von Wolfgang Abel
In meiner Nachbarschaft herrscht die brutalstmögliche Idylle. Alle Bewohner im wehrfähigen Alter besitzen Motorsägen, entweder Stihl oder Husqvarna. Schienenlänge mindestens 40 Zentimeter, Leistung so von fünf PS aufwärts, laut Katalog geeignet zum „Dauereinsatz in der Starkholzernte“. Minderes Gerät führt hier draußen unweigerlich zum Ansehensverlust. Wer im Kreis vollwertiger Landbewohner mit einem Scherzartikel aus dem Baumarkt auftaucht, hat ohnehin verwachst. Das gilt auch für Spaltäxte, Schneeschaufeln und Hofbesen. Wir haben hier zwar keinen Psychotherapeuten am Ort, über den Zen des Hofkehrens kann man aber immer reden.
Im Club gilt durchaus eine Kleiderordnung. Die englischen Wachsjacken akademischer Innenstadt-Gärtner sind natürlich tabu. Eine signalfarbene Latzhose mit Schnittschutzausstattung sorgt aber nicht nur im dunklen Forst für Respekt. Zudem bewege man tunlichst keinen dieser schwarzen Gattinnen-SUVs mit Klimaanlage und integriertem Hundeverschlag, sondern idealerweise einen älteren Unimog mit Klappverdeck, Zapfwelle und grüner Nummer. Ersatzweise irgendeinen abgerockten Selbstzünder mit Anhängerkupplung. Neubürger bedenke, ohne Hängerkupplung wirst du hier ewig ein Fremder bleiben.
Aufsitzmäher gelten als Prothesen für Weicheier und Pensionäre, mit einem orangenen AS-Mäher (aus Oberrot/Württemberg) ist man dagegen selbst an sacksteilen Böschungen gut aufgestellt. Wobei die kulissenhafte Verlogenheit eines kurz gehaltenen Zierrasens hier rasch auffällt; der im Wochenrythmus gemähte Vorgarten hat ja was vom Fünftagebart der Zwangskreativen. Außerdem mag man hier keine Leute, die komplizierte Brillen tragen und lange Sätze sagen.

Mir gefällt’s hier, wo das Internet langsamer und die Sägen lauter werden. Einer meiner liebsten Nachbarn arbeitet im Erstberuf als Kardiologe; nach Feierabend praktiziert er leidenschaftlich mit einer hartmetallbestückten Picco-Duro-Kette von Stihl. Die ist gut dreimal so teuer wie eine Universalkette, hat aber eine fünfmal längere Standzeit. Stundenlang sägen ohne nachzuschärfen, das bedeutet Lebensqualität. Der Kardiologe verfügt zudem über einen hydraulischen Holzspalter, Hoch-Entaster, Freischneider, Mulchhäcksler und einen Raupenschlepper, in seine Praxis fährt er mit einer Enfield – eines der wenigen Diesel-Motorräder Deutschlands, sein nagelnder Kaltstart erreicht den Lärmpegel der nicht vorhandenen Kirchturmglocke (aber das wäre eine andere Geschichte).
Ein paar Wiesen weiter wohnt übrigens ein pensionierter Urologe, auch der sägt mit Leidenschaft. Dank seiner kontinuierlichen Starkholzernte hat Dr. med. seinen heimischen Ölverbrauch von jährlich 3.500 auf 500 Liter reduziert.
Neulich haben wir uns beim Landmaschinenhändler getroffen, korrekt gewandet in orange-grüne Schnittschutzhosen, beide noch mit allen zehn Fingern an den Händen, das schafft Vertrauen.
Wir waren schnell einig: wenn es noch einen Funken Gerechtigkeit in der Politik gäbe, müssten Motorsägen schon immer so heftig subventioniert werden wie Solarzellen. Privatwald ist schließlich eine naturwüchsige Solaranlage. Wir zersägen hier die Sonne und stapeln sie am Waldrand, abgerechnet wird in Festmetern.
Auf meinem Land gedeihen übrigens beachtliche Bärlauchbestände, nur interessiert das niemanden, weil Bärlauchschaumsüppchen, Brennnesselspätzle und Schlüsselblumensamtsüppchen unter autochthonen Wurstsalaltfreunden als Verirrung gelten. Auch der anderswo heiliggesprochene Rucola wird bei uns noch für ein Unkraut namens Rauke gehalten und eher gemieden. Dafür wächst der wilde, schmalblättrige und selten delikate Feldsalat wohlfeil zwischen den Rebzeilen. Und wer jemals das Glück erleben durfte, einen vollreifen Weinbergpfirsich direkt vom Baum weg zu verputzen, weiß, wie nah der kulinarische Himmel sein kann.

Die üblichen Carpacciovarianten sind hier eher in einer urwüchsigen Frühform bekannt, etwa als Ochsenmaulsalat, oder als hauchdünner Aufschnitt beim Schinkenspeck. Auch die Molekularküche kommt vor, aber mehr grundlagenorientiert. So lässt sich über die Textur eines Bauernbrotes am Stammtisch ebenso diskutieren wie über das Umrötverhalten von Hartwurst. Ebenso, Gelifaktion hin oder her, über die rechte Konsistenz eines Tellergallert. Das aussterbende Gericht, das mitunter besser schmeckt als es heißt, ist nördlich des Breisgaus auch als Sülze bekannt. Natürlich erreicht mediterraner Zierrat auch unsere Seitentäler, gerne kübelweise. Die Fruchtfolge beginnt in der Regel mit der Pionierpflanze Oleander, darauf folgt die Palme, derzeit wuchert der Ölbaum in Zone 30. Gehwege werden wie üblich mit lyonerroten Betonformsteinen gepflastert und toskanisch vermöbelt, die Gartenzwerge von heute tragen nun mal Pastellfarben. Doppelhaushälften ohne Milchschaumdüsen gelten baurechtlich ohnehin nicht mehr als genehmigungsfähig.
Etwas weiter unten im Tal, im badischen Mülheim, gibt es an der Bundesstraße 3 einen Premium-Kreisel, bepflanzt mit stattlichen Olivenbäumen. Die stehen stramm im Feinstaub und grüßen den Feierabend-Pendler auf dem Weg zum Baumarkt. Überregional bekannt wurde die mediterrane Installation wegen ihrer integrierten Fußbodenheizung. Der beheizte Toskanakreisel von Mühlheim hat das Zeug zur Sehenswürdigkeit, der Bund der Steuerzahler ist informiert und empört.
Auch in den verbliebenen Restgasthöfen wird tüchtig mediterranisiert und selbstredend nur marktfrisch gekocht. Unser Maggi heißt jetzt Balsamico. Gefühlte Spitzenküche legen mittlerweise selbst im tiefsten Kaiserstuhl Scheibchen von spanischer Hartwurst neben durchgebratenen Fisch und grinsen dazu. Danach wird ein Sorbet von deodoriertem Flugobst gereicht, während draußen reifes Obst am Baum vergammelt. Im aufgegebenem Bäckerladen residiert Mandy’s Nagelstudio.
Dafür gibt es in den wuchernden Aufbackstationen immer mehr Brotsimulationen mit Migrationshintergrund: Olivenciabatta, Pizzaweckle und solche Sachen. Die ordentlich gebackene Laugenbrezel ist auf dem Land schon längst ausgestorben. Für die Teigruhe bleibt einfach keine Zeit, denken Sie nur an die langen Wege! Ein paar Produktpiraten halten sich hier freilich auch. Im Hirschen in Britzingen gibt es einen Juniorwirt, der sich statt einer Drittgarage den Luxus von glücklichen Hausschweinen leistet und draus immer wieder sehr respektable Dinge macht. Die historische Ölmühle der Eberhards in Oberweiler produziert das passende Walnussöl zum wilden Feldsalat, beim Dorfmetzger unten in Lipburg lasse ich jeden Winter ein kapitales Stück Weiderind ganz langsam zu einer Art Markgräfler Bündnerfleisch heranreifen. Weiter oben und weit hinten im Kleinen Wiesental steht der Adler in Raich-Ried, bis heute eines der wenigen mozzarellafreien Gasthäuser im Land.

Gemüse wird hier selbstverständlich nicht al dente, sondern eher seniorenfreundlich zubereitet. Der duftende Braten vom großen Stück kommt dort aber standesgemäß aus einem alten, holzbeheizten Küchenofen. Gartenwirtschaft gibt es beim Adler eigentlich keine, aber manchmal stehen doch zwei, drei Tische unterm Apfelbaum vor dem Eingang, dazu streift der Blick über die wohlbestellten Bauerngärten ringsum. Die Idylle ist perfekt, wenn die Seniorchefin mit der Löwenkopfterrinne die Eingangstreppe runterkommt. Meist geht es dann nicht mehr lange und es grüßt eine Säge aus dem nahen Wald. Stihl oder Husqvarna?
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Vincent Klink über Wolfgang Abel

Wolfgang Abel ist ein wirklich sturer Hund vom Rande des Schwarzwalds. Er schreibt für südbadische Zeitungen, lebt in Badenweiler und nervt mit seinen Berichten die häufig vehement sich selbst lobende badische Gastronomie. Seine Texte führten schon zu Prozessen, die er als gründlicher Rechercheur und der Wahrheit verpflichtet immer gewann.
In seinem Oase Verlag (www.oaseverlag.de) erschienen die intelligentesten Reiseführer, die ich kenne. Wer in Süddeutschland, Ligurien, im französischen Jura, im Elsass, auf Lanzarote, in Portugal oder sonstwo ohne diese Bücher unterwegs ist, gehört wegen sträflicher Ignoranz verprügelt.
Ehrlich!
Wolfgang Abel auf KRAUTJUNKER hier: https://krautjunker.com/?s=Wolfgang+Abel
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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Porzellan und Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: Häuptling Eigener Herd, Heft Nr. 39, Juli 2009
Autor: Wolfgang Abel
Herausgeber: Wiglaf Droste und Vincent Klink
Verlag: © 2009 Edition Vincent Klink.de
Website: https://vincent-klink.de/
ISBN: 978-3-297350-37-3
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Die Veröffentlichung erfolgte mit freundlicher Genehmigung von Vincent Klink, Küchengott im Restaurant Wielandshöhe in Stuttgart. Ich empfehle den Besuch seines Gourmet-Tempels.

Auch beim Holz ein immer Schneller und immer Weiter? Immer größere Spielzeuge für immer kleinere Jungs? Gehobene Augenbrauen bei den Klassefrauen? Ja, so geht es manchmal, wenn es, wie man hier im Norden sagt, ins Wilde geht. Fünf Tonnen Technik in den Wald fahren, Boden verdichten, sich wichtig machen mit technischem Overkill. Es gibt inzwischen genügend Jagdkollegen, die allen Ernstes die .375 Holland & Holland als europäische Drückjagd Patrone sehen. Und auf der Autobahn kommt man ja geradeso zurecht mit Boliden, mit denen man vor Jahrzehnten die 24 Stunden von Le Mans gewonnen hätte. Einfach mal wieder Grönemeyers „Männer“ hören…
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