte es, dass der Bär seinen Status als Waldgott verlor, damit die Menschen vor allem mit Hass auf ihren großen Fressfeind und Konkurrenten reagierten. In einem Blogbeitrag habe ich schon mal Friedrich Gerstäckers Buch Streif- und Jagdzüge durch die Vereinigten Staaten Nord-Amerikas erwähnt. Der für seine Zeit sehr gebildete, kultivierte und tolerante Autor versuchte während seiner Reise von 1837 bis 1843 grundsätzlich jedes größere Raubtier zu töten. Dafür musste es ihn weder bedrohen noch reizte ihn immer die Trophäe. Auch Religion spielte keine Rolle. Raubtiere waren bedrohliche Feinde, die störten. Punkt.
In Peter Ackroyds Buch London – Die Biographie steht die Schilderung einer ekelhaften Quälerei eines blinden (!) Bären aus dem 17. Jahrhundert. »Es geschieht dies durch fünf oder sechs Männer, die ihn im Kreis umstehen und ihre Peitschen erbarmungslos gegen ihn schwingen, da er ihnen wegen der Kette nicht entkommen kann: Er wehrt sich mit aller Kraft und Geschicklichkeit, wobei er sich auf jeden stürzt, der in seine Reichweite kommt und sich nicht flink genug zurückzieht, ihm die Peitsche aus den Händen reißt und sie zerbricht.« Religiöse Hintergründe kann ich bei dieser Untat nicht erkennen.
Pastoureaus pessimistischen Schluss mag ich ebensowenig teilen. In weiten Teilen der Welt sind die Bärenpopulationen größer und stabiler als vor fünfzig, sechzig Jahren. Wir leben in einer Welt mit steigendem Wohlstand und größerem Wissen um ökologische Zusammenhänge. Auch sind in unserer Epoche Jäger nicht die Vernichtungsfeinde von Bären. Es ist tatsächlich so, dass es großen Raubtieren zum Vorteil gereicht, wenn sie als legale Jagdbeute deklariert werden. Ab diesem Zeitpunkt verwandeln sie sich für die Einheimischen von Schädlingen in Devisenquellen, die man pflegt, um nicht die Gans zu schlachten, die goldene Eier legt. Wo in Afrika die Jagd auf Löwen verboten ist, werden sie gewildert und verschwinden. Wo sie legal ist und klug organisiert wird, blühen die Bestände. Dies ist vielfach belegt und keine Polemik.
Auch wenn mich der modische Antiklerikalismus und Ökologismus des Autoren stören, überwiegen die Pluspunkte dieses Buches. Die Fülle von interessanten Fakten und Thesen hat mich extrem fasziniert und beschäftigt mich weiterhin.

Zum Thema Bären werde ich in Zukunft noch weitere Veröffentlichungen bringen. Für Kritik und Hinweise hierzu bin ich meinen Lesern dankbar. Lang lebe Meister Petz!

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Verlagsinformation zum Autor:

Abb.: Michael Pastoureau im Jahr 2011; Bildquelle: Wikipedia

Der Historiker Michel Pastoureau (*1947) ist seit1982 Directeur d’Etudes an der Ecole Pratique des Hauses Etudes (Sektion IV), wo er den Lehrstuhl für mittelalterliche Symbolik bekleidet. Darüber hinaus ist er seit zwanzig Jahren Directeur d’Etudes associé an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales und lehrt schwerpunktartig Symbolgeschichte der europäischen Gesellschaften.

Michael Pastoureaus erste Arbeiten galten vornehmlich mittelalterlichen Wappen, Siegeln und Emblemen. Er trug entscheidend zur Rehabilitierung der Heraldik bei, die inzwischen wieder als vollwertige historische Disziplin gilt. Ab den 1980er Jahren konzentrierte er sich in seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit vor allem auf die Geschichte der Farben. In diesem noch jungen Forschungsbereich ist er anerkanntermaßen die international führende Kapazität.
Daneben gilt sein Forschungsinteresse der Geschichte der Tiere, der Bestiarien und der Zoologie, vornehmlich des Mittelalters.

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Anmerkungen

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*Titel: Der Bär – Geschichte eines gestürzten Königs

Autor: Michel Pastoureau

Übersetzung:Sabine Çorlu, 2008

Verlag: Wunderkammer Verlag

ISBN: 978-3939062097

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