von Wolfgang Abel
Der Trick ist uralt: für ein schlechtes Gewissen sorgen, den Kunden zum Delinquenten machen, Erlösung versprechen. Funktioniert seit Jahrtausenden in allerlei Lebenslagen. Gleich ob Kolonial-, Klima- oder Körperschuld, gegen Buße und Zuzahlung gibt es ein moralisches Upgrade.
Die Bestseller der Ablassindustrie ändern sich laufend, beim Essen geht es aber schon länger um weniger Fett und mehr Erlösung. 1973 kam die Leichtmargarine Du Darfst auf den Markt, heute gibt es fast 100 Du darfst Produkte, außerdem Karma-Sandwiches, Innocent-Fruchtsäfte und so weiter. Im Groben und Ganzen werden die Sünden nicht mehr im Beichstuhl, sondern im Bioladen vergeben.
Das ideale Lebensmittel wurde rückstands- und gewaltfrei erschaffen, es fällt mit einem sanften Omm vom Baum, macht reine Haut und gutes Gewissen. Ob es besser schmeckt, als die gute, alte Oblate spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist das Erlösungsversprechen. Gleich ob regional, saisonal oder grenzdebil zertifiziert – alles wird gut.
Am meisten fürchtet die Moralindustrie den Sünder ohne Neigung zur Selbstkasteiung. Den Schweinsbraten- und Lardofresser mit seinem notorisch fröhlichen Gemüt, den Trinkgeldprasser, der selbst bestimmt, wo der Klingelbeutel hängt, den Raser, der die Tempo-30-Zonen des Geschmacks mit einem Kickdown hinter sich läßt, mitsamt den verklemmten Lachshäppchen, Proseccofesten und Wochenendlächeleien. Den Menüanarcho, der die stundenlange kulinarische Zwangsverköstigung durch ein paar klug gewählte Vorspeisen ersetzt.
Menüs nur tischweise, Hochamt nur Sonntags. Der moderne Ablaßhandel lebt ebenso von Vorschriften und Verboten, wie der Vormoderne. Und langsam wächst wirklich zusammen, was zusammengehört. Auch im schwarzgrün regierten Ländle, wo Konradsblatt und Greenpeace Magazin allerdings noch als getrennte Ausgaben erscheinen. Manchmal muß man alte Bücher lesen, um auf frische Gedanken zu kommen. Eine sinnenfrohe Ausatz-Sammlung, in der mehr Gescheites zur produktnahen Küche des Südwestens steht, als in vielen hirnschmalzreduzierten Neuerscheinungen der letzten Jahre, ist anno 1965 erschienen. Sein Autor heißt Franz Schneller (*). Ein 1889 geborener Freiburger, der ebenso unbeschwert schlemmen wie formulieren konnte. Schneller preist jenen „Magnetismus“, der eine Runde von Weinfreunden durchströmt mit derselben Hingabe wie
Biskuitherzen, die ins „vitaminreiche Blut von frischem Buttenmost“ getaucht sein wollen. Das Aroma des „markig orangen Fleisches“ seiner ersten Aprikose (gereift am Breisacher Münsterberg), das im Kindesalter tief in ihn eindrang, erinnert er noch nach Jahrzehnten. Außerdem schreibt Franz Schneller Sätze, die ins kleine Handbuch des kulinarischen Freigängers gehören: „Brot ist das erste, woran der Geschmack einer Zunge seine Prüfung besteht.“ Oder: „In einer Frühlingssuppe auf Gärtnerinnenart teilt sich alles mit, was die Frühgemüse uns zu sagen haben.“
Zertifiziertes Slow- und Moralfood gab es 1965 noch nicht. Immerhin wurden Schwarzwälder Forellen schon damals klimaneutral präsentiert; auf dem Freiburger Münsterplatz in handgeflochtenen Weidenkörben auf einem Kissen aus Brennesseln.
* Franz Schneller. Zu Tisch zwischen Schwarzwald und Vogesen. Küche nach Mundart. 120 Seiten. Karlsruhe 1965. Das Buch – eine Sammlung von knapp 30 Rundfunk- und Zeitschriftenbeiträgen – ist nur noch antiquarisch erhältlich (z.B. über: http://www.zvab.com); ebenso die etwas erweiterte und mit einem Vorwort versehene Neuausgabe, erschienen im Belchen Verlag unter geändertem Titel: Gourmet zwischen Schwarzwald und Vogesen. Freiburg 1998.
In diesem Zusammenhang sei auf einen weiteren kulinarischen Klassiker über die Region am Oberrhein verwiesen, verfasst von Franz Keller (1927 – 2007), dem Seniorwirt des Schwarzen Adler in Oberbergen: Alemannisch angerichtet – Zu Tisch mit Fridolin Schlemmer. Freiburg 1976 (ebenfalls nur antiquarisch).
***

Anmerkungen
Dies ist Wolfgang Abels Kolumne vom 31. Mai 2016.
Alle Kolumnen, Bücher und Touren von Wolfgang Abel sind auf der Website des OASE Verlags aus Badenweiler zu finden: http://www.oaseverlag.de/
Ich möchte dem charmanten Geschäftsführer des OASE Verlags, Herrn Wolfgang Abel höchstselbst, sehr herzlich für die Erteilung des Copyrights danken. Es empfiehlt sich nicht nur ein Blick in Abels Kolumnen, sondern auch in das Verlagsprogramm. Das Motto lautet vielversprechend „Vom guten Leben“.