Vom ersten Male (2/2)

Dieser Text ist die zweite Hälfte des Kapitels Vom ersten Male über berittene Jagden in Großbritannien. Der erste Teil ist dieser: https://krautjunker.com/2020/11/22/vom-ersten-male-1-2/

von Christian Carl Willinger

Am nächsten Tag ging es schon sehr früh los, weil wir etwa vierzig Minuten bis zum meet zu fahren hatten. Diesmal ritt ich mit den Cottesmore. Mein Pferd war ein großer Brauner, dessen Namen mir nicht in Erinnerung geblieben ist. Er hatte angenehme Gangarten, war schnell und trotzdem pullte er nicht, dafür hatte er mit dem Springen gar keine rechte Freude, nicht einmal die Sporen konnten ihn dabei aufheitern.

Es war an diesem Tag anfangs noch kälter als tags zuvor, aber die Sonne schien oft und brachte bald etwas Wärme. Wir ritten von Anfang an sehr flott, auch viele Asphaltwege auf und ab, selbst im Galopp, so daß ich mich verwunderte, daß keines der Pferde jemals rutschte. Wir waren sehr viel in Bewegung, und nach drei Stunden ließen meine Kräfte nach. Doch als die Meute in full cry einen Fuchs knapp verfolgte, war jede Müdigkeit wie verflogen, und weiter ging es in flottem Tempo. Und wieder dachte ich: „Soviel bin ich noch nie im Leben galoppiert“, aber es sollte noch schlimmer kommen, drunten auf Exmoor wo das Reiten wirklich hart und die Jagd eine Herausforderung der besonderen Art ist. Hier in Leicestershire war die Landschaft geprägt von riesigen, quadratischen Feldern und Wiesen, abgetrennt durch Hecken, durchsetzt von einzelnen, streifenförmigen Dickungen mit Baum- und Buschbeständen, die ganze Landschaft sanft geschwungen, mit nur wenigen steileren Einschnitten. Es gibt hier keine großen Verkehrsadern, nur enge, kaum befahrene Sträßchen und winzige Dörfer, oft nicht mehr als fünf uralte Backsteinhäuser, alles sauber und gepflegt. „Our England is a garden“, hat Kipling einmal gesagt, und dies trifft nicht nur auf das dafür bekannte Südengland zu, sondern auch auf Leicestershire: eine äußerst gepflegte Kulturlandschaft und eben deshalb wie gemacht für die Fuchsjagd. Das ist auch der Grund, warum hier die berühmtesten Meuten Englands zu Hause sind: nirgends sonst kann man so schnell und zugleich so gepflegt jagdreiten. High Leicestershire, das heißt: die höchste Vollendung der Fuchsjagd.

Nach fünf Stunden flotter Jagd war ich doch etwas gezeichnet, und kein Fuchs war zur Strecke gekommen, obwohl zahlreiche Dickungen umstellt und durchstöbert worden waren. Das Feld verteilt sich dabei um eine Dickung, damit der Fuchs beim Verlassen derselben gesehen wird oder dieses sogar verhindert werden kann. „Tally ho over“, schreit man im ersteren Fall, „tally ho back“ im letzteren, schließlich zeigt man dem huntsman an, wohin der Fuchs gelaufen ist und wie viele Minuten seitdem vergangen sind.

An dieser Stelle möchte ich einmal auf den grundlegenden Unterschied zwischen hound und dog zu sprechen kommen. Nur Meutehunde sind hounds, alle anderen Hunde, auch die üblichen Jagdhunde, wie Retriever, Pointer, Setter, Schweißhunde, Erdhunde etc. sind dogs. Es gibt bekanntlich sechs Jagdhundegruppen: Schweißhunde, Laufhunde=Bracken, Stöberhunde, Vorstehhunde, Apportierhunde sowie Erdhunde. Die Meutehunde zählen zu den Bracken. Ein Meutehund ist in seinem ganzen Verhalten sehr viel wölfischer, sehr viel wilder und naturnäher als andere Hunderassen. Es besteht ein ausgeprägtes Sozialverhalten mit hierarchischer Strukturierung, und das ganze Leben spielt sich wie in einem Wolfsrudel immer in der Gemeinschaft ab. Nur so ist das faszinierende Zusammenspiel von mehreren Dutzend Hunden während der Jagd möglich.

Sehr müde und überaus glücklich: so würde ich mein Dasein am Ende dieser Jagd beschreiben. Aber ich will zugeben: es hat noch keinen Jagdtag in meinem Leben gegeben, an dem ich nicht ziemlich müde und glücklich gewesen wäre, auch wenn kein Wild zur Strecke gekommen ist.

Tags darauf fuhr ich zurück nach London, wo ich in der City einen Mietwagen übernahm, um nach Westengland in die Grafschaft Somerset zu fahren. Nun herrscht in England bekanntermaßen Linksverkehr, Lenkrad und Schalthebel befinden sich auf der falschen Seite, und London ist nicht gerade verkehrsarm. Gleich zu Beginn meiner Jungfernfahrt auf der Insel mußte ich feststellen, daß ich auf der vierspurigen Oxford Street in die falsche Richtung fuhr, ostwärts statt nach Westen. Es hätte alles so einfach sein können, wenn die Ausfahrt aus dem Parkhaus gleich auf die richtige Fahrbahn geführt hätte. So aber verschlug es mich, der ich mich anfänglich nur links abzubiegen getraute, in zahlreiche Gassen, bis ich mich schließlich immer mehr verfuhr und schon eine halbe Stunde im Gewirr des Großstadtverkehrs umherirrte. Ich beschloß nun, systematisch vorzugehen, am Ende jeder Straße den Stadtplan auf meinem Schoß zu konsultieren und streng nach Plan zu fahren. Und siehe da, nach einer weiteren halben Stunde war ich auf der Autobahn, noch dazu auf der richtigen. Damals steckte das Navi eben noch im Kopf. Der Rest war einfach. Vier Stunden später kam ich in Exford an und stieg im Crown Hotel ab.

Abb.: Das Crown in Exford, zur Jagdzeit für viele Jahre des Autors Domizil; Bildquelle: Christian Carl Willinger

Exford ist ein winziges, romantisches Dörfchen inmitten von Exmoor, geographisches wie kulturelles Zentrum desselben, auch das Zuhause der bedeutendsten und traditionsreichsten Hirschmeute der britischen Inseln: the Devon and Somerset Staghounds. Das im Ortskern gelegene Crown ist ein kleines, aber gutes Haus, ein traditionelles field sports hotel, an den Wänden unzählige, wunderbare Drucke von Fuchs-, Hirsch- und Fasanenjagden, mit einem gemütlichen Kamin, überall alte englische Stilmöbel, mit erstklassigem Service und einem mehrfach ausgezeichneten Restaurant, das seinem Ruf tatsächlich gerecht werden sollte. Das Gerücht, daß Englands Küche ungenießbar sei, ist ein Relikt aus früheren Zeiten, wo es feine Küche nur in den besten Häusern gab, dort eben, wo man einen französischen Koch hatte. In den 90er Jahren erfolgte jedoch auf der Insel die einzige Revolution ihrer Geschichte, nämlich die kulinarische, so daß man mittlerweile selbst in einfachen, dörflichen Inns und Pubs schmackhafte Mahlzeiten vorgesetzt bekommt, die einen Vergleich mit unserer dörflichen Küche nicht zu scheuen brauchen, während die besseren Häuser sich gegenseitig mit Spitzenleistungen zu übertrumpfen suchen.

Das meet am nächsten Morgen war bei Larkbarrow Corner, drei Meilen nordwestlich von Exford, um 11 Uhr. They meet at eleven: das gilt für jede Jagd in England mit Ausnahme des cub-hunting. Larkbarrow Corner ist schon ziemlich hoch gelegen, jedenfalls in Relation zum übrigen Land, und deshalb hielt sich der Nebel hartnäckig, aber es war warm, sicher über 15 Grad. Wir mußten eine Stunde zuwarten, bis sich der Nebel gehoben hatte. Von Anbeginn an wurde ziemlich schnell geritten, aber gesprungen wird hier nicht. Never jump on Exmoor, das ist eine Grundregel, der Boden ist zu unberechenbar. Die Landschaft von Exmoor ist eine wellige Hügellandschaft, mit Hochmooren und Wiesen bedeckt und mit teils tiefen, sogar schroffen Taleinschnitten. Erst kürzlich war Mr. Dibble, mein Pferdevermieter, bei der Jagd infolge eines Fehltritts seines Pferdes hier dreißig Meter in die Tiefe gestürzt und hatte sich die Schulter und zahlreiche Rippen gebrochen. Der Moorboden war stellenweise tief, so daß die Pferde schon mal bis zu den Sprunggelenken einsinken konnten. Das ganze Moor war von Farn – im Englischen bracken – und Heidekraut – heather – bedeckt, welche um diese Jahreszeit, Ende Oktober, braun und welk waren. Weite Teile dieses Hügellandes erinnerten mich stark an die Lammermuir Hills in den schottischen Lowlands.

Mein Pferd war ein ziemlich großer Brauner namens Stroller, der eine mächtige Galoppade und einen raumgreifenden Trab zeigte. So trittsicher er sich erwies und so angenehm er in flottem Tempo zu reiten war, hatte er doch die unangenehme Eigenschaft, daß er statt Schritt zu gehen lieber in einem extrem kurzen Trab dahinzottelte und daß er, wenn man ihn doch zum Schritt parierte, einem andauernd die Zügel aus den Händen (oder den Reiter aus dem Sattel) riß, etwas, das er auch im Stehen tat, wenn man ihn nicht in aller Ruhe fressen ließ.

Immer wieder nieselte es, manchmal in den höheren Lagen kamen wir wieder in Nebel, und man mußte aufpassen, daß man beim Durchqueren der Gatter nicht zurückblieb, denn im Nebel hätte man den Anschluß an das Feld leicht verloren. Mit der Zeit besserte sich das Wetter, und wir legten weite Strecken zurück, durchquerten zahlreiche Täler und Flüsse, ritten Abhänge im Galopp hinunter und hinauf, nur wenn es besonders steil war, auch im Trab. Einmal nur hatten wir den Hirsch in Anblick.

Abb.: Ein „check“: Maurice und Diana Scott besprechen die Lage; Bildquelle: Christian Carl Willinger

Weißer Schweiß bedeckte Strollers Hals und Schultern, so daß die Gummizügel glitschig wurden und mir durch die Fäuste glitten und ich sie mir um die Hände wickeln mußte. Bei den vielen Gattern, die wir durchritten, war es mühsam, die Zügel und Hilfszügel – Stroller hatte eine Aufziehtrense mit Trensenzügeln und Aufzieh-Hilfszügeln – jedesmal wieder aufzunehmen, nachdem man das Gatter aufgestoßen hatte. Die Hilfszügel benötigte ich ohnehin nie und waren nur eine lästige Unannehmlichkeit. Nach vier Stunden tat mir alles weh: die Finger, die Waden, die Knie, die Knöchel, der Rücken, und dennoch ging es weiter und weiter. Schließlich konnte man das Meer sehen, wir hatten schon siebzehn Kilometer Luftlinie zurückgelegt. Dreißig Kilometer mochten das wohl sein, „as hounds ran“. Im Galopp konnte ich mich kaum mehr in anständiger Manier auf dem Pferde halten, mußte mich am Hals abstützen, war völlig am Ende.

Die Jagd wurde nun etwas ruhiger, und nach einer weiteren Stunde wurde sie abgebrochen, ohne daß man den Hirsch gestellt hatte. Noch mußte ich eine weitere Stunde auf der schmalen Landstraße weiterreiten, bis mir der Pferdehänger entgegenkam.

Ein doppelter Gin&Tonic, ein heißes Bad und ein vorzügliches Dinner, zu dem ich mir eine Flasche Médoc aus dem Hause Rothschild gönne, beenden den Tag, der wohl als einer der denkwürdigsten in die sonst so langweilige Geschichte meines Lebens eingeht. So muß Jagd sein: fair, sportlich, fordernd, Grenzen auslotend, dort, wo die Natur wild und schön und einsam ist.

Freitag war Pause und ich fuhr Exmoor mit meinem Wagen ab, besuchte das wunderbare Tal des Heddon River, und spazierte vom malerischen Hunter’s Inn zu Heddon’s Mouth, wo der kleine Fluß ins Meer mündet. Auf einem großen Stein am Strand sitzend betrachtete ich die Wogen, wie sie sich am Gestade brachen, und lauschte dem Tosen der See.

Das ist das Land, dachte ich, das oder die Wildnis Afrikas, wo ich einst sterben möchte, wo ich begraben sein möchte.

Abb.: Eine andere Jagd. Oft gequertes Land: das Tal des River Barle kurz vor Simonsbath; Bildquelle: Christian Carl Willinger

Die einzigen Augenblicke, da ich in meinem Leben vollkommen glücklich war, waren jene der Jagd. Und zu Pferde, auf Reisen, schreibend. Als Liebender und Geliebter kannte ich auch die samtene Tiefe der Geborgenheit im Du. Aber jenes unbändige Gefühl des absoluten Glücks, der triumphalen Zufriedenheit, der granitenen Verbundenheit mit den chthonischen Dimensionen des Daseins, dieses kosmische Glück des Jagenden, wenn er eins wird mit der Natur, wenn er zurückkehrt zur Wiege des Seins, schließlich wenn er über Leben und Tod entscheidet, dieses unendliche, dieses azurne Glück des Jägers kennt nichts sonst, was ihm gleicht. Es ist dieses Glück, für das ich lebe.

Und wenn ich einst sterbe, dann will ich im Bewußtsein gehen, daß ich alles erlebt habe, wovon ein Jäger träumen kann. Und daß meine Seele an einem Ort ruht, wo sich der Geist der Jagd verewigt hat.

An meinem letzten Tag auf Exmoor hatten die Götter alles versucht, um ihn mir unvergeßlich werden zu lassen. Es war strahlend blau und sonnig, sehr warm, bestimmt an die zwanzig Grad, und Diana sollte uns hold sein. Das meet war bei Comer’s Cross, zwei Meilen südlich von Exford. Schon am Abend zuvor hatte der harbourer[1] den Hirsch bestätigt, hatte seinen Einstand am Morgen nochmals angepirscht, beim Umschlagen des Einstands anhand der Fährten oder besser anhand des Fehlens selbiger festgestellt, daß der Hirsch sein Bett noch nicht verlassen hatte. Beim meet wird die Lage besprochen, der huntsman mit der Position des Hirsches vertraut gemacht. Nun führt er die tufters[2], dreieinhalb bis fünfeinhalb Koppeln der erfahrensten Hunde hinaus, um den Hirsch hoch zu machen (to rouse), ihn von anderem Wild zu isolieren und ins offene Gelände zu treiben.

Abb.: Das Feld wartet, bis die „tufters“ den Hirsch in den Talwäldern hochgemacht haben; Bildquelle: Christian Carl Willinger

Das Feld ist heute sehr groß, wohl an die hundert Reiter, weil der Tag so schön und noch dazu der vorletzte Samstag auf den Herbsthirsch ist. Wir stehen auf einer Anhöhe und verfolgen das tufting drunten im Tal.

Sobald der Hirsch im Freien ist, werden weitere sechs oder sieben Koppeln Hunde geholt und auf die Fährte gesetzt. Eine zu große Zahl von Hunden beim tufting würde nämlich dazu führen, daß einzelne Gruppen von Hunden die Witterung verschiedener Stücke Wilds aufnähmen und jede Gruppe einem anderen Stück folgte. Die Arbeit der Hunde funktioniert nämlich so, daß die Hunde unabhängig voneinander die Dickung durchstöbern, bis ein Hund als erster die Witterung aufnimmt, spurlaut wird, dadurch die anderen Hunde auf sich lenkt, die dann, sobald sie die Witterung haben, einstimmen und sich dem Erstling anschließen. Bei zu vielen Hunden und mehreren Stücken Wild kommt es auf diese Weise leicht zum splitting in mehrere kleinere packs. Es ist die hohe Kunst des huntsman, die Hunde dabei so zu dirigieren, daß sie die Witterung des bestätigten und nicht die eines anderen Stücks aufnehmen.

Als nun die anderen Hunde auf die Fährte gesetzt wurden – der Hirsch erzielte in der Zwischenzeit einen gehörigen Vorsprung von sicherlich zehn bis zwanzig Minuten –, ging die Jagd in höllischem Tempo los. Die Täler umschlagend galoppierten wir der Meute nach, die sich lange drunten in der Tiefe aufhielt, wo der Hirsch in den Hangwäldern Deckung suchte. Das Feld hatte sich in mehrere Felder geteilt, die einen umschlugen das Tal rechts, die anderen links, und wieder welche ritten direkt hinunter zur Sohle. Auch das Feld, dem ich mich angeschlossen hatte, es war das rechte, ritt nun einen steilen Pfad die Hänge hinunter, durch den Wald, unten den Fluß durchquerend, als plötzlich der master wendete, und den ganzen Weg zurückgaloppierte, am Feld vorbei. Alle rissen die Pferde herum, und ich, der ich vorletzter gewesen war, befand mich nun an zweiter Stelle hinter dem master. Hinauf und hinauf ging es durch den Wald, und plötzlich hörte ich die Hunde, und da setzte der Hirsch auf die Lichtung vor uns, keine dreißig Schritt entfernt, in eleganten Sätzen über die Blöße wechselnd, ein Zehnender, grazil, wie es für englisches Rotwild typisch ist, ein unbeschreiblicher Anblick. Und kaum war er im gegenüberliegenden Dickicht verschwunden, kamen die Hunde, in full cry, und dahinter der huntsman in seinem scharlachroten Rock, mächtig ins Horn stoßend, und wieder dahinter der first whipper in. „Hounds to the right“, brüllte einer, und alle drängten ihre Pferde nach links, um die Hunde vorbeizulassen. „Den bekommen wir“, sagte hinter mir jemand in dezent konföderiertem Deutsch. Es war der Schweizer, der mit Frau und Tochter schon seit fünfzehn Jahren hierher zur Hirschjagd kam. „Ich habe gerade vor zwei Wochen am Arlberg einen Steinbock erlegt. Einen Achtjährigen. Grandioses Erlebnis“, erzählte er mir. Also gibt es doch noch Weidmänner von Format, dachte ich, und nicht nur Grünröcke, für welche die Jagd mit der Meute ein Greuel, ja ein Sakrileg ist.

Es gibt viele Jagdarten, für die ich offen bin, doch vier davon faszinieren mich besonders: die Pirsch, das Ausgehen der Spuren, die Suche mit dem Hund unter der Flinte und die berittene Meutejagd. Hätte ich die Möglichkeit gehabt, die Kunst des huntsman selbst zu erlernen und auszuüben, würde mir die Meutejagd wohl tatsächlich an vorderster Front stehen.

Der Hirsch ist schon längst wieder in der Dickung verschwunden, mit ihm die Meute. Es geht noch ein paarmal den Hang auf und ab, um dann oben oder unten der Meute längs des Tales zu folgen, die im Wald den Hirsch hetzt. Ein letztes Mal wird alles hektisch, das ganze Feld stürzt sich in die Tiefe, die Hunde haben den Hirsch gestellt, unten im Bach, sie verbellen ihn, und noch ehe wir die Stelle erreicht haben, hören wir den Schuß. Es ist vorbei. Drei Stunden, und nun ist alles zu Ende. Er liegt da, naß und klein, nicht mehr majestätisch, nicht mehr erhaben. Ich würde ihm gern den Letzten Bissen geben, dem tapferen kleinen König der Wälder, der so gut gekämpft hat, uns die Ehre gegeben hat, diesen Tag erleben zu dürfen, aber so ist es nicht Brauch hier.

Mir dagegen wird eine andere Ehre, eine besondere Ehre zuteil: als Gast dieser Jagd erhalte ich einen Lauf des Hirsches, slot genannt, und man wird ihn auf ein Brett samt Inschrift montieren: DSSH. Found: Bye Common. Taken: Hue Farm. Der Schweizer hat sich die Grandeln, tushes, auserbeten. Um das Geweih geht es hier nicht. Dieses erhält immer der Landeigentümer, auf dessen Grund und Boden gejagt wurde.

Jagd vorbei. Ich verlasse mein England mit Wehmut. Ja, mein England. Es ist mein England, und da ist nur mehr Südwest, das ewige blaue Südwest, das damit konkurrieren kann. Wo bin ich zu Hause ? Am wenigsten dort, wo das Schicksal mich hineingeboren.

Nun heißt es wieder warten, warten und dulden, bis zum nächsten Mal, da ich zur Jagd bin. Was mir bleibt, ist die Erinnerung. Und die Bücher. Zum Glück habe ich die Bücher. Ohne die Bücher und ohne das Schreiben wäre das Warten unerträglich.

Abb.: Old turf: herrliche Rasenflächen für endlose Galoppaden; Bildquelle: Christian Carl Willinger

[1]    to harbour = verbergen, Deckung bieten; hier: festmachen, lokalisieren, die Deckung/das Versteck ausfindig machen

[2]    tuft = Busch, Gebüsch; hier: to tuft = im Gebüsch jagen, Gebüsch durchstöbern

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Verlagsinformation über den Autor:

Abb.: Christian Carl Willinger

Dr. Christian Carl Willinger, Jahrgang 1962, studierte an der Universität Innsbruck Humanmedizin und bereiste von Jugend an zahlreiche Länder Europas, Afrikas und Asiens, seit 1990 vor allem mit der Büchse oder im Sattel.
Schon früh begann er seine Eindrücke aufzuzeichnen und durch vielfältige Lektüre zu vertiefen. Seine Interessen sind geprägt von Dualismen: Natur und Kultur, Askese und Genuß, Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften.

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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es nicht nur eine Facebook-Gruppe, sondern jetzt auch Outdoor-Becher aus Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: Good Sport & Fair Chase: Weidwerk im Geiste ritterlicher Jagdkultur

Autor: Christian Carl Willinger

Verlag: CCW-Verlag

ISBN: 978-3200033016

Mehr vom Autor: https://krautjunker.com/?s=Christian+Carl+Willinger

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